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09
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2024

Photo: Pat Butcher

Der Wechsel ist fast alles – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Paris 2024 – NACHSCHLAG

By GRR 0

Tempo, Timing und Vertrauen: Was ist das Geheimnis einer funktionierenden Sprint-Staffel? Und warum können auch die Langsameren auf eine Medaille hoffen?

Vertrauen ist wichtiger als Harmonie“, sagt Julian Reus: „Vertrauen in die Fähigkeit des anderen.“ Die Staffeln sind der Mannschaftswettbewerb der Leichtathletik, der Sportart der Individualisten. Selbst im Team bleiben die Einzelkämpfer, anders, als es Handball- und Basketballspieler, Volleyballer und Fußballer von klein auf lernen: Einzelkämpfer.

Vier mal hundert Meter, das klingt nach einer einfachen Addition. Doch lediglich die vier Schnellsten über hundert Meter auf die Bahn zu stellen und zu erwarten, dass sie den Stab schnell durchs Rund bringen, wäre schon der erste Fehler. Reus, ehemaliger Sprinter mit einer Bestzeit von 10,01 Sekunden, die lange deutscher Rekord war, leitet das Sprint-Team des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. „Wir müssen etwas gutmachen durch die Wechsel“, sagt er: „Die Staffeln sind immer noch die größte Chance auf eine Medaille.“

Die Frauen wahrten sie im Halbfinale am Donnerstag. Sophia Junk, Lisa Mayer, Gina Lückenkemper und Rebekka Haase wurden in ihrem Lauf in 42,15 Sekunden Zweite hinter den Vereinigten Staaten (41,94) mit der insgesamt viertbesten Zeit. Die Männer dagegen – Kevin Kranz, Owen Ansah, Yannick Wolf und Lucas Ansah-Peprah – schieden in 38,53 Sekunden als Dreizehnte aus; Ansah verletzte sich am Oberschenkel.

„Tut mir leid für diejenigen, die uns nicht auf dem Zettel hatten“, sagte Lückenkemper: „Ich glaube, dass wir im Finale am Freitag läuferisch und bei den Wechseln noch was drauflegen können.“ Haase war überrascht, als Erste auf die Gerade ins Ziel zu gehen: „Die Amis standen hier in Bestbesetzung, mit drei Medaillen kombiniert. Cool, dass wir zeigen konnten, dass wir als Staffel so gut funktionieren, dass wir hier ein Wort mitreden können.“ Bei den Olympischen Spielen von Rio 2016 wurde die Frauenstaffel Vierte, bei den Sommerspielen von Tokio 2021 Fünfte. Bei der Weltmeisterschaft von Eugene 2022 gewannen sie die Bronzemedaille, und in München 2022 wurden sie Europameisterinnen. Bei der WM in Budapest 2023 wurden sie Sechste. „Die Mädels sind alle saugut drauf. Ich bin supergut drauf“, sagt Gina Lückenkemper: „Die Staffel kann etwas sehr, sehr Großes werden.“

Zur Mannschaft von Reus gehören die Bundestrainer Sebastian Bayer, der in Mannheim Owen Ansah betreut und Lucas Ansah-Pepra, die zwei schnellsten deutschen Sprinter, David Corell aus Frankfurt und Alexander John aus Leipzig sowie drei Sportwissenschaftler von verschiedenen Olympiastützpunkten. „Dreißig Prozent des Geschehens findet bei den Staffeln im Wechselraum statt“, sagt Corell: „Das sind 90 der 400 Meter. Sprinten können unsere Sprinterinnen und Sprinter. Wir wollen sie im Wechselraum ein, zwei Prozent besser machen.“ Das höchste Maß an Gemeinsamkeit erreichen Sprinterinnen und Sprinter bei der Übergabe. Dafür haben die Frauen 3,15 Sekunden Zeit, länger darf die Passage des Stabs durch die dreißig Meter lange Zone für einen sehr guten Wechsel nicht dauern. Für die Männer gilt der Richtwert 2,80 Sekunden; wird er unterboten, ist der Wechsel sehr gut. „Zwei von drei Wechseln müssen gut bis sehr gut sein“, sagt Reus.

