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10
2014

Deutscher Sport-Nachwuchs - Jugend gesiebt für Olympia - Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©Jugend trainiert für Olympia

Deutscher Sport-Nachwuchs – Jugend gesiebt für Olympia – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Jahrzehnte lang genoss „Jugend trainiert für Olympia“ den Ruf, auch Quelle der Sieger von morgen zu sein. Nun behaupten Kritiker, das von Bund und Ländern finanzierte Modell sei längst überholt.

Der Existenzkampf von „Jugend trainiert für Olympia“ spiegelt sich nur noch im Detail. Die grellen Regenjacken, die jeder Teilnehmer beim Bundesfinale in Berlin Jahr für Jahr erhielt und die in Frühjahr und Herbst das Stadtbild belebten, sind eingespart.

Generationen von Schülerinnen und Schülern trugen sie oft jahrelang. Denn über die große Flugreise ins einst so ferne Berlin hinaus stand bei der Heimkehr die Jacke für den einen großen Erfolg mit der Schulmannschaft: Sie zeigte, selbst wenn sie zerknittert und das Logo von „Jugend trainiert“ abgewetzt war, wer es seit 1969 bis nach ganz oben geschafft hatte, ins Finale, zur einst westdeutschen Pennäler-Ausgabe von Olympia. Ein Schülertraum.

Regenjacken aus der Mode

„Ich habe eine tolle Regenjacke von der U-18-Weltmeisterschaft in Donezk“, sagt der Hüne Ben Thiele. Siebzehn Jahre alt ist der junge Mann, Zehnkämpfer, man möchte sagen: von Beruf, denn er ist Mitglied des SC Neubrandenburg, Zweiter der deutschen U-18-Meisterschaft, Neunter besagter WM und, wenn er sich weiter gut entwickelt, Kandidat für die Olympischen Spiele 2020 oder 2024. Ein Statussymbol wie einst die Regenjacke von „Jugend trainiert“? Das braucht er nicht.

Thiele war in der vergangenen Woche im Schulsport im Einsatz. Er konnte nicht verhindern, dass sein Sportgymnasium Neubrandenburg, noch im vergangenen Jahr Sieger aller vier Finalkämpfe der Leichtathletik, diesmal der Sportschule Potsdam unterlag. Denn diese gewann bei den Jungen, Altersklasse II (16 – 18), einen Weltklasse-Wettbewerb. Auf einer Wiese unter den Platanen des Jahn-Sportparks haute Clemens Prüfer im Kugelstoßen 19,93 Meter raus. Damit übertraf er Marten Höwe aus Neubrandenburg um mehr als einen Meter.

Auch diese beiden brauchen keine Regenjacke als Ausweis ihrer Klasse. Prüfer hat bei den Olympischen Jugendspielen in Nanjing vor ein paar Wochen die Silbermedaille im Diskuswerfen gewonnen; Kugelstoßer Höwe, Bestleistung 20,32 Meter, gewann in seiner Disziplin Bronze und obendrein die Goldmedaille in einer international gemischten Pendelstaffel. Beide gelten als potentielle Nachfolger von großen Leichtathleten, von Weltmeister David Storl und Olympiasieger Robert Harting.

Quelle deutschen Glanzes?

„Das ist jedes Jahr eine schöne Veranstaltung“, sagt Prüfer routiniert wie ein Politiker auf Anstandsbesuch. Er ist mit Team und Freundin in der S-Bahn zum Wettkampf gekommen und rumpelt am Abend im Berufsverkehr zurück. „Es macht Spaß“, behauptet er über seinen sonnigen Tag in Prenzlauer Berg, „aber eigentlich kommt der Wettkampf zu spät. Die Saison ist zu Ende.“

Thiele, Höwe und Prüfer sind also nicht die personifizierten Beweise für die These des Berliner Staatssekretärs Andreas Statzkowsky, der im Schulwettbewerb die Quelle deutschen Glanzes sieht, eine Investition in die Zukunft des Spitzensports: Denn „Jugend trainiert“, sagt Statzkowsky, sei notwendig zur Entfaltung jener Talente, die bei den Olympischen Spielen in zehn oder vierzehn Jahren Medaillen für Deutschland gewinnen könnten, vielleicht sogar schon im nächsten Jahrzehnt in Berlin oder Hamburg.

Im Sommer und in den Sommerferien haben Thiele, Höwe und Prüfer und alle anderen Kader-Athleten durchtrainiert, um für ihre Meisterschaften der Besten fit zu sein – und nun mussten sie, statt wenigstens zu Beginn des neuen Schuljahres eine Trainingspause einzulegen, ein, zwei Wochen dranhängen für den Wettkampf unter Schulkameraden im Berliner Jahnstadion. „Die Wettbewerbe des Verbandes und ,Jugend trainiert‘ laufen nicht synchron“, sagt der siebzehnjährige Prüfer.

 „Es hat sich überlebt“

Viele Fachleute teilen seinen Eindruck. „,Jugend trainiert‘ hat sich überlebt“, sagt ein Veteran, „so wie sich die Spartakiade überlebt hatte.“ Er war schon dabei, als 1966 der Wettbewerb zur Talentsuche des DDR-Sports im Jahn-Stadion und im längst eingeebneten Walter-Ulbricht-Stadion Premiere feierte. So wie man im Osten bald keine Entdeckungen mehr machte bei der Spartakiade, weil die Trainer viel früher zugriffen, sei auch der Pool des drei Jahre jüngeren Mannschaftswettbewerbes aus dem Westen überfischt. „Die hier sind schon alle dreimal durchgesiebt“, sagt der Lehrer und Trainer. „Die Talentiertesten sind beim Fußball.“

Nicht nur als nutzlos, gar als gefährlich betrachtet sein Kollege den Wettbewerb. „Wir riskieren Verletzungen unserer Mädchen und Jungen“, warnt er, „und indem wir ihnen die Erholung rauben, verheizen wir sie auch noch.“ Die Mädchen und Jungen vom Schul- und Leistungssportzentrum Berlin, das durch die Fusion zweier Eliteschulen des Sports entstanden ist, gewannen am Montag die beiden U-16-Wettbewerbe der Leichtathletik – und waren bedient.

In strömendem Regen bekamen sie husch, husch ihre Medaillen – Regenjacken wären angebracht gewesen -, und tags drauf, als alle anderen die Sehenswürdigkeiten der Stadt abklapperten, saßen sie wieder im Unterricht.

Nutzlos für Talentspäher

Was für die Schüler aus allen anderen Teilen der Republik eine Belohnung ist -, „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ – dürfte den Berlinern wie eine Strafe erscheinen. Nutzlos für Talentspäher, lästig, unerfreulich für die Spitzensportszene: „Warum laufen uns wohl so viele Talente weg?“, fragt ein Lehrer bitter. Sportler, für die Sommerspiele erreichbar sind, spüren, dass sie in Wirklichkeit nichts verloren haben bei „Jugend trainiert für Olympia“.

Die Deutsche Schulsportstiftung, Träger des Wettbewerbes, der Jahr für Jahr 800 000 Mädchen und Jungen auf die Beine bringt, steht vor einer Strukturreform. Sie sollte mit einer inhaltlichen Modernisierung einhergehen. Im Turnen und Schwimmen sind die Teilnehmerzahlen so stark zurückgegangen, dass erwogen wird, diese olympischen Kernsportarten aus dem Kanon der inzwischen 17 Sportarten beim Bundesfinale zu streichen.

Bei „Jugend trainiert“ ist der Herzschlag des Sports in Deutschland zu spüren und manchmal auch das Nachlassen des Pulses. Als Schrittmacher versteht sich die von Behörden und Verbänden dominierte Stiftung nicht. Dabei könnte sich „Jugend trainiert“ bei der Verlagerung des Kinder- und Jugendsports von den Vereinen in die Ganztagsschulen mühelos an die Spitze des Wandels setzen.
Eliteschulen ausschließen?

Doch da ist immer noch das Dogma Talentsuche. Thomas Poller, Schulsportreferent des Landes Berlin und Vorstandsmitglied der Schulsportstiftung, schlägt vor, Eliteschulen von der regionalen Ebene des Wettbewerbs auszuschließen. Nach seiner Vorstellung sollten deren Musterschüler wie Thiele, Prüfer und Höwe sich auch gar kein Bundesfinale zumuten müssen, sondern an ihrer Stelle Elf- und Zwölfjährige, in Berlin antreten.

