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25
11
2011

"Der Sport war überfordert" - Warum das Berendonk-Buch über Doping alles sagte, aber zu wenig bewirkte - Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©Springer-Verlag

„Der Sport war überfordert“ – Warum das Berendonk-Buch über Doping alles sagte, aber zu wenig bewirkte – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

BERLIN. Das Buch steht seit zwei Jahrzehnten wie eine Klageschrift in der Welt des Sports. Im Herbst 1991 veröffentlichte Brigitte Berendonk "Doping-Dokumente – von der Forschung zum Betrug". Seitdem hat sich der Blick der Öffentlichkeit, hat sich das Verhalten von Politik, Funktionären und Sportlern verändert.

Der Staat hat nicht nur anerkannt, dass es systematisches Doping gibt, er hat auch dessen Opfer aus der DDR finanziell entschädigt – und ihr Leid dennoch nicht beenden können. Er hat das Arzneimittelgesetz verschärft – und es ist dennoch wirkungslos geblieben. Verbände konnten Doper nicht halten, Drahtzieher der Manipulation wie Manfred Ewald und Manfred Höppner wurden in einem aufsehenerregenden Prozess verurteilt – und dennoch begegnet man Dopern der Vergangenheit immer noch im organisierten Sport.

Anstelle eines zwanzigjährigen Jubiläums gab es bei der Stiftung Aufarbeitung in Berlin in der vergangenen Woche eine Diskussion. Das Fazit: Die Steilvorlage des Buches hat der Sport nicht ausreichend genutzt.

    Längst hat sich die ehemalige Oberstudienrätin Brigitte Berendonk aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und ihrem Mann Werner Franke, auch er von seiner Professur am Krebsforschungszentrum emeritiert, die selten gewordenen Auftritte überlassen. Die beiden haben viel bewegt. Und doch ist das immer noch zu wenig, um sie zufrieden auf den Sport blicken zu lassen. Brigitte Berendonk war es, die nach den Olympischen Spielen von Mexiko 1968 unter der Schlagzeile "Züchten wir Monstren?" auf die hormonelle Manipulation aufmerksam machte und dem Entsetzen eine Stimme gab. "Die Rolle der Sportmediziner ist das traurigste Kapitel", sagte sie nun: "Sie haben die ärztliche Kunst verraten und den Sport." Beides empörte die Arzttochter, die mit siebzehn gemeinsam mit ihrer Familie die DDR verließ. Im Diskuswerfen nahm sie an den Olympischen Spielen 1968 und 1972 teil.

    Andreas Krieger und Manfred von Richthofen, beide Teilnehmer der Diskussion, personifizieren die Wirkungsgeschichte des Buches. Als "westliche Propaganda" tat Krieger es zunächst ab, fand dann aber im Nachweis seines Testosteron-Dopings eine Erklärung für die körperlichen und psychischen Veränderungen, die er an sich bemerkte. Erst seitdem gibt es ihn: Durch eine Geschlechtsumwandlung wurde aus der ehemaligen Kugelstoßerin Heidi Krieger vom SC Dynamo Ost-Berlin Andreas Krieger.

Die Europameisterschaftsmedaille der Heidi Krieger wird heute als Preis im Kampf gegen Doping verliehen. "Man hat mein Leben aufs Spiel gesetzt", rief Krieger, "nur wegen der Scheiß-Medaillen."

    Manfred von Richthofen war stiller, doch sein Abfall vom Glauben an die Selbstheilungskraft des Sports, die er als Präsident von Landessportbund Berlin und Deutschem Sportbund vertrat, war umso spektakulärer. Während Berendonk und Franke 1991 ihr Buch verfassten, leitete Richthofen die sogenannte Ad-hoc-Kommission, die dafür sorgen sollte, dass vor allem Doper und Stasi-Spitzel im vereinten deutschen Sport nicht in Amt und Würden kommen.

Doch was sollte er tun, wenn geladene Gäste nicht zu den Anhörungen erschienen, wenn Verbände wie der Deutsche Leichtathletikverband nicht nur seine Erkenntnisse ignorierten, sondern ihm noch dazu Klagen androhten? Richthofen stimmte einsilbig der Überzeugung zu, dass Prozesse, wie sie Werner Franke mit Strafanzeigen in Gang setzte, wirkungsvoller waren als die Mechanismen des Sports.

Inzwischen räumt Richthofen, dem Franke 1998 unterlassene Hilfeleistung unterstellte, ein, dass er selbst Unterstützung gebraucht hätte: "Wo war eigentlich die Hilfe der Politik? Wo war eigentlich die Hilfe des Sportausschusses? "Der Sport war überfordert. Aber bei der Möglichkeit, die Geldmittel zu beschneiden, hätte man mehr erwarten können."

    Brigitte Berendonk und ihr Mann hatten nach dem Fall der Mauer in einer filmreifen Exkursion in die Militärmedizinische Akademie Bad Saarow geheime Dokumente zur Doping-Forschung in der DDR gefunden. Ihre in einem Buch versteckte Kamera ist derzeit im Hygienemuseum von Dresden ausgestellt. Zusammen mit all dem, was das Ehepaar aus dem Westen wusste, wurden die Informationen Gegenstand des Buches.

Dem Eindruck manches Athleten aus dem Osten, da säßen Westler über ihn zu Gericht, widersprach Brigitte Berendonk. Sie hatte Verständnis für die, die mitmachten, sagte sie, denn sie wollten ja raus. Das Werk musste einer Reihe von juristischen Angriffen standhalten. Nach wie vor ist es das Standardwerk über Doping im Deutschland des Kalten Krieges.

    "Manche sagen, dass das Buch ihnen die Augen geöffnet habe", berichtete Brigitte Berendonk. "Und dann kommt: Aber leider habe ich nun gar keine Illusionen mehr. Das ist die Sache mit dem Zweifel. Ich kann verstehen, dass Leute, gerade wenn sie Leichtathletik beobachten oder Schwimmen oder Spielsportarten, bedauern, dass sie dem schönen Schein nicht mehr glauben können. Mein Mann, der Naturwissenschaftler ist, sagt immer: Nichts ist besser als der Zweifel."

Und so wandte sie sich, logisch, fast im selben Atemzug, auch gegen manche Gewissheit. "Ich glaube nicht, dass Doping im Spitzensport immanent ist", sagte sie. "Man kann auch anständig Fünfter oder Sechster werden."

MICHAEL REINSCH in der Frankfurter Allgeneinen Zeitung, Mittwoch, dem 23. November 2011

author: GRR

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