Unterzeile: Dreißig Läufer besonders aus Bitterfeld machten mobil – Sie sammelten 10 000 Euro für Opfer des kenianischen Bürgerkrieges
Der verrückte Lauf „Von Luther zum Papst“ – Der Spendenlauf – Über 17 Stationen und 2000 Kilometer – Robert Hartmann
Es war ein Spendenlauf, wie er verrückter und ehrgeiziger nicht geplant und dann umgesetzt werden konnte. Schon der Titel erstaunte und machte neugierig: Von Luther zum Papst. Über 17 Stationen und eine Länge von rund 2.000 Kilometern. Passend war auch das Datum. Nämlich vom 5. bis 19. April. Es lehrte, dass vor genau 500 Jahren Martin Luther vom mitteldeutschen Wittenberg nach Rom aufbrach und dort vor dem Papst die Missstände um den Ablasshandel der Kirche an den Pranger stellte.
Dreißig Läufer aus Deutschland, Kenia, Polen, einer sogar aus Kasachstan, begaben sich auf die gleiche Route wie damals der Reformator. Es war eine glückliche Fügung, dass der deutsche Papst Benedikt XVI. am Tag der Ankunft der Läufer in der „ewigen Stadt“ sein fünfjähriges Pontifikat beging.
Bei seiner Neuauflage stand jener lange Marsch im Zeichen der Ökumene: dem gemeinsamen Vorgehen von Katholiken und Protestanten. Mehr noch setzte er ein starkes Zeichen der Toleranz. Es war morgens und abends zu erfahren bei den Andachten und Gottesdiensten. Die bis zu 68 Jahre alten Läufer waren Protestanten, Katholiken und eben auch solche, die Gott fern stehen. Die Kirchen stellten für sie aber nie eine Hemmschwelle dar. Es stimmt, dass sie sich eher rein sportlich herausgefordert sahen, wie etwa Peter Junge, der die treibende Kraft des Unternehmens war. Er sagte, er sei Marxist.
Unterwegs wurden die Städte besucht, die mit Luthers Wirken verbunden sind. Nach dem Start sowohl in Torgau als auch Magdeburg waren die Etappenorte: Wittenberg, Eisleben, Erfurt, Gotha, Eisenach mit der Wartburg, Schweinfurt, Roth, Augsburg, Garmisch-Partenkirchen, und in Italien danach Reschen, Bozen, Verona, Modena, Siena, Gracciano und Rom. Die Abschnitte variierten zwischen 90 und 200 Kilometern. Die Läufer waren meist paarweise unterwegs. Es wurde nicht einmal geschummelt. Das war Ehrensache. Zeitversetzt liefen sie dabei in zwei selbständigen Gruppen. So wurde der Lauf nicht uferlos.
Der Höhepunkt war nach einem Ruhetag am 21. April die Generalaudienz beim Papst auf dem Petersplatz vor Tausenden von Menschen. Dabei erwähnte Benedikt XVI. in seiner Ansprache die Läufer, die bald die „Spendenläufer“ hießen, ausdrücklich. Der Papst ließ in seiner Rede erkennen, dass er sich vorher genau über das Unternehmen erkundigt hatte. Kann es sein, dass er durchaus respektvoll über das langatmige Unternehmen staunte? Wenn er dann noch eine Schatulle geöffnet hätte…
Darum ging es: Geld für Opfer des kenianischen Bürgerkriegs nach den Parlamentswahlen am 27. Dezember 2007 zu sammeln, sie dem Papst zu überreichen, und der sie dann an Bischof Cornelius Korir in der Diözese Eldoret weiterleiten sollte. Denn diese 300.000-Einwohner-Stadt im Nordwesten des ostafrikanischen Staates war der Brennpunkt der damaligen Unruhen gewesen. Es kam eine Spende in Höhe von rund 10.000 Euro zusammen. Allein weitere 5.000 Euro steuerte Heinrich Haasis bei, der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, zur Aufbereitung des Laufs bei.