Poller wird praktisch bestätigt vom Deutschen Fußball-Bund. Dieser hat, zusätzlich zu den Finalspielen der Älteren in Berlin, ein Bundesfinale für die jeweils 16 Landessieger der Mädchen und Jungen der Altersklasse IV (11-12 Jahre)geschaffen. Seit vier Jahren findet es als „DFB Schul-Cup“ in Bad Blankenburg im Thüringer Wald statt. „Einen Dank an die Nationalmannschaft“ richtete der Verantwortliche, Wolfgang Staab, beim Turnier am vergangenen Wochenende aus, „dafür, dass sie das Geld einspielt, das wir für den Nachwuchs ausgeben dürfen“.

Für Alfons Hörmann, den Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), ist „Jugend trainiert“ ein Beispiel für die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Spitzensport und Nachwuchsförderung. Bundesinnenminister Thomas de Maizière und der Sportausschuss wurden erst von der letzten Instanz, dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, daran gehindert, dem Wettbewerb 700 000 Euro Zuschuss zu streichen, ein Drittel der Kosten für die Bundesfinals von 7500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Berlin und ein Bruchteil des Aufwandes von 12 bis 14 Millionen Euro, den sich die Länder die Mobilmachung der Schulmannschaften pro Jahr kosten lassen.
Empörung und Nostalgie

In einer Aufwallung von Empörung und Nostalgie schienen sich Öffentlichkeit und Entscheidungsträger deutlich zu machen, welche Bedeutung „Jugend trainiert“ für die Sportlandschaft Deutschlands hat. Dahinter musste der berechtigte Ärger über das mangelnde Engagement der Länder bei der Dopingbekämpfung zurückstehen; diese Weigerung war der Grund für die Streichung. Hörmann sagte nun bei seinem Besuch in Berlin, „Jugend trainiert für Olympia“ dürfe nicht auf dem Altar der politischen Auseinandersetzung geopfert werden.

Vielmehr solle der Wettbewerb weiterhin seinen Beitrag zu Breitensport und Sportentwicklung leisten: „Die Freude am sportlichen Wettkampf ist ein Wert an sich.“ Andererseits solle der Weg der Schüler aus der Provinz in die Hauptstadt einen echten leistungssportlichen Teil behalten.

Ehrgeizige Diaspora

Die Leichtathleten von der Oberschule zum Dom in Lübeck überspringen diesen Widerspruch zwischen olympischem Ehrgeiz und olympischem Geist im Sinne von „Dabei sein ist alles“ mühelos. Mit gleich drei Mannschaften wurden sie Landessieger, zwei Teams traten in Berlin an. Mit dem Wort „Wir kommen aus der Diaspora“ beschreibt Deutsch- und Mathelehrer Dirk Schulz den Umstand, dass Schleswig-Holstein als einziges Flächenland Deutschlands keine Eliteschule für Sport unterhält.

Platz acht bei den Mädchen und Rang elf bei den Jungen verdankten die Lübecker auch dem Einsatz von Fußballspielern und der fünfzehn Jahre alten Siebenkämpferin Mareike Rösing, der Zweiten der deutschen Meisterschaft ihrer Altersklasse im Hochsprung. Sie übersprang in Berlin 1,73 Meter – Bestleistung am Ende einer viel zu langen Saison.

Die Schmerzen ihrer Verletzungen wog das Erlebnis Mannschaftswettbewerb auf, das kann ihr der Verein nicht bieten. „Wir wollten nach Berlin“, sagt sie, „und das haben wir geschafft.“

Teil der Schulkultur

Im aussichtslosen Vergleich mit den Eliteschulen sehen sie und ihr Trainer keinen Nachteil, im Gegenteil. „Wir haben unsere eigenen Maßstäbe, schließlich sind wir Leichtathleten“, sagt Schulz. Jeder hat seine Leistungsgrenze ausgelotet, das mache den Vergleich mit den Besten gut und wertvoll. Die Altersklasse II durch Fünft-, Sechst- und Siebtklässler zu ersetzen, um vielleicht unentdeckte Talente zu finden, hielte Schulz für falsch. „Die Folge wäre, dass die Eliteschulen sich auf die Zwölfjährigen stürzen.“

Ihm ist es, wie so vielen seiner Kollegen, am Sport als Teil der Kultur ihrer Schulen gelegen: „Wir haben die pädagogische Aufgabe, zu zeigen, dass es sich lohnt, etwas zu leisten.“ Das muss nicht Medaillen abwerfen.

Aber ein paar Regenjacken könnten es schon sein.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 29. September 2014

Themengleich:

„Jugend trainiert“: Das Bundesfinale startet am 21. September 2014 in Berlin

author: GRR

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