Läuferisch gehören die Frauen zu den Top Vier, Top Fünf. „Da können wir, wenn wir was gutmachen, in die Medaillenränge schießen“, sagt Corell: „Die Männer liegen bei Top Acht bis Top Zehn. Das ist noch ein weiter Weg zu einer Medaille.“

Der optimale Wechsel findet so nah am Ende der Zone statt wie möglich. „Vielleicht laufe ich im Finale so nah ran, dass Becky ein, zwei Schritte mehr zum Beschleunigen hat“, überlegte Lückenkemper am Donnerstag. Auch beim Wechsel von Mayer auf sie sah sie Potential. Dazu braucht vor allem die ablaufende Sprinterin gute Nerven: beim kraftvollen Sprint ins Nichts in der Erwartung, dass die anlaufende Kollegin ihr vor dem Ende der Zone den Stab in die Hand drückt. Sobald die ankommende Läuferin eine Stelle überquert, die mit einem Klebestreifen auf der Bahn markiert ist, läuft ihre Partnerin los. Die Markierung für den letzten Wechsel werde sie am Freitag mindestens einen Fuß vorverlegen, versprach Lückenkemper. Haase bekommt damit mehr Platz und Zeit für den Start, Lückenkemper muss länger auf Höchstgeschwindigkeit bleiben. Ruft die hintere Läuferin „Hepp!“, streckt die vordere den Arm nach hinten und nimmt den Stab in Empfang.

Dafür bedarf es blinden Vertrauens.

„Wenn du bei 28 Meter den Stab noch nicht hast, gehst du vom Gaspedal und musst wieder beschleunigen“, erklärt Corell: „Deshalb sind wir schon glücklich, wenn wir drei Wechsel bei 23 Meter haben und jedes Mal voll durchbeschleunigen können.“ Er spricht von den Männern. Die Frauen zögern den Wechsel weiter hinaus und sind dadurch, relativ, schneller. „Die Ansage für morgen ist klar. Wir wollen um die Medaillen mitrennen“, sagt Mayer: „Die anderen Nationen sind auch bockstark. Da werden wir volles Risiko gehen. Dann ist das Glück auf unserer Seite oder nicht.“

In der Staffel der Männer, so scheint es, ist der Wurm drin. Bei der Europameisterschaft von Rom im Juni wurde sie zwar Dritte. In den Jahren zuvor aber, bei der EM von München 2022, ging der Wechsel von Kevin Kranz auf Joshua Hartmann in die Hose. Bei der WM von Budapest im Jahr drauf missriet der zweite Wechsel, der von Ansah-Peprah auf Hartmann. In Paris war vereinbart, dass Hartmann sich, weil sein Halbfinale über 200 Meter zu dicht vor dem Halbfinale der Staffel lag, auf den Einzelstart konzentriert.

Gibt es in Staffeln Team-Spirit?

„Es gab schon Staffeln, die menschlich überhaupt nicht funktioniert haben“, erinnert sich Reus: „Wenn aber das Vertrauen in die oder den anderen fehlt, können sie Freunde sein, so viel sie wollen, dann klappt es nicht.“ Die enge Freundschaft zwischen Lückenkemper und Haase sei deshalb für den dritten Wechsel irrelevant. Entscheidend sei die Erfahrung.

Gehören die Schnellsten in die Staffel? Ja, aber nicht die Schnellsten über 100 Meter aus dem Startblock, sondern die Besten der Staffel-Auswertung. Auf Owen Ansah, den deutschen Meister, der 9,99 Sekunden gelaufen ist, und auf Gina Lückenkemper mit ihrer Bestzeit von 10,95 können die Staffeln nicht verzichten. Beide bringen mehr mit als Geschwindigkeit. Beide wechseln gut und sicher, beide laufen in der Kurve genauso schnell wie geradeaus. Deshalb sind beide nicht Schlussläufer. Die Staffel profitiert so zweimal von der Sicherheit ihrer Besten beim Wechsel. „Im Zweifel entscheiden wir uns eher für jemanden mit einer schlechteren 100-Meter-Zeit“, sagt Corell, „wenn der Top-Speed am Ende der Strecke höher ist und für die Wechsel hoch gehalten werden kann.“

Lückenkemper trägt auch deshalb den Stab zum letzten Wechsel, weil sie sich notfalls Ellbogen an Ellbogen, Schulter an Schulter gegen die Konkurrenz durchsetzen kann. Abschnitt eins und zwei der Staffel sind durch die Kurvenvorgabe einsame Rennen gegen die Uhr. Erst in der letzten Kurve kommen alle Läuferinnen oder Läufer auf gleiche Höhe – auch für die Psyche eine Herausforderung. „Manche Athleten blühen dabei auf“, sagt Reus, „manche laufen lieber frei auf der Eins oder Zwei und haben den Gegner peripher im Sichtfeld.“

Während des Staffeltrainings in Potsdam bat Trainer Corell ChatGPT um einen Vorschlag für die Aufstellung der Olympia-Staffel der Männer. Als hätte die Künstliche Intelligenz geahnt, dass ihr etwas fehlt, nannte sie als Startläufer: Julian Reus.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 9. August 2024 

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