Beim ersten Berliner Volkslauf-Marathon 1974 waren wir knapp 300 Läufer, die im Grunewald unter Ausschluss der Öffentlichkeit rumgelaufen sind. Damals wurde man ja noch für verrückt erklärt“, erinnert sich der heute 60-Jährige
DIE BLUE LINE EINES LEBENS – EIN LÄUFER AUS LEIDENSCHAFT: BERND HÜBNER IST DER EINZIGE LÄUFER, DER BISHER JEDEN EINZELNEN BERLIN-MARATHON GEFINISHED HAT. die AUTORIN MICHAELA ROSE von RUNNERS WORLD HAT SICH MIT „HÜBI“ AUF DIE BERLINER STRECKE BEGEBEN UND EINE ZEITREISE DURCH DIE GESCHICHTE DER STADT
Um eine einzige Linie zu überqueren, nimmt manch einer schon mal rund 42 Kilometer Anlauf. Dort soll des Marathonläufers endorphintrunkenes Glück den Höhepunkt erreichen. Mal ehrlich, ein ganz klein wenig meschugge muss man schon sein, eine solche Beschwerlichkeit dafür in Kauf zu nehmen. Oder zumindest von einer recht ausgeprägten Laufverrücktheit auf Trab gehalten werden. Wenn nach Tausenden von Laufschritten allerdings die Berliner Marathon-Ziellinie wartet, befällt des Langläufers Beine ob der monumentalen Aussicht wohl eine gewisse Leichtigkeit:
Sonnenbestrahlt steht das Brandenburger Tor unter blitzeblauem Himmel. Touristen bestaunen scharenweise das geschichtsträchtige Bauwerk, neugierig schaut manch einer zu dem durchtrainierten Mann im roten „Hübi“-Shirt herüber.
„Wenn man ‚Unter den Linden‘ entlang läuft und kilometerlang das Brandenburger Tor vor sich sieht, weiß man, man hat’s gleich geschafft“, beschreibt Bernd Hübner den unwiderstehlichen Sog dieser Marathon-Zielgeraden, die auf ihn einen ganz besonderen Reiz ausübt. Schließlich hat sie den Berliner zur laufenden Legende gemacht: Er ist der einzige Läufer der Welt, der bis dato bei jedem Berlin-Marathon den sehnsuchtsvoll herbeigesehnten Strich quer über den Asphalt überlaufen hat – auch wenn dieser im Laufe der 33-jährigen Marathon-Historie eine wahre Odyssee durch die Stadt hinter sich hat. Eine Geschichte, die auch Bernd Hübners Geschichte ist.
„Beim ersten Berliner Volkslauf-Marathon 1974 waren wir knapp 300 Läufer, die im Grunewald unter Ausschluss der Öffentlichkeit rumgelaufen sind. Damals wurde man ja noch für verrückt erklärt“, erinnert sich der heute 60-Jährige an den Beginn seiner ungeplanten Karriere. „Ein Ruderkumpel hatte die Ausschreibung zum Rudertraining mitgebracht. Die längste olympische Laufdisziplin – dieser Herausforderung mussten wir uns stellen.“
Mit einem Dreimal-die-Woche-Trainingspensum und neuen Leder-Laufschuhen ging’s an den allerersten Start in der Waldschulallee, Hausnummer 80. „Dort startete 1974 der Lauf und ich veranstalte heute noch jedes Jahr eine Woche vor dem Berlin-Marathon unseren Kultlauf über 17 Kilometer auf der alten Strecke. Da kann jeder mitrennen und Horst Milde, der Erfinder des Berlin-Marathons, schickt uns per Pistolenschuss auf die Reise.“
1974 erreichte Bernd Hübner die Ziellinie am Mommsenstadion nach 3:36 Stunden mit einer „fürchterlichen“ Blase. „Naja jut, dat haste eenmal jeschafft und machste nie wieder“, dachte er damals.
Durch die eigene Geburtsstadt
Doch Jahr für Jahr tauschten die ehemaligen Kumpels wieder Ruder gegen Joggingschuhe und standen an einem herbstlichen Sonntagmorgen an der Startlinie parat. Die war mal am Mommsenstadion, mal am Reichstag, wurde ans Charlottenburger Tor verlegt und befindet sich heute zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule. So trabten die Läufer und Läuferinnen alle paar Jahre über eine neue Strecke durch Berlin.
1981 ging’s zum ersten Mal durch die Westberliner Innenstadt – die Franzosen hatten’s im Frühjahr mit einem Stadtlauf vorgemacht und so konnte der Berliner Senat den Marathonern ihre erste laufende Sightseeing-Tour kaum vermasseln. „Es war großartig, durch die eigene Geburtsstadt zu rennen“, schwärmt Bernd Hübner noch heute – er hatte inzwischen längst die Drei-Stunden-Marke unterboten.“ Es durften keine Autos fahren und wir 3000 Teilnehmer hatten die Straßen für uns.“
Beim Warmlaufen vorm Reichstagsgebäude in Sichtweite zum Brandenburger Tor hatte Bernd Hübner einen Gedanken, der unmöglich innerhalb seines Sportlerlebens Realität werden könnte: „Einmal durchs Brandenburger Tor laufen – das wär’s.“ 1947 in Berlin geboren hatte er die aufregenden Wirren der Stadt und den beängstigenden Mauerbau 1961 miterlebt. Damals ahnte er noch nicht, dass dieser scheinbar utopische Läuferwunsch sehr schnell von der rasanten Geschichte der heutigen Hauptstadt eingeholt werden sollte.
Doch zunächst wechselte Bernd Hübner vom Leichtgewichtsrudern auf die läuferische Überholspur und erfüllte sich den vielfach gehegten Traum: „Einen Marathonlauf habe ich gewonnen in meinem Leben. 1983 bin ich in Spandau mit ‘ner 2:35:21 als Erster ins Ziel gekommen. Das war ein herrliches Gefühl, auch wenn null Zuschauer da waren.“ 1984 konnte er seine Bestzeit – wohl auch dank der johlenden Berliner am Streckenrand – auf 2:27,04 Stunden steigern, fünfmal meisterte er die Marathonstrecke unter 2:30 Stunden. „Ich bin ja kein Talent, sondern habe mir alles durch Fleiß erarbeitet und einfach Kilometer geschrubbt“, denkt er an seine Zeit als Leistungssportler zurück.
1986 sollte dann ein Höhentraining in Sankt Moritz den Bestzeiten-Turbo zünden: „Das ging vollkommen in die Hose, ich hatte Seitenstechen und musste sogar stehen bleiben auf der Strecke. Bin dann mit ‘ner 2:35 reingekommen und war zwei Wochen lang richtig enttäuscht.“
Trotzdem ließ er seine persönliche Serie nicht abreißen und stand jedes Mal wacker wieder am Start. Auch 1990, als die Wende ihm und 25000 anderen Läuferinnen und Läufern überraschend seinen Wunsch erfüllte: „Für einen Berliner, der hier geboren ist, war es ein bewegender Augenblick, das erste Mal durchs Brandenburger Tor zu laufen. Bislang war es unvorstellbar, plötzlich konnte man da einfach durchrennen. Viele haben sogar geweint.“
Vom bisher unbekannten Ostteil Berlins war Bernd Hübner allerdings ein wenig enttäuscht: „Da waren kaum Zuschauer, die hatten einfach andere Probleme nach der Wende. Inzwischen unterscheiden sich die Zuschauermassen im Ost- und Westteil der Stadt aber nicht mehr – da ist überall tolle Stimmung.“
In puncto Stimmung genießt der „wilde Eber“ in Dahlem einen besonderen Kultstatus in Läuferkreisen, denn dort wird quasi seit Jahren die Sau rausgelassen. Hunderte von Zuschauern, eine trommelnde Sambaband und tanzende Cheerleader machen das kleine Straßenrondell zum schmalen Hexenkessel, durch den jeder Läufer und jede Läuferin durch muss.
Den wilden Eber sieht beim Marathon allerdings niemand, denn die namensgebende Bronzestatue steht auch ohne Zuschauermassen kaum sichtbar bauchtief im Unkraut der Verkehrsinsel. Bernd Hübner erinnert sich an so manches Mal, wo er durch die Stimmung angetrieben gerne angezogen hätte, aber die Beine doch schon recht schwer waren: „In 33 Jahren Berlin-Marathon geht einem viel durch den Kopf unterwegs. Als ich noch auf Tempo gelaufen bin, waren die Zwischenzeiten wichtig und an welchen Punkten ich das Tempo verschärfe.
Heute verschärfe ich nicht mehr – heute ist für mich wichtig, dass ich in Steglitz meine Frau Monika mit meiner Cola erwische. Ein cooles Gesöff, das mir sofort Power zurückbringt.“ Auch wenn sich die Strecke im Laufe der 33 Jahre oft geändert hat – wertvolle Erinnerungen tauchen immer wieder an denselben Stellen auf: „Meine Eltern standen in den Achtzigern oft in Kreuzberg am Mehringdamm und ich sehe immer noch die Bilder, wie sie mir zuwinken.“
Heute braucht sich Bernd Hübner nicht mehr um die Anfeuerung vom Straßenrand zu sorgen – in der Laufszene kennt man den Mann, der weltweit als einziger sämtliche Berlin-Marathons mitgelaufen ist. Zudem hatte er zusammen mit dem Urvater des Berlin-Marathons, Horst Milde, eine pfiffige Idee und verpasste als Ressortleiter des Jubilee-Clubs allen Läufern, die den Berliner Marathon mindestens zehnmal gefinished haben, eine grüne Startnummer: „Da steht drauf, wie oft man teilgenommen hat und andere Läufer oder Jubilee-Mitglieder feuern einen dann unterwegs schon mal an oder nennen mich scherzhaft Chef.“
In Insiderkreisen nennt man diese verschworene Truppe mit mittlerweile rund 1800 Mitgliedern übrigens auch Hübilee-Club.
Es hat sich einfach ergeben
Dennoch bleibt der „Chef“ bescheiden: „Es war nie meine Planung, alle Läufe zu bestreiten, es hat sich einfach ergeben. Aber ich bin stolz darauf, dass ich es immer wieder geschafft habe, für den Berlin-Marathon fit zu sein – auch wenn ich vor zwei Jahren nicht wirklich fit war.“ Damals überstand Bernd Hübner im Frühjahr eine schwere Krebserkrankung mit zwei Operationen und holte sich kurz vor dem Marathontermin noch einen Meniskusriss. Gelaufen ist er trotzdem: „Das Laufen in der Phase der Krebserkrankung und meine Laufgruppen, die ich betreue, sowie die immerwährende Unterstützung durch meine Frau haben mir eine Menge gebracht. Ich bin nie depressiv gewesen und hab’s in 4:30 geschafft. Das war schon verrückt, mit ‘nem gerissenen Meniskus zu starten, aber für mich hat der Berlin-Marathon eben einen hohen Stellenwert.“
So rollten bei Bernd Hübner erst im Jahre 2005 die Tränen als er durchs Brandenburger Tor lief.
Letztendlich hat dieses schwierige Jahr für einen Einschnitt gesorgt, der den leidenschaftlichen Läufer ins Grübeln brachte: „Das Tempo ist für mich nicht mehr so wichtig – es geht ums Finishen. Natürlich bin ich auch älter und dadurch langsamer geworden. Aber die Erkrankung hat dafür gesorgt, dass ich alles ein bisschen lockerer sehe und mich im Training nicht mehr bis zum Letzten verausgabe.“ Sein Ziel für den diesjährigen 34. Berlin-Marathon: unter vier Stunden. Schließlich möchte er heute das Laufen und die Stadt genießen, den Zuschauern zuwinken und in Kreuzberg türkische Kinderhände abklatschen.
Seine Sammel-Leidenschaft von Läufen beschert Bernd Hübner beim Berlin-Marathon 2007 noch ein weiteres Jubiläum: „Mit sechzig Jahren wollte ich den 100. Marathon machen. Da habe ich schon seit zehn Jahren draufhin gearbeitet und jetzt geht die Rechnung auf. Ich plane von Jahr zu Jahr, aber verliere mein Ziel nie aus den Augen. Wenn’s gesundheitlich klappt, möchte ich den Berlin-Marathon 50mal laufen – das wäre im Jahr 2023.“
Für Bernd Hübner ist der Berlin-Marathon die Olympiade des kleinen Mannes, der er im letzten Jahr sogar eine autobiografische „Liebeserklärung“ in Buchform gewidmet hat: „Nach dem Marathon ist vor dem Marathon – für mich ist das jedes Jahr das Highlight. Aber selbst wenn der Boom mal vorbei gehen sollte, würde ich auch gerne wieder im Grunewald laufen. Es ist nicht entscheidend, dass 40000 mitlaufen. Mir würde es auch Spaß machen, wenn wir nur hundert wären. Für mich ist der Berlin-Marathon die Blue Line meines Lebens – seit 33 Jahren.“
Da sage noch mal einer, die Ziellinie am Ende wäre des Läufers wahres Glück.
Michaela Rose
RUNNERS WORLD
Oktober 2007