2011 IAAF World Outdoor Championships Daegu, South Korea August 27-September 5, 2011 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Der menschliche Makel – Bolt scheitert über 100 Meter an seinem einzigen ernsthaften Gegner: an sich – Frank Bachner und Jörg Wenig im Tagesspiegel – Wenn Arroganz bestraft wird
Einen Start später rannte Bolts Landsmann Yohan Blake bei heftigem Gegenwind in 9,92 Sekunden zum WM-Titel, vor dem US-Amerikaner Walter Dix (10,08) und dem 35 Jahre alten Kim Collins aus Saint Kitts and Nevis (10,09), aber das galt fast schon als statistischer Wert.
Das unfassbare Aus von Bolt war das Thema. Grotesk früh war er aus den Startblöcken gestürmt, nach fünf Metern stoppte er ab, schrie und zog das Trikot aus und ging zu einer Stadionmauer, seine Hände klatschten gegen den Beton, eine Geste ohnmächtiger Wut. Nichts erinnerte an den Superstar, der zwei Minuten zuvor noch den Showman gegeben hatte. Als ein Kameramann jeden Finalisten einfing, zeigte Bolt mit dem Finger nach links zu Dix und schüttelte den Kopf, er zeigte nach rechts zu Blake und schüttelte wieder den Kopf. Dann streckte er seine Finger nach vorn. Meine Bahn, auf die müsst ihr achten, lautete die Botschaft.
Lasst mich in Ruhe, das war seine Botschaft danach. Als er Journalisten passierte, blaffte er: „Glotzt ihr, ob ich Tränen vergieße? Das wird nicht passieren.“ Ein Showman darf nicht aus der Rolle fallen, egal, wie lächerlich und unglaubwürdig in dieser Sekunde dieser Trotz wirkt.
Yohan Blake hatte auch schnell in seine neue Rolle gefunden. Er saß vor den Reportern, und die wollten wissen, ob er schon mit seinem Kumpel Bolt gesprochen habe. Da lächelte Blake und erwiderte lässig: „Ich habe anderes zu tun, ich bin der neue Weltmeister, wissen Sie.“ Sie wussten es. Sie wussten allerdings nicht, wie selbstbewusst dieser 21-Jährige ist. „Mir war klar, dass ich ihn eines Tages schlagen könnte, aber ich hatte das heute nicht erwartet.“ Da war er nicht allein.
Aber warum? Warum dieser Fehlstart? Eine Antwort könnte lauten: Weil Bolt extremen Druck spürte, weil das Showgehabe viel mehr Fassade ist, als man denken könnte. Der extreme Frühstart deutet darauf hin, dass er seinen Körper nicht mehr kontrollieren konnte, dass die Spannung so groß war, dass sie sich instinktiv in diesem Start löste. Wäre Bolt so cool gewesen, wie er vor dem Start suggeriert hatte, dann hätte er locker warten können.
Er hätte problemlos registrieren können, dass seine Gegner früher aus dem Startblock sprinten als er. Bolt hätte sie eingeholt. Am Freitag gibt es die 200-Meter-Vorläufe. Mr. Bolt, starten Sie? „Das sehen wir am Freitag.“ Gestern sah man eine Sensation, Bolts Scheitern.
Richard Thompson aus Trinidad, der Olympiazweite, der in dieser Saison schon 9,85 Sekunden gerannt war (schneller als Bolt 2011), war im Halbfinale sensationell ausgeschieden. Damit war der letzte Gegner weg, der Bolt im Finale hätte gefährlich werden können.
Niemand hätte den Weltrekordler wohl besiegt. Das hat er dann selbst erledigt.
Der Kommentar:
Wenn Arroganz bestraft wird – Frank Bachner im Tagesspiegel
Alles eine Frage der Feinheiten. Wäre Usain Bolt um einen Wimpernschlag zu früh losgerannt, wäre ihm wegen einer Hundertstelsekunde dieser Fehlstart im WM-Finale unterlaufen, hätte er wahrscheinlich seinen Mythos noch vergrößert. Der tragisch gescheiterte Held, mit diesem Etikett hätte er sein Image ergänzen können, Bolt hätte dann beim nächsten Duell seine grandiose Überlegenheit demonstrieren können. Er hätte dann im Startblock verharren und trotzdem seine Gegner in Grund und Boden rennen können. Bolt, die Legende.
Aber sein grotesker Frühstart lässt nur eine Erklärung zu: Er ist auch nur ein Mensch, der unter enormem Druck steht, so stark, dass er mit reinem Willen den Körper nicht immer kontrollieren kann.
Dass er kein Computer ist, wusste man ja. Er hatte sich gestern als Mensch gezeigt, dass hätte ihn sogar Sympathien bringen können. Doch diesen Zuspruch blockierte Bolt, weil er Gefangener seiner Showman-Rolle ist. Seine Gesten mag er als Teil der Show betrachten, in Wirklichkeit dokumentieren sie eine Respektlosigkeit. 9,95-Sekunden-Sprinter wie Dix und Blake in Daegu vor einem WM-Start als sportliche Nobodys zu disqualifizieren, ist eine Frechheit.
Bei der Pleite eines Superstars schwingt immer auch Schadenfreude mit, das ist normal. Sollte sie diesmal größer sein als üblich, hat sich Bolt das selbst zuzuschreiben.
Und das hat er dann auch verdient.
Frank Bachner im Tagesspiegel, Montag, dem 29. August 2011