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26
07
2010

„Die Aufeinanderfolge von WM 2007, Olympia 2008 und WM 2009 haben die Athleten stark gefordert“, sagt Czingon.

Deutsche Athleten ziehen Sabbatjahr der EM vor – Bei den Europameisterschaften geht es für die deutsche Leichtathletik auch um die Frage, wie sie sich dauerhaft präsentieren soll. Frank Bachner im Tagesspiegel

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Berlin – Sie hat trainiert, sie ist auch bei kleineren Wettkämpfen gestartet, aber die Leichtathletik-Europameisterschaften in Barcelona, die sind kein Thema. Das hat Lilli Schwarzkopf dem Chef-Bundestrainer schon vor einer Weile am Telefon mitgeteilt. „Ich brauche Ruhe, mein Körper braucht Ruhe, ich möchte 2010 kürzer treten“, sagte die Siebenkämpferin zu Herbert Czingon.

Das war im September 2009. Die EM wird heute eröffnet, der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) ist mit 74 Athleten angereist, Lilli Schwarzkopf, EM-Dritte von 2006, ist nicht dabei. „Wenn man im Training immer an und im Wettkampf sogar über die Grenzen geht, braucht der Körper eine Pause“, sagt sie. Das Sportwissenschafts-Studium ist jetzt wichtiger.

Anders sieht es bei Sabrina Mockenhaupt aus. Bei der Team-EM im Juni in Bergen, Norwegen, kam keine ihrer Rivalinnen an ihr vorbei, die Kölnerin gewann über 5000 Meter. „Sie fühlt sich in der Form ihres Lebens“, sagt Rüdiger Harksen, neben Czingon der zweite Chef-Bundestrainer. „Sie will unbedingt in Barcelona starten. Weil sie dort große Chancen sieht, eine Medaille zu gewinnen.“ Mockenhaupt läuft in Barcelona wohl nur über 10 000 Meter, mit Chancen auf Edelmetall. Bei einer WM dagegen würde sie im Feld verschwinden.

Schwarzkopf und Mockenhaupt, sie stehen für die ganze Bandbreite des Dilemmas von Harksen und Czingon. Es geht um die Frage: Wie präsentiert sich die deutsche Leichtathletik dauerhaft am besten? Gönnt man Athleten eine Pause in einem EM-Jahr? Nach Olympischen Spielen, nach zwei Weltmeisterschaften? Oder denkt man an Sponsoren, an TV-Verträge, an eine gute Medaillenbilanz? Bei keinem anderen internationalen Höhepunkt ist es für Deutsche so leicht, viele Medaillen zu gewinnen, wie bei Europameisterschaften.

Es gibt keine klaren Antworten auf die ganzen Fragen. Jeder hat irgendwie Recht. Auf dem Papier gelten EM-Jahre als eine Art Zwischenjahre. Man nimmt sie nicht so ernst wie WM- oder Olympiajahre. Aber in der Praxis ist alles komplizierter. „Im Kugelstoßen ist eine Europameisterschaft wie eine Weltmeisterschaft, nur ohne Amerikaner“, sagt Ralf Bartels, der in Barcelona als Titelverteidiger am Start ist. „Ich brauche diese besondere Wettkampfatmosphäre. Wenn ich mal ein Jahr nur so quasi zum Spaß stoße, komme ich aus dem Rhythmus.“

Zehn Medaillen haben die Deutschen bei der EM 2006 gewonnen, unter die besten drei Nationen wollen Harksen und Czingon auch dieses Jahr kommen. Auf eine genaue Medaillenzahl will sich keiner festlegen. Aber wer sie holen kann, die Medaillen, das ist leicht aufzuzählen. Bartels, Robert Harting (Diskus), Ariane Friedrich (Hochsprung), Nadine Müller (Diskus), Carolin Nytra (Hürdensprint) und Christian Reif (Weitsprung) gehören zum Beispiel dazu.

Sie müssen ein Plansoll erfüllen, anders geht es nicht. „Unsere Sponsoren wären sicher nicht begeistert, wenn wir 2010 als Zwischenjahr verkaufen würden“, sagt Harksen. Vor den TV-Anstalten ganz zu schweigen. Gerade nach der glanzvollen WM in Berlin muss der DLV die Gunst der Stunde nutzen und die eigene Sportart gut präsentieren. Und der Kampf um TV-Präsenz ist hart.

Aber Fernsehen und Sponsoren wären noch viel weniger begeistert, wenn bei der WM 2011 und bei Olympia 2012 ausgelaugte Athleten anträten oder verletzte überhaupt nicht starten könnten. Vor diesem Problem stehen Czingon und Harksen. Kein einziger deutscher Zehnkämpfer startet in Barcelona, alle sind verletzt. Hochspringer Raul Spank, WM-Dritter von 2009: wegen Verletzung EM-Norm nicht erfüllt. Weitspringer Sebastian Bayer, Hallen-Europarekordler: nach langer Verletzung EM-Norm nicht geschafft. Ein kleiner Ausschnitt der Ausfälle.

„Die Aufeinanderfolge von WM 2007, Olympia 2008 und WM 2009 haben die Athleten stark gefordert“, sagt Czingon. „Es gibt mehr Probleme, Verletzungen auszukurieren, als wir erwartet hatten.“ Spank fällt ihm spontan als Beispiel ein. Deshalb hat er auch Verständnis für Schwarzkopf. Wegen einer Schleimbeutelentzündung hatte die Siebenkämpferin bei der WM 2009 nach drei Disziplinen aufgegeben. „Wir dürfen nicht jeden Höhepunkt mit aller Macht ansteuern wollen“, sagt Czingon. „Es muss Sabbatjahre geben, in denen man etwas zurückschraubt.“ Nur zu viele sollten dies nicht tun, sonst bekommt er Probleme.

Ältere Athleten, die enorm beansprucht sind, könnten zum Beispiel bei der Hallensaison zurückschrauben. Das ist eine der Überlegungen von Czingon. „Der Verschleiß, den wir produzieren, und die Defizite im Studium und Beruf werden irgendwann so groß, dass der Athlet sich diesen Freiraum zwangsweise nehmen muss“, sagt er auch.

Sebastian Bayer fliegt auf jeden Fall nach Barcelona, auch ohne Norm. Für Samstag ist ein Ticket gebucht. Da steigt das Finale der Hürdensprinterinnen. Carolin Nytra soll da eine Medaille holen.

Bayers Freundin.

Frank Bachner im Tagesspiegel, Montag, dem 26. Juli 2010

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