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01
08
2012

Vor dem Ziel 1908 - Dorando Pietri, das Fliegengewicht aus Südeuropa, näherte sich dem Stadioneingang. Der Zwischenspurt, zu dem ihn die begeisterten Menschen an den Straßen getrieben hatte, kostete Kräfte. Nun präsentierte der ausgemergelte Körper die Rechnung. ©Sportmuseum Berlin – AIMS Marathon-Museum of Running

Der Londoner Marathonlauf über 42,195 km am 24. Juli 1908. Das Drama um Pietri – Die Olympische Marathonlaufstrecke in LONDON 2012

By GRR 0

Am kommenden Sonntag, dem 5. August 2012 findet der Olympische Marathonlauf der Frauen in London statt, am Sonntag, dem 12. August der Marathon der Männer.

Seit 1908 in London beträgt die Marathondistanz 42,195 km, die Erklärung dafür und das dramatische Geschehen um den Lauf ist dem folgenden Beitrag von Ekkehard zur Megede zu entnehmen. Ekkehard zur Megede schreibt darüber in seinem Buch "Die Geschichte der Olympischen Leichtathletik" (1. Band – Bartels & Wernitz, 1968). Dieser Beitrag erschien schon einmal im Programm- heft des Berlin-Marathon 1981 und 1987.

Der historische Überblick über den Olympischen Marathonlauf der Männer seit 1896 in Athen wird morgen auf dieser Seite erscheinen, der Beitrag über den Olympischen Marathonlauf der Frauen (seit 1984) ist gestern hier publiziert worden (siehe link am unteren Teil).

Wenn in London 1908 mit der Streckenlänge des Marathon schon Marathongeschichte geschrieben wurde, so gibt es 2012 wieder eine Neuerung. Bei der Weltmeisterschaft in Berlin 2009 feierte der Marathonlauf als eine mehrfach zu laufende Runde mit Start und Ziel am Brandenburger Tor – eine Premiere – aber schon mit dem Hinweis, daß dies das konservative IOC nie in London 2012 genehmigen würde. Die Londoner Marathon Veranstalter waren aber von dem großartigen Erfolg und der Stimmung der WM 2009 am Branden-burger Tor während des Marathon in Berlin so begeistert und angetan, daß sie das in London wiederholen wollten. Sie setzten sich beim IOC durch – und so wird es zum ersten Mal bei einem Olympischen Marathon einen Mehrfachparcours mit Start und Ziel auf der Straße außerhalb des Olympiastadions geben!

Die Strecke in London und das Höhenprofil  ist auf der anhängenden pdf dargestellt.

Horst Milde

 

Als man die Strecke für den Marathonlauf bei den Olympischen Spielen 1908 fesdegte, wählte man die Route von Windsor nach London. Da lag es auf der Hand, daß man der britischen Krone Reverenz erwies. Der Start erfolgte unmittelbar vor der Ostterrasse von Schloß Windsor, damit ihn die Königskinder verfolgen konnten; das Ziel lag im Stadion direkt vor der Königsloge. Diese Strecke nun betrug genau 42,195 Kilometer.

Bis auf den heutigen Tag ist es bei dieser Streckenlänge gebheben. Das Drama von London habe ich in meinem Buch »…und dann trennten wir uns – Läufer, Lorbeer und Legenden « ausfuhrlich beschrieben.

Daraus ein längeres Zitat: »Plötzlich verschärfte der kleine Pastetenbäcker von der Insel Capri das Tempo wie ein Mittelstreckler. Er bezog das ständige Brüllen und Toben der Zuschauer am Straßenrand auf sich. Da gab er sich einen Ruck
und ließ jenen Südafrikaner Hefferon weit hinter sich, den er bis dahin wie ein Schatten von Scotland Yard begleitet hatte.

Niemand kannte das schmächtige Bürschlein, das sich nun anschickte, den Marathonlauf zu gewinnen. Im Stadion gab der Ansager bekannt, daß Nummer 19 die Führung übernommen habe. In der Königsloge blätterte Königin Alexandra in ihrem Programm.

 

Dort stand: Pietri Dorando.

 

Aber in Wirklichkeit hieß der kleine Italiener Dorando Pietri. Das freliich merkte man erst viel später.

Dorando Pietri, das Fliegengewicht aus Südeuropa, näherte sich dem Stadioneingang. Der Zwischenspurt, zu dem ihn die
begeisterten Menschen an den Straßen getrieben hatte, kostete Kräfte. Nun präsentierte der ausgemergelte Körper die Rechnung.

Pietri erreichte das Stadion als Erster. Die Beine trugen ihn nur noch instinktiv weiter. Das Drama begann. Pietri schaute mit glasigen Augen um sich, als er plötzlich vor einer scheinbar aussichtslosen Situation stand: ging es nun links herum oder rechts herum? Das Häuflein Elend wählte den falschen Weg. Die 90.000 Zuschauer schrien entsetzt auf, und selbst Königin Alexandra erhob sich von ihrem Sitz.

Irgendwer eilte mit schnellen Schritten auf Pietri zu und drehte den Italiener um. Der bekam das nicht einmal im Unter-bewußtsein richtig mit Er lief einfach wfeiter, oder er versuchte es jedenfalls. Die Schritte wurden kürzer, er taumelte, aber er hatte nun doch wenigstens die richtige Richtung.

Sportler, Offizielle und ein paar Zuschauer liefen neben Pietri einher und redeten ununterbrochen auf den ItaUener ein, der so nahe vor einem sensationellen Olympia-Triumph stand.

Hier aber half kein psychologisches Aufrüsten mehr – Dorando Pietri war am Ende seiner Kräfte. Plötzlich blieb er stehen und fiel dann im Zeitlupentempo zu Boden. Die Sinne schwanden. Es dauerte ein paar schier unendlich anmutende Sekunden, ehe Pietri die Augen aufschlug und im Trance wie durch einen Schleier ganz allmählich erkannte, was um ihn herum geschah. Dann raffte er sich auf. Das schon war eine Energieleistung. Und dann zwang sich Pietri dazu, ein paar Schritte zu tun. Schon jubelten die Massen, da sackte der Marathonläufer erneut in die Knie.

Drei-, viermal wiederholte sich diese Quälerei. Da plötzlich kam neue Bewegung in die Zuschauer – am Stadioneingang erschien der zweite Läufer: der Amerikaner John J. Hayes, frisch wirkend und noch zulegend, als er da vom das Drama um Pietri zu erkennen vermochte. Es war zuviel für die Menschen im Stadion.

Ein paar Offizielle sprangen hinzu, hoben den kaum seiner Sinne mächtigen Pietri auf, hielten ihn fest und schleppten ihn unter riesigem Beifall desPublikums über die Ziellinie.

Selbst Königin Alexandra klatschte.

Der Mann, der als erster die (wenn auch sportlich falsche) Initiative ergriffen hatte, hieß Sir Conan Doyle, der berühmte
Kriminalschriftsteller, ein begeisterter Freund der Leichtathletik. Aber der Erfinder des unsterblichen Sherlock Holmes vergaß in diesen aufregenden Minuten den Spürsinn und dieLogik seines Romanhelden.

Hier irrte Sherlock Holmes; denn dem ersten Jubel über Pietris vermeintlichen Olympiasieg folgte die ernüchternde Gewiß- heit: Ein Läufer, der fremde Hilfe annimmt (und sei sie unwissentlich), muß disqualifiziert werden. Mochte man noch so sehr mit dem gepeinigten Italiener fühlen, die Gesetze des Sports galten für ihn ebenso wie für jeden anderen.

Nicht Dorando Pietri erhielt die Goldmedaille, sondern John J. Hayes. Sein Name freilich ist -längst in Vergessenheit geraten.
Sir Conan Doyle aber stiftete einen Pokal, der bis in die kleinste Kleinigkeit jenem Cup glich, der dem Sieger überreicht wurde. Sherlock Holmes hatte falsch und doch (auf weite Sicht) richtig kombiniert: Erst diese tragische Disqualifikation brachte Dorando Pietri einen Platz in der "Ruhmeshalle der Unsterblichen" ein.

Wie Sir Conan Doyle war auch Königin Alexandra von der Tragödie des Italieners sehr beeindruckt. Sie empfing ihn später in der Königsloge und überreichte ihm einen Goldpokal mit folgender Inschrift:

>Für Pietri Dorando. In Erinnerung an den Marathonlauf von Windsor nach London. Von Königin Alexandra.<

Der Ruhm des Pastetenbäckers von der Insel Capri breitete sich überall in der Welt aus. Dorando Pietri wurde gefeiert, als habe er ein halbes Dutzend Goldmedaillen gewonnen. Irgendwo in Amerika ließ sich ein in Rußland geborener, um die Jahrhundertwende mit seinen Eltern in die Staaten ausgewanderter Buchhalter davon inspirieren, ein Lied zu komponieren, das er >Dorando< betitelte.

Darin wird in italienischer Sprache Dorando Pietri eine Ode gesungen. Der Komponist hieß Isidor (Izzy) Baline. Damals.

Heute kennt ihn jedermann unter dem Namen Irving Berlin. Sein >White Christmas< gilt als eine Art zweite Nationalhymne, und seine Melodien in >Annie get your gun< traten ihren Siegeszug um die ganze Welt an.«

Dieser Bericht bedarf noch einiger Ergänzungen. Pietri stammte nicht von der Insel Capri, sondern aus Carpi in der Nähe von Modena. Zudem lag der Italiener noch nach 22 Meilen fast drei Minuten hinter dem Südafrikaner Charles Hefferon, der bald darauf einen Schwächeanfall erlitt und erst Pietri, dann auch Hayes vorbeilassen mußte.

Der 19jährige Olympiasieger Hayes, 1,67 m groß, 64 kg schwer, hatte schon 1907 als Jugendlicher den Yonkers Marathon- lauf gewonnen. Er war beruflich Angestellter eines großen Warenhauses in New York und trainierte oft auf dem Dach des Gebäudes.

Der Mann aber, dem viele den Gewinn der Goldmedaille zugetraut hatten, gab nach 17 Meilen das Rennen erschöpft auf: der für Kanada startende Indianer Tom Longboat Die Veranstalter von Profiwettkämpfen in den USA machten sich das Drama von London für ihre Zwecke zunutze. Sie organisierten eine mit großer Propaganda angekündigte Revanche.

Pietri schlug dabei Longboat und Hayes, aber Sieger dieser mit 10000 Dollar dotierten »Weltmeisterschaft« wurde der unbe- kannte Franzose Henri Saint-Yves.

 

Das Ergebnis von London 1908:

 

1. John Hayes (USA) –                    2:55:18,4
2. Charles Hefferon (Südafrika) – 2:56:06,0
3. Joseph Forshaw (USA) –           2:57:10,4
4. A.R.Welton (USA) –                   2:59:44,4
5. William Wood (Kanada) –           3:01:44,0
6. Frederick Simpson (Kanada) –  3:04:28,2

 

Die historische Olympia-Laufserie (X): Marathon der Frauen – Erst seit Los Angeles 1984 im Programm – Kathrin Doerre mit Bronze, einem vierten und fünften Platz – Horst Milde berichtet

 

Die Marathonstrecke und das Höhenprofil  bei den Olympischen Spielen LONDON 2012:

 

author: GRR

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