Mit dem Opfergeld sollen Familien bedacht werden, die damals von der Gewaltorgie besonders in Mitleidenschaft gezogen wurden. Das Geld ist nicht üppig. Es ist wie ein Tropfen, der auf ein verbranntes Erdreich fällt. Er soll ein wenig dem Humus beigefügt werden, aus dem neues Leben sprießen kann. Was jedoch viel mehr zählt, ist die Solidarität, ist das grenzenlose Gefühl der Nächstenliebe, dass die Läufergruppe über zwei Wochen lang lebte.
Sie erlebte den Gewinn also auch für sich selbst. Denn in ihren innermenschlichen Beziehungen wuchsen ihnen Flügel, und am Ende der Reise erlebten die Läufer mitten in ihrer körperlichen Anstrengungen eine wunderbare Euphorie. Man kann es gar nicht anders sagen. Jeder fühlte sich in einer Weise beglückt, wie es sehr selten geschieht.
Es war vor jetzt über drei Jahren, dass zunächst eine Idee des konkreten Helfens gegenüber der Familie eines jungen kenianischen Marathonläufers entstand. Der Kikuyu Paul Thuo hatte in Bitterfeld den Goitsche-Marathon (das heißt Wald auf Sorbisch) Anfang Mai vor dem Nandi Isaak Sang gewonnen, und Peter Junge gelang es nun, die beiden fern der Bürgerkriegswirren nach Deutschland zu holen. Zu zweit, das wusste Peter Junge, ist es leichter in der Fremde zu leben als alleine. Schon bei Eldoret waren sie über mehrere Jahre hinweg schon Trainingspartner gewesen.
Thuo und seine Familie war während der Unruhen eines ihrer Opfer. Insgesamt starben während der Auseinandersetzungen rund 1.200 Menschen, und 300.000 verloren ihre Heimat, meistens Kikuyu. Die das zahlenmäßig das größte Volk von Kenia sind. Zwei Wochen lang lebte Thuo in und vor der katholischen Kirche von Eldoret, zusammen mit seiner Mutter und dem Rest der Familie.
Die kleine malerische Achthektar-Farm war von den aggressiven Kalenjin abgefackelt worden; zu den Kalenjin, den sogenannten „Läufervölkern“, gehören auch die Nandi. Paul und Isaak folgten jedoch nicht dem Klischee einer Jahrhunderte langen Feindschaft, sondern sie blieben trotzdem Freunde und setzten damit ihr ganz persönliches Zeichen. Der eine ist Katholik, der andere Protestant. So praktizierten sie nebenbei auch ihre persönliche Ökumene.
Paul hatte alles bis auf die Kleider verloren, die er am Leib trug. Und es war ein besonderes Ding gewesen, das er während der Zeit seiner Lebensgefahr wie einen Augapfel hütete: den Reisepass. Sein papiernes Tor zur Welt, zu seinem neuen Leben. Außerdem konnte er seine Angehörigen finanziell über Wasser halten. Wenn er im Marathon Erster oder Zweiter wurde, fielen ein paar Hundert Euro für ihn ab. Und Freunde in Bitterfeld steuerten weitere Euro bei. Es war so, dass der Beschenkte seiner größten Not entging. Mehr nicht. Oder: immerhin.
Peter Junge holte beide zu sich nach Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, und bald sagten sie „weißer Papa“ zu ihm. Schnell rief er die Aktion „Sportler helfen Sportlern“ ins Leben. Den Vorläufer der Aktion Von Luther zum Papst. Sie blieben für drei Monate. Wie sie sagten, hörten sie während dieser Zeit keine rassistische Bemerkung. Dies festzuhalten, soll nicht unter den Tisch fallen. Ihr Verein wurde der BSV Bitterfeld 2000.
Seine Mitglieder stellten jetzt auch beim Spendenlauf nach Rom die meisten Läufer. (Pauls Familie traut sich bis heute noch nicht auf ihr altes Grundstück ein paar Kilometer außerhalb von Eldoret. Die Furcht vor den meist jugendlichen Räuberbanden ist bis heute geblieben. Und niemand weiß, was die Zukunft noch bringen wird.) Die Thuos, ja, überhaupt die Opfer sollen wissen, nicht allein und einsam in der Welt zu sein.
Der nächste Goitsche-Marathon steht in Bitterfeld am 2. Mai wieder an. Abermals mit den beiden kenianischen Protagonisten. Den Spendenlauf nutzten sie auch zur unmittelbaren Vorbereitung. Mit Kilometerumfängen von bis zu 35 Kilometer. Hinzu gesellte sich zum ersten Mal auch Pauls ältester Bruder Ezekiel. Statt Däumchen zu drehen, begann auch er, der heute ein entwurzelter Kleinfarmer ist, vor acht Monaten mit dem Laufen. Denn die zwei Kühe, die drei Schafe mit Namen „Bitterfeld“, „Villa“ und „Sparkasse“ sowie ein paar Ziegen wurden von aufgewiegelten Nachbarsjungen getötet.
Nebenbei bemerkt: Wir haben bei unserem letzten Besuch in Kenia mehrmals den Namen eines bekannten Politikers gehört, der den Mordbrennern täglich umgerechnet fünf Euro gab, damit sie ihrem Tun nachgehen konnten.
Während der Reise nach Rom fand zwischendurch in Schweinfurt ein offizieller Stadtlauf über 7,8 Kilometer statt. Paul und Isaak fochten den Sieg untereinander aus, weit vor dem bayerischen Crossmeister. Der Sieger schaffte auf dem winkligen Kurs immerhin einen Kilometerschnitt von knapp unter drei Minuten. Ezekiel traf etwas später schon als Vierter ein. Sein Bruder verdiente sich eine Sachspende in Höhe von 60 Euro, und er kriegte einen Gegenwert in Höhe von 30 Euro. Das erste Preisgeld seines Lebens.
Auf dem Weg „Von Luther zum Papst“ bewegte sich eine bunte Gruppe. Seit November bereiteten sich die Bitterfelder Hobbyläufer gemeinsam auf das Großereignis vor. Mit einem exakten Trainingsplan. Sie liefen bis zu hundert Kilometer in der Woche. Auf dem organisatorischen Gebiet wurde der Verein „Von Luther zum Papst“ gegründet. Drei bildeten den Vorstand, mit Lars-Jörn Zimmer, einem Abgeordneten des sachsen-anhaltinischen Landtages, als Zweitem Vorsitzendem und „Außenminister“. Er überreichte dem Papst eine goldene Friedenstaube, verbunden mit einer Einladung nach Eisleben.
Zu ihm gesellte sich Matthias Weise, der katholische Pfarrer von Bitterfeld, als geistlicher Beistand, Quartiermacher und zuständig für Verpflegung. Aber der Vorsitzende Peter Junge war das „Mädchen für alles“ und erster Motivator. Oft fuhr der 65-jährige Pensionär am Straßenrand mit dem Fahrrad hinter den Läufern her. Längst hatte er das Laufen als Steckenpferd entdeckt, der früher boxte, schwamm und turnte. Einmal half ihm unterwegs ein Schutzengel, als er in Italien von einem Omnibus in den Straßengraben abgedrängt wurde, aber unverletzt blieb.
Die Idee zum Spendenlauf hatte übrigens Marian Bigocki, ein in Hannover lebender Pole, selbst ein Trainer und Helfer des Doppel-Olympiasiegers im Marathonlauf, Waldemar Cierpinski, bei dessen jährlichem September-Marathon in Halle. Er erzählte Peter Junge einmal, dass es polnische Läufer waren, die einst von Warschau zu ihrem polnischen Papst Johannes Paul II. gelaufen waren.
Das kenianische Element des Spendenlaufs bestand aus einem Quartett. Die drei jungen Männer und Tegla Loroupe. Sie war in den neunziger Jahren eine der weltbesten Straßenläuferinnen, dreimal Halbmarathon-Weltmeisterin, zweimal WM-Dritte über 10.000 m, sie lief zwei Marathonweltrekorde mit ihrer Berliner Bestzeit von 2:20:43 Stunden aus dem Jahr 1999. Sie selbst braucht auch noch Geld für ihre eigene Tegla Loroupe Akademy in ihrer Heimatstadt Kapenguria. Dabei sollen ehemalige Straßenkinder und Kinder aus armen Familien in einem Internat betreut und in einer Schule privat (das ist in Kenia üblich) ganztags unterrichtet werden.
Tegla ist im Ehrenamt die UNESCO-Botschafterin. Ihre bemerkenswerteste Tat, die in ganz Kenia beachtet wurde, war, dass sie vor ein paar Jahren die feindlichen Nachbarvölker der Marakwet und West-Pokot befriedete. Seitdem wird dieses Ereignis mit einem jährlichen Friedenslauf begangen. Vor zwei Jahren waren der US-amerikanische Botschafter und im vorigen November Prinz Albert von Monaco ihre Ehrengäste. Mit der Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai, der Marathon-Olympiazweiten und Weltmeisterin Catherine Ndereba zählt Tegla zu den drei bekanntesten Frauen Kenias.
Sie lief ebenfalls mit und legte täglich bis zu 35 Kilometer zurück. Sie war stets bester Laune, genoss ihre gute Laufform und sagte bald, sie bewege sich in der besten Gruppe, mit der sie in ihrer sportlichen Karriere je trainiert hätte. Ihr nahes Ziel war der Londoner Marathon am 25. April. Den sie schließlich auch bestritt. Dabei ging es ihr vorerst nur um die Charity. Die Wohltätigkeit. Sie sammelte Geld für ihre Schule. Im November möchte sie in New York nach zehn Jahren wieder in die Weltspitze zurückkehren. Die Lust dazu sei wieder groß. Und sie ist erst 31 Jahre alt. Sie sagt, der Reisepass nenne nicht ihr wahres Alter. Danach ist sie 37.
Ursprünglich wollte der dreiköpfige Vorstand persönlich mit dem Papst zu sprechen. Aber Peter Junge verzichtete zugunsten Teglas. Sie war sehr angetan von der Begegnung. Sie hatte dem Pontifex viel vorzutragen. Und sie konnte es durchaus in einer gewissen Ausführlichkeit, wie sie später berichtete. Das war das Wundersame am Schluss der Reise. Dem Höhepunkt.
Die bekanntesten einheimischen Mitläufer waren Timo Hoffmann, der Profiboxer im Superschwergewicht aus Eisleben, der seine 120 Kilogramm Körpergewicht Tag für Tag meistens 15 Kilometer auf die Landstraße brachte und Katrin Huß, die Moderatorin des Mitteldeutschen Fernsehens (MDR). Sie joggte in einer erstaunlichen Unermüdlichkeit ihre 13 Kilometer. Nachts teilte sie ein Doppelzimmer mit Tegla, auch in den vier Jugendherbergen, in denen die Gruppe aus Kostengründen übernachtete.
Am 23. April war Katrin Huß zu Gast bei der MDR-Talkshow ihres Senders. Im „Riverboat“. So gut wie täglich brachte der MDR, der ein eigenes Team mitgeschickt hatte, während des Laufs einen aktuellen Beitrag, entweder in „hier ab vier“ oder in der Sendung um 19 Uhr. Für eine nachhaltige Werbung der Aktion war fürwahr gesorgt. Dazu komponierte der Fahrer des bis Garmisch-Partenkirchen begleitenden „Bibelmobils“, einen Song „Von Luther zum Papst“, der sich als wahrer Ohrwurm entpuppte. Morgens und abends wurde er von diesem Läufer-Gesangverein vor einem stets wechselnden Publikum zu Gehör gebracht.
Vom ersten bis zum letzten Tag begleitete auch Andreas Hajek die Gruppe. Der frühere Olympiasieger und Weltmeister im Rudern (Vierer) besitzt in Halle ein Fahrradgeschäft, und er versteigerte täglich ein weißes Fahrrad mit der Aufschrift „Von Luther zum Papst“. Es waren 30 Unikate, einschließlich mit einer eigenen Seriennummer versehen und einer Urkunde für jeden Käufer. Jedes Rad kostete 999 Euros. Die Hälfte war eine Spende. Bodo Tümmler aus Berlin, 1.500m-Olympiadritter vom Mexico-City 1968, zu Gast am Startort Torgau, erstand das erste Rad.
Das letzte nahm der Papst entgegen.
Robert Hartmann
PS. Für den Goitsche-Marathon am 2. Mai hat sich schon eine 16-köpfige Läufergruppe aus Reschen in Südtirol angekündigt. Peter Junge ist als Gastgeber wieder gefordert.
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