Reformation ©Leichtathletik
Der Reformator – Sensation: So will Sebastian Coe die Leichtathletik umkrempeln.
Krise? Welche Krise? Wer sich in diesem Jahr ausschließlich mit der Leichtathletik-WM in London beschäftigt hat, der dürfte all das Gerede vom Niedergang der Sportart nicht verstehen.
Volle Stadien, euphorische Fans und begeisternde Wettbewerbe – die Titelkämpfe in der englischen Millionenmetropole sorgten für strahlende Gesichter allerorten. „Die Erkenntnis der Verbindung zwischen Sportlern und Fans ist glasklar", schlussfolgerte IAAF-Präsident Sebastian Coe nach der WM in seiner Heimat.
„Die Fähigkeit der Athleten, über sich hinauszuwachsen, hängt zu großen Teilen auch am Spektakel, das ein volles Stadion veranstaltet. Wenn wir das zusammenbekommen, dann ist unser Sport unerschütterlich", unterstreicht der ehemalige Weltklasse-Mittelstreckler.
Damit das so bleibt beziehungsweise wird, mahnt der 61-Jährige stets zu Reformen – und sorgte zuletzt bei der „Leaders in Sports"-Konferenz in London mit einigen Vorschlägen für Aufsehen.
„Für die nächsten Jahre muss unser Fokus unerbittlich und konzentriert darauf liegen, welche Formate und welche Veränderungen wir in unserem Sport haben müssen. Ich schließe ganz ehrlich derzeit nichts aus, wir müssen in den nächsten zwei Jahren wirklich tief in uns gehen, um zu verstehen, wie die Leichtathletik in der näheren Zukunft aussehen kann", stellt Coe einige „möglicherweise unbequeme Gespräche" in Aussicht, um die Zukunft der Leichtathletik auch gegen Widerstände im eigenen Lager positiv zu verändern.
„Ich möchte einfach alles auf dem Tisch haben. Wir müssen uns früh auf eine gewisse Unruhe einstellen, die unsere nächsten Schritte begleiten wird. Ich glaube, wir müssen radikal reagieren!"
Sinnsuche
Was sich Coe darunter vorstellt, macht er auf der Podiumsdiskussion deutlich. „Nur ein einfaches Gedankenspiel: Warum sind wir verheiratet mit einer 400-Meter-Bahn? Warum können wir nicht mobile 200- oder 300-Meter-Bahnen in Fußballstadien aufbauen, wo wir eine Großzahl an Menschen auch ohne eine leichtathletik-taugliche WM-Arena erreichen können?", fragt der ambitionierte Brite, der auch über andere Formate nachdenkt:
„Was ist mit Teams, Städten, Franchises? Was spricht gegen die Spannung eines Drafts, wie es die Indian Premier League im Cricket durchführt? Die Leichtathletik-Saison braucht einen tieferen Sinn, einen Rhythmus und einen Grund dazu", ließ der oberste Hüter der Sportart das Publikum an seinen Gedankengängen teilhaben. Es gebe auf dem Weg zur nächsten Weltmeisterschaft 2019 in Katar auf jeden Fall eine Menge zu tun.
„Wir hatten wundervolle Titelkämpfe in London. Aber ist es sinnvoll, dass sie zehn Tage dauern?
Sollten wir weniger Athleten zu den Weltmeisterschaften zulassen, uns gar auf Halbfinals und Finals konzentrieren? Wir müssen jede Menge Gewohnheiten ändern, dem sind wir uns durchaus bewusst. In London gab es beispielsweise Tage ohne Morning Session. Ein größerer Fokus auf den Entscheidungen, sodass das Soufflé nicht schon während des Abends in sich zusammenfällt, könnte eine gute Sache sein", deutet Coe Veränderungen im Programm der WM 2019 an.
Dafür braucht es auch ein Umdenken im Sport selbst:
„Wir müssen den Leuten verständlich machen, dass tolle Rennen nicht einfach bedeuten, schnell von A nach B zu kommen. Es braucht Drama, es muss etwas passieren, niemand will eine Prozession sehen", sieht der IAAF-Präsident sowohl Veranstalter als auch Sportler in der Pflicht. Insbesondere die Diamond League unterzieht der Weltverband aktuell einer genauen Prüfung: Die Vorzeige-Veranstaltungsserie soll nach dem Willen der IAAF-Granden deutlich attraktiver gemacht werden.
