Sebastian Bayer: „Ich trainiere nicht für 2011, sondern für die Olympischen Spiele 2012."
Deutsche Leichtathletik – Kein Recht auf Gegenwart – Michael Reinsch, Paris in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Zehn Medaillen, aber noch nichts gewonnen: Die deutschen Leichtathleten tragen bei der Hallen-EM ihre Zukunft wie eine Hypothek mit sich. Nur die WM im August zählt 2011 wirklich. Und selbst die ist nur Durchgangsstation für Olympia 2012.
Zehn Medaillen und drei Titel, aber noch ist nichts gewonnen. So muss man die Stimmung in der deutschen Nationalmannschaft bei den Hallen-Europameisterschaften der Leichtathleten in Paris interpretieren. Am Sonntag trugen die Stabhochspringerinnen Silke Spiegelburg (4,75 Meter) und Kristina Gadschiew (4,65) zu der dennoch überaus zufriedenstellenden Bilanz eine Silber- und eine Bronzemedaille bei.
„Mal sehen, was im Sommer passiert", sagte David Storl, nachdem er zum Doppelerfolg im Kugelstoßen hinter Ralf Bartels die Silbermedaille beigetragen hatte. Die Weltmeisterschaften in Daegu Ende August sind die Leistungsprüfung, die wirklich zählt in diesem Jahr. Weitspringer Sebastian Bayer, der seinen Titel von Turin 2009 verteidigte, greift sogar noch weiter. „Das hier ist für mich die Durchgangsstation für London", sagte er nach seinem Sieg mit 8,16 Meter. „Ich trainiere nicht für 2011, sondern für die Olympischen Spiele 2012."
„In Daegu werde ich es besser machen"
Und auch der 38 Jahre alte Stabhochspringer Tim Lobinger, der es zwar ins Finale der besten acht geschafft hatte, dort aber mit 5,41 Meter Achter wurde, verriet brennenden Ehrgeiz. „Um's Dabeisein geht es nicht", schimpfte er nach dem Wettkampf, den der Franzose Renaud Lavillenie mit 6,03 Meter vor seinem Landsmann Jerome Clavier mit 5,76 Meter vor Malte Mohr (5,71) gewann. „In Daegu werde ich es besser machen." So viel zu dem im deutschen Verband früher gern beschworenen Recht auf Gegenwart. Auch in Paris trugen die Leichtathleten ihre Zukunft wie eine Hypothek mit sich.
Bayer zog beim Titelgewinn mit seiner Lebensgefährtin Carolin Nytra gleich. So viele Hundertstelsekunden sie im Hürdensprint unter acht Sekunden blieb, hatten die beiden gewettet, wollte er in Zentimeter auf die acht Meter drauflegen. Doch ihre Vorgabe von 7,80 Sekunden konnte er bei seinem Erfolg nicht erreichen. Bayers weiteste Sprünge, weit jenseits von 8,20 Meter, waren ungültig. „Wir rätseln", scherzte Chef-Bundestrainer Herbert Czingon, „welche Goldmedaille im Haushalt Nytra/Bayer höher gehängt wird."
„Kompetenz und Siegeswillen"
Das Paar hat sich Ende vergangenen Jahres in Mannheim eingerichtet, damit es mit dem profiliertesten deutschen Trainer im Hürdensprint, Rüdiger Harksen, zusammenarbeiten kann. Harksen habe sich neuerdings sogar in die Grundzüge des Weitsprungs eingearbeitet und erhalte von Bayers langjährigem Trainer Joachim Schwarzmüller die Trainingspläne.
Wichtig seien ihm außerdem, erzählte Bayer, der Rat von Valerij Bauer, der in Mannheim Sprint-Europameisterin Verena Sailer trainiert, sowie der Austausch mit Bundestrainer Uwe Florczak in Hamburg. Die Kooperation mit vier Trainern führte zum Erfolg.
„Die 60 Meter sind nur eine Momentaufnahme, entscheidend ist der Sommer", sagte Harksen. „Die Disziplin heißt hundert Meter Hürden. Caros Ziel ist, bei der WM in Daegu noch dichter an die Weltspitze heranzukommen. Und dann kommt schon Olympia. Das werden wir jetzt konzentriert angehen."
Mit einem Leoparden über die Hürden
Was für ein Paar: „Kompetenz und Siegeswillen" – das lobte Gonschinska an Nytra, während Czingon von der Fähigkeit Bayers schwärmte, aus der Schonung seines verletzungsanfälligen linken Fußes eine Tugend, nämlich eine überlegene Ruhe zu machen. Nytra verriet, was sie mit dem Psychologen Hans Eberspächer erarbeitet hat, um nicht, wie noch bei der EM in Barcelona, mit Angst ins Finale zu gehen. In Gedanken nimmt sie einen Leoparden mit über die Hürden: „Ich habe mir vorgestellt, dass ich mit ihm rennen und spielen will. Das hat funktioniert: Als der Schuss kam, ist alles, was links und rechts von meiner Bahn war, weggeklappt."
Die Perspektive London 2012 macht für das deutsche Team womöglich die Silbermedaillen wichtiger als die Titel. Denn die zweiten Plätze sind mehr noch als die ersten Ansporn; für den 20 Jahre alten Chemnitzer Storl, der zu einem Medaillenkandidaten für Olympia heranwächst; für Christina Schwanitz und Josephine Terlecki , die mit Platz zwei und drei die Lücke füllten, die sich durch den Abschied von Petra Lammert sowie die Pause von Nadine Kleinert und Denise Hinrichs aufgetan hat; und für Thomas Schneider, der über 400 Meter praktisch von der Landesmeisterschaft Brandenburg direkt bis aufs EM-Podest rannte. Mit 46,42 Sekunden blieb er dem Franzosen Leslie Djohne (45,54) am dichtesten auf den Fersen.
Chefbundestrainer Idriss Gonschinska lobte den 22-jährigen als den Stärksten in Europa auf den letzten 100 Metern – der geborene Schlussläufer für die Staffel. Doch der Potsdamer wollte darüber gar nicht nachdenken. „Es ist schwierig", sagte er, „über die Staffel zu sprechen nach einem so genialen Rennen."
Er genoss lieber die Gegenwart.
Michael Reinsch, Paris in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 7. März 2011