Am Adenauerplatz, Kreuzungspunkt von Längs- und Querbalken, stehen Cheerleaderinnen übereinander mit rot-goldenen Puscheln und feuern uns an - Foto: Horst Milde
Der neue Kreuzweg von Berlin – Impressionen von der 30. City-Night am 30. Juli 2022 von Dr. Erdmute Nieke
„Ein richtiger Kreuzweg!“ Das ist sofort der Kommentar im Internet-Form vom LT Bernd Hübner, als die neue Strecke der City-Night bekannt wird, denn optisch stellt sie ein Kreuz dar. Die Hauptachse des Kreuzes ist der Ku‘damm, der Querbalken Lewisham-, Kaiser-Friedrich- und Brandenburgische Straße mit dem Mittelpunkt am Adenauerplatz.
Doch passt „Kreuzweg“ auch inhaltlich? Christ:innen laufen seit alten Zeiten auf dem Kreuzweg den Leidensweg Jesu von seiner Verurteilung im Haus des Pilatus bis zu seiner Kreuzigungsstätte auf Golgata nach. Die City-Night ist jedoch das Gegenteil von Leiden, sie ist Spaß und Sport und Party.
Gewimmel vor dem Start an der Gedächtniskirche – Foto: Horst Milde
Die Party beginnt bereits beim Abholen der Startnummern im Adidas-Shop auf der Tauentzienstraße. Ich warte – beschallt von den Bässen des DJs, der im Foyer des Ladens auflegt – auf Lauffreund Martin. Meine Startnummer trage ich bereits. Die Straße ist voller Tourist:innen. Plötzlich stehen drei halbwüchsige Jungen vor mir und fragen mich, wo sie so eine Nummer her bekommen könnten und wozu sie gut wäre.
adidas store auf der Tauentzienstrasse – Foto: Horst Milde
Auf meine Antwort, dass wir alle bald zehn Kilometer über den Ku‘damm rennen, schauen mich drei staunende Augenpaare an und es folgt die Frage, ob wir etwas dafür bekämen. „Ja, klar! Spaß, Freude, Vergnügen, Lebenslust, Energie….“ Weiter komme ich nicht mit meiner Aufzählung. Mit einem „Nääää?!?“ verabschieden sich die Drei und ziehen weiter. Leiden hätte ich nicht aufgezählt!!
Fridolin Flink und die TOPS kurz vor dem Start – Foto: Horst-Dieter Bellack
Dann treffen wir uns vom Lauftreff für das alljährliche Foto am Brunnen auf dem Breitscheidplatz im Schatten der Gedächtniskirche, deren Turm über das Gewimmel von Läufer:innen und Tourist:innen ragt. Der Platz ist auch mit Leid verbunden: Anfang Juni der Amokfahrer, der in eine hessische Schulkasse raste und dabei eine Lehrerin tötete und viele Verletzte hinterließ, dann das Weihnachtsmarktattentat 2016 und nicht zuletzt die Halbruine des alten Kirchturms, die noch an den zweiten Weltkrieg erinnert.
Start – ganz lks. ist der spätere Sieger Simon Boch (LG Telis Finanz Regensburg) zu erkennen – Foto: Horst Milde
Stumme Zeugen des Leides sind sichtbar, doch heute Abend gehört der Platz der lauten City-Night und der Freude. Es läuft wieder zusammen. Letztes Jahr noch mit Masken und Impfstatus, in diesem Jahr fühlt es sich wieder an wie immer bei Wettkämpfen. Ein kurzer Gedanke im engen Startblock, hoffentlich ist hier Keine:r positiv. Doch schon erklingt die Startmusik kurz vor 20.30 Uhr und los geht es auf den Ku‘damm. Am Anfang dicht gedrängt Zuschauer:innen und auch Läufer:innen. Allmählich lichtet sich das Feld, ich kann anfangen den abendlichen und autofreien Ku‘damm zu genießen, mit alle seinen teuren und schönen Läden und Restaurants. Es kommt eines meiner Lieblingskinos, das Cinema Paris. Goldener Ku‘damm der 50iger Jahre, Wirtschaftswunder und Lebensfreude im freien Teil der Stadt, schon lange vor meiner Geburt.