„Vielleicht müssen wir öfter in die Innenstädte gehen, um gerade für die jüngere Generation wichtig zu bleiben", fordert Coe mehr Pioniergeist. Nicht umsonst gilt der zweimalige Olympiasieger über 1.500 Meter als großer Befürworter von Experimenten wie Nitro Athletics.
Das unter anderem vom australischen Leichtathletik-Verband im vergangenen Jahr aus der Taufe gehobene Event kombiniert über mehrere Tage hinweg den konventionellen Teamwettwerb mit verschiedensten Formaten von Wettbewerben und avancierte bei der Erstaustragung in Melbourne auch dank Usain Bolts tatkräftiger Unterstützung zu einem riesigen Erfolg.
Auch in Deutschland versucht sich die Leichtathletik zunehmend für solche Formate zu erwärmen. Mit „Berlin fliegt" hat sich ein Teamevent, bestehend aus Sprung- und Sprintwettbewerben, am Brandenburger Tor etabliert, sogar bei Titelkämpfen zieht es, wie 2015 die Weitspringer in Nürnberg, die Athleten in die Nähe der Zuschauer.
Unterhaltungsindustrie
Gerade das Verhältnis zwischen Fans und Sportler liegt Coe besonders am Herzen – dort wünscht er sich mehr Offenheit seitens der Stars. „Die Athleten müssen verstehen, dass wir in einer Unterhaltungsindustrie tätig sind. Sie müssen eine Meinung haben, sie müssen einen Raum füllen können, sie müssen sogar ein ganzes Stadion füllen können", fordert der IAAF-Boss.
„Oft sitze ich bei einer Pressekonferenz und denke mir: ‚Ist das wirklich alles, was du den Leuten an Einblicken und Zugang bieten kannst?' Ich finde es wirklich enorm wichtig, dass die Sportler das verstehen und es auch beherzigen. Denn das ist es, was den Sport aus dem Stadion hinaus in die Welt trägt!"
Jemand, der das bis in die letzte Faser seines Körpers beherrscht, ist Usain Bolt. Nicht nur deswegen will der Weltverband den jamaikanischen Sprint-Superstar, der bei der WM in London seine Abschiedsvorstellung gab, fest in die Geschicke der Sportart einbinden. „Wir wollen uns vor Weihnachten treffen, um auszuloten, was Usain für uns tun kann und will", sagt Coe, der bereits auf Jamaika mit Bolt über seine Pläne sprach.
„Ich habe mich auch mit Jamaikas Premierminister ausgetauscht, unsere Herausforderungen sind nicht unähnlich. Wenn sie es schaffen, ihn weiter mit seiner Popularität auf Jamaika wirken zu lassen, und wenn wir es schaffen, seine globale Vorbildfunktion zu nutzen, dann haben wir einen positiven Kreislauf", so der Brite, der schon gewisse Vorstellungen von Bolts Engagement in der Leichtathletik äußert. „Für mich ist es schwer, über seinen Einsatz für junge Leute hinauszudenken. Ich habe niemals jemanden getroffen, der, egal in welcher Sportart, weltweit eine derartige Wirkung hat wie Usain Bolt. Da muss man schon bis zu Muhammad Ali zurückgehen", schwärmt Coe.
So unkonkret der IAAF-Präsident in dieser Frage bleibt, so unkonkret sind allerdings auch seine Veränderungswünsche für die Leichtathletik.
Dennoch – und das dürfte spätestens seit seinem Auftritt auf der „Leaders in Sports"-Konferenz klar sein – meint Coe es ernst mit den Reformbestrebungen für seine Sportart. Die Debatte um einen Wechsel in der Leichtathletik jedoch steht erst ganz am Anfang:
Ob kürzere Laufbahnen, Veranstaltungen in den Innenstädten, verschiedene Formate und Events oder gar ein komplett neues Saisonsystem mit Teams und Drafts: All das steht noch in den Sternen.
Der erste Schritt ist allerdings gemacht – die Diskussion ist erfolgreich eröffnet.
Thomas Reinscheid in Leichtathletik vom 11. Oktober 2017 – Nr. 41
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