Deutsche Meisterschaft am Wochenende, Europameisterschaft in gut einer Woche. Auch danach ist der Terminplan der deutschen Leichtathleten voll. Der Verband sorgt sich um die Zukunft - und will seinen Sportlern den Druck nehmen.
Deutsche Leichtathletik – Sabbatjahr statt Normenjagd – Von Michael Reinsch, Braunschweig, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
„Wer hier in Form ist, wird das auch in der übernächsten Woche sein“, sagt Günther Lohre. Gut eine Woche nach der deutschen Meisterschaft beginnt in Barcelona die Europameisterschaft, und die Aussichten für das Team des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) sind gut.
Diskus-Weltmeister Robert Harting kommt in Form, wie seine 68,67 Meter zeigen, und Nadine Müller, die Erste der Diskus-Weltrangliste, bewies in Braunschweig, dass sie sich innerhalb einer Stunde um fünf Meter, nämlich von 58 auf die Siegesweite von 63,07 Metern, steigern kann. Warum sollte sie in Barcelona nicht, wie sie verspricht, noch ein oder zwei Meter weiter werfen? Kugelstoß-Europameister Ralf Bartels blieb mit 20,54 Metern neun Zentimeter vor seinem jungen Herausforderer David Storl.
Sabrina Mockenhaupt, der einsamen Siegerin über 5000 Meter (15:36,17 Minuten), bestätigt Bundestrainer Rüdiger Harksen, in der Form ihres Lebens zu sein. Seinen Sprint-Meisterinnen Verena Sailer (11,23 Sekunden) und Carolin Nytra (12,71 über die Hürden) sowie allen Staffeln räumt er Medaillenchancen ein. Das ist keine Selbstverständlichkeit in dem Verband, der im weltweiten Vergleich eher auf seine Abteilungen Wurf, Stoß und Sprung setzen muss.
„Es ist offensichtlich, dass das Mist ist“
Doch Lohre, der im DLV die Nachfolge von Eike Emrich als Vizepräsident für Leistungssport angetreten hat, sorgt sich um die kommenden Jahre, in denen der Höhepunkt der Saison – 2011 die Weltmeisterschaft von Daegu und 2012 die Olympischen Spiele – nicht so dicht auf die deutschen Titelkämpfe folgt wie Barcelona. Vielmehr: Er sorgt sich um die Athleten, die ihre Leistungsentwicklung auf mindestens zwei Saisonhöhepunkte ausrichten müssen.
„Bei der WM in Berlin ist es nicht allen unseren Teilnehmern gelungen, ihre Jahresbestleistungen zu bringen“, sagt er. „Wenn wir eine saubere Leichtathletik haben wollen, müssen wir das Potential der Periodisierung nutzen.“ Um seinen Besten den Leistungsaufbau in Ruhe zu erlauben, will der DLV von ihnen nur einmal die Qualifikationsnorm verlangen, statt sie, wie Lohre sagte, in eine Normenjagd und in zu viele Wettkämpfe zu treiben.
Außerdem will er ihnen die Gelegenheit einräumen, in der Hallensaison zu pausieren, statt sie ständig an die Spitze zu treiben. Für den Status quo findet er deutliche Worte: „Es ist offensichtlich, dass das Mist ist.“ Marion Wagner, mit ihren 32 Jahren und 11,50 Sekunden im Sprint Vierte, kann die Überlegung nachvollziehen. „Wir haben oft erlebt, dass Leute sich auf die deutsche Meisterschaft vorbereiten und ihre Leistungskurve bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen nach unten ging. Wenn den Athleten Sicherheit gegeben und ein gewisser Druck genommen wird, ist das nur gut.“
„Ich laufe den Normen nicht hinterher“
Schon in der vergangenen Woche hatte Chefbundestrainer Herbert Czingon – zuständig für die technischen Disziplinen – beklagt, dass der Stress durch die internationalen Höhepunkte von Osaka 2007, Peking 2008 und Berlin 2009 in diesem Jahr seinen Tribut fordere, etwa von Weitspringer Sebastian Bayer und Hochspringer Raul Spank. Im Internetportal „leichtathletik.de“ warnte er vor Verschleiß und Defiziten in der Ausbildung und empfahl strategische Planung über olympische Zyklen und darüber hinaus. Athleten sollten auch mal ein Sabbatjahr nehmen können. So viel Rücksicht soll nicht missverstanden werden. „Das ist keine Schonhaltung“, sagte Lohre.
„Freut mich für die anderen. Ich laufe den Normen nicht hinterher“, sagt kühl Nadine Kleinert, die mit 19,12 Metern das Kugelstoßen gewann. Sie fühlt sich nicht angesprochen. „Ich will bei Großereignissen mitmischen und nicht mit Ach und Krach die Norm schaffen.“
„Einerseits auskurieren, anderseits Norm“
Stabhochspringer Alex Straub ist ein Beispiel für einen Athleten, der Schonung braucht. „Durch meine Achillessehnenprobleme bewege ich mich auf einem schmalen Grat“, sagte er. „Einerseits muss ich sie auskurieren, anderseits wollte ich die Norm erfüllen.“ Das ging nicht gut. Mit 5,30 Metern wurde er Achter. Meister Malte Mohr versuchte sich nach seinem Sieg mit 5,75 Metern dreimal an 5,90 Metern. „Die Norm von 5,70 Metern war eigentlich kein Thema in dieser Saison“, sagte der Zweite der Hallen-WM von Doha und Diamond-League-Sieger von Schanghai. „Ich habe einen ganz normalen Saisonaufbau gemacht mit dem Höhepunkt Barcelona.“
Im Stabhochsprung mit seiner großen Leistungsdichte wird die Nominierung immer umkämpft sein, ob früh oder spät. In der Saison 2012 wird der ehemalige Stabhochspringer Günther Lohre womöglich mehr Plätze in der Nationalmannschaft anbieten können als üblich. Es gebe die Überlegung, verriet er, zwei unterschiedliche Teams für die EM in Helsinki und für die Olympischen Spiele von London vier Wochen später aufzustellen. Auch das könnte die Motivation der Athleten fördern: die Qualifikation fürs B-Team zu vermeiden.
Michael Reinsch, Braunschweig, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 19. Juli 2010