Dann Adenauerplatz am Kreuzungspunkt von Längs- und Querbalken stehen Cheerleaderinnen übereinander mit rot-goldenen Puscheln und feuern uns an. Schön anzusehen!
Konrad Adenauer, Erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, auf dem Adenauerplatz – Foto: Horst Milde
Nach der ersten Biegung wird die Straße etwas eng, ich muss wieder auf das Läufer:innenfeld achten. Nach der ersten Wende am rechten Kreuzesarm an der langen Unterführung unter der S- und Fernbahn wird die leidvolle Seite Berlins sichtbar. Auf dem Fußweg reihen sich die Schlafstätten eines guten Dutzend Obdachloser aneinander. Die meisten Plätze sind schon belegt. Nur wenige der Menschen interessieren sich für das, was vor ihren Augen abläuft. Sonst sind sie an den Autoverkehr gewöhnt, heute schauen sie auf so viele Läufer:innen oder auch nicht. Gerade noch die teure Einkaufsstraße passiert und nun dieses Bild. Freude und Leid liegen also doch nah beieinander.
Wieder auf dem Ku‘damm ein wenig bergauf, dann zweite Wende und zur Belohnung bergab. Bei der dritten Biegung auf dem Adenauerplatz wird es etwas eng, denn schon von weitem sehe ich Blaulicht. Ein Läufer wird gerade mit einem verbundenen Knie von Sanitätern in den Rettungswagen befördert. Für ihn hat sich die Freude in Leid verwandelt. Gute Besserung!
Dann Querbalken links oder die Brandenburger Straße hinauf. Es wird gerade etwas langweilig, da höre ich meinen Namen rufen. Anne und Roland aus unserem Lauftreff feuern mich an! Das motiviert! Es folgt Getränkepunkt zwei und eine Streckendusche. Der laue Sommerabend dämmert und ab und zu weht ein angenehmer Luftzug. Nach der dritten und letzten Wende gehen die Straßenlampen an und bei der vierten Biegung auf dem Adenauerplatz sehe ich neben den Cheerleaderinnen auch die Band. Tolle Musik, erste Zuschauer:innen tanzen – na gut – ich renne weiter!
Der letzte gute Kilometer wieder über den edlen Teil des Ku‘damms, nochmal vorbei am Lieblingskino und schon sehe ich den bunt leuchtenden Zielbogen unter dem alten und dem neuen Turm der Gedächtniskirche.
Apropos bunt! Toll ist der Spruch in Regenbogenfarben auf allen Startnummern: „PARTY ALL NIGHT LONG“. Vor einer Woche hatte der Bundestag zum ersten Mal die Regenbogenfahne gehisst und es war die größte aller Berliner CSD-Demos. Ich war dabei und habe mit etlichen queeren Menschen gesprochen, die über diese Solidarität sehr froh sind.
Der SCC Events hatte es vorab vermeldet: „wenn wir – gemeinsam mit dem Bündnis gegen Homophobie – für gleiche Rechte, Diversität und Respekt eintreten.“ Um so trauriger, dass Lauffreund Martin uns nach dem Lauf erzählt, dass ein Läufer neben ihm im Start, diesen Satz bewusst umgeknickt hat, damit er nicht zu lesen ist!
Die Helden sind müde … Foto: Horst Milde
Nach einer guten Stunde habe ich meine Medaille mit 2674 anderen Läufer:innen auf zehn Kilometern erlaufen. Es ist eine schwarze 30 mit den beiden Türmen der Gedächtniskirche und ihren zwei Turmkreuzen. Ein letzter Gedanke zum Kreuzweg – der neue Berliner Kreuzweg – mit Leid und noch viel, viel mehr Freude!
Das Ziel nach 10 Kilometern – früher stand hier das Ziel des BERLIN-MARATHON – Foto: Horst Milde
Freuen wir uns auf eine bunte und laute und friedliche City-Night 2023!
Dr. Erdmute Nieke, www.lauffreude.berlin