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30
06
2007

Vor fünf Jahren, auf dem Gipfel seiner sportlichen Laufbahn, gewann er genau hier die Europameisterschaft im 400-Meter-Lauf.

Der Lauf des Lebens – Ingo Schultz steht in München am Scheideweg: Hat er noch eine Perspektive? MICHAEL REINSCH in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)

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Ist Ingo Schultz noch ein Athlet mit Perspektive? Oder ist seine Perspektive der Ausstieg, vielmehr: der Einstieg in den Beruf? Die Frage stellt sich vor allem dem Läufer selbst, ausgerechnet bei der womöglich triumphalen Rückkehr an den Ort seines größten Triumphes. Ingo Schultz wird an diesem Sonntag in der 4 × 400-Meter-Staffel starten, dem letzten Wettbewerb des Europacups der Leichtathleten in München.

Vor fünf Jahren, auf dem Gipfel seiner sportlichen Laufbahn, gewann er genau hier die Europameisterschaft im 400-Meter-Lauf. Vielleicht entscheidet das Abschneiden von Schultz und seiner Staffel an diesem Sonntag kurz vor fünf am Nachmittag über Sieg oder Niederlage der gesamten deutschen Mannschaft. Das Team hat ihn zu seinem Kapitän gemacht. Vielleicht entscheidet der Lauf sogar ein bisschen mehr.

„Ich komme noch mal wieder“, sagt Schultz. „Wenn ich nicht den Anspruch hätte, Bestzeit zu laufen, hätte ich ein Motivationsproblem.“ Die Herausforderung besteht darin, dass der Ingo Schultz von heute sich mit dem von vor sechs Jahren messen muss. Seit er 2001 bei der WM in Edmonton überraschend zur Silbermedaille lief, steht seine Bestzeit bei 44,66 Sekunden. 2002 wurde er Europameister. Dann folgten lange Jahre von Krankheit und Verletzungen, von Hoffnungen und Enttäuschungen.

Nun scheint Ingo Schultz auf dem Sprung zurück in die Weltklasse. Die Hürde liegt bei 45,55 Sekunden. Das ist die Qualifikationsnorm für die Weltmeisterschaft in Osaka – mehr als eine halbe Sekunde unter seiner Bestzeit dieses Jahres, 46,13 Sekunden. Schultz will sie spätestens in vier Wochen, bei der deutschen Meisterschaft in Erfurt, unterbieten. Eine Woche darauf wird er 32 Jahre alt.

Mit einem Schnitt von 1,3 hat der Läufer auf der Hochschule der Bundeswehr sein Studium zum Ingenieur der Elektrotechnik abgeschlossen. Im Herbst scheidet er, inzwischen Hauptmann, beim Militär aus. Er weiß, dass er nun eigentlich, spät genug, in das Metier wechseln sollte, das ihn wohl die nächsten dreißig Jahre beschäftigen wird. „Sport ist nur eine Episode im Leben“, sagt Ingo Schultz.

Doch das ist wohl nur die vernünftige Betrachtungsweise. Was lockt, beschreibt Schultz so: „Ein Leben auf der Überholspur. Normalität kommt da nicht auf.“ Er weiß, wovon er spricht. Vor fünf Jahren, in seinem besten Jahr als Läufer, wurde Ingo Schultz im Olympiastadion von München Europameister. „Nach dem Aufwärmen bin ich rein ins Stadion. Es war überwältigend“, erinnert sich der Läufer. „Und dann vor 50 000 Zuschauern zu laufen – das war das Größte, was ich emotional erlebt habe in meiner Karriere.“

Er hat damals tiefe Eindrücke hinterlassen. In einer Zementplatte am Ufer des Olympia-Sees sind seine Handabdrücke neben denen des Gitarristen Carlos Santana verewigt. Eine Boulevardzeitung erinnerte ihn und ihre Leser daran, wie er noch am Abend des Gewinns der Goldmedaille mit seiner Freundin, der Schwimmerin Antje Buschschulte, Schluss machte. „Das mit Antje“, sagt er heute, „das war schon nicht okay.“ Heute, da er verheiratet ist und in Bergisch Gladbach bei Köln lebt, seit er nicht mehr Sprüche klopft wie den bei den Olympischen Spielen von Athen, dass er den Wettbewerb gewinnen könne – und dann im Halbfinale ausschied -, heute scheint Ingo Schultz weder seinen Kopf noch seinen Bauch entscheiden lassen zu wollen. Sondern seine Beine. „Wenn ich mich für den Einzelwettbewerb bei der WM in Osaka qualifiziere, habe ich die Perspektive Peking“, sagt er. „Wenn ich die Perspektive Peking habe, habe ich auch die Perspektive Berlin.“ Olympische Spiele und die Weltmeisterschaft in Deutschland – welche schöneren Ziele gibt es für einen Sportler? „Habe ich dann noch Zeit zu arbeiten?“, fragt Schultz.

Und andererseits: „Wenn ich die Einzelnorm nicht erfülle, will ich dann noch zwei Jahre trainieren?“ Wird das das Resümee einer so eindrucksvoll begonnenen Karriere: zu spät angefangen, zu früh aufgehört? „Als ich mit 26 aus dem Nichts Vizeweltmeister wurde, das war ein ganz schöner Flash“, sagt Schultz. „Wenn einem das mit neunzehn passiert!“
Er ist froh, dass es so gekommen ist.
„Je ne regrette rien“, ich bereue nichts.

Michael Reinsch
Frankfurter Allgemeine Zeitung
25.06.2007

author: GRR

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