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09
06
2015

Der (aufhaltbare) Abstieg des Rock´n´Roll San Diego Marathon - Helmut Winter bilanziert ©Rock´n´Roll San Diego Marathon

Der (aufhaltbare) Abstieg des Rock´n´Roll San Diego Marathon – Helmut Winter bilanziert

By GRR 0

Auch großartige Bestleistungen im Bereich der Altersklassen können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass sich der legendäre San Diego Rock´n´Roll Marathon im freien Fall zur leistungssportlichen Bedeutungslosigkeit befindet.

Online-Petition "Stoppt die DLV-Laufmaut"

Die Veranstaltung, die im Jahr 1998 von Tim Murphymit der Idee Laufsport und Musik zu kombinieren, ins Leben gerufen wurde, war bereits bei der ersten Auflage ein Riesenerfolg. 20000 Teilnehmer fanden sich damals an der Startlinie ein.

Seit dieser Zeit beflügelte die (Rock-)Musik die Teilnehmer auf der Strecke und nach dem Lauf gab es zum Abschluss Konzerte namhafter Stars aus der einschlägigen Musikszene. Die Idee machte Schule und weitete sich schnell auf Läufe in anderen Städten der USA aus.

Aber neben dem Spaß und der Musik hat der Marathonlauf auch eine leistungssportliche
Komponente, die von Anfang an in San Diego eine große Rolle spielte.

Der legendäre Mike Long und sein “Elite Racing” zeichneten für dieses Segment in San Diego verantwortlich.

Durch seine vielfältigen Kontakte und engen Freundschaften zu vielen Athleten gelang es
Long von Anfang an, Topathleten für diese Veranstaltung zu gewinnen. Bereits bei der
zweiten Auflage erzielte der KenianerPhilip Taurusmit 2:08:33 eine zu jener Zeit
internationale Topleistung.

Dies schien damals der Startpunkt einer Entwicklung zu werden, neben dem sehr erfolgreichen Konzept des Breitensports den San Diego Marathon in der globalen Laufszene zu etablieren.
 
Doch durch diverse Entwicklungen kam es dann – allerdings zunächst noch mit erheblicher Verzögerung – ganz anders. 2007 verstarb Long unerwartet und die bereits auf weitere Standorte ausgedehnte Serie von Rock´n´Roll Marathons wurde von der Competitor Group übernommen, die das Engagement in den Lauf- und Ausdauersport vornehmlich mit den Augen eines Investors betrieb.

Das führte zwar zu einer sehr erfolgreichen, fast inflationären Übernahme diverser Laufevents in den USA und später auch in Europa – man nähert sich  immer mehr der Millionengrenze von Teilnehmern pro Jahr in den Competitor Events – ,  führte aber auch zu einer Revision der Konzepte im sportlichen Bereich.

Als man vor zwei Jahren zu dem Schluss kam, dass die Eliteläufer vor allem von der
kommerziellen Seite einen erheblicher Kostenfaktor darstellen, wurde dieses Segment rigoros  zusammen gestrichen, um es den engagierten Breitensportlern zu überlassen. Der Sturm der  Entrüstung, der nach diesen Maßnahmen Competitor entgegenblies, war so gewaltig, dass  man schnell zurückruderte.

Allein der Verlust an Reputation in den Medien schien für die  weitgehend finanziell orientierten Veranstalter Grund genug, zunächst die Entscheidungen in  aller Hast zu revidieren. Dazu gehörte auch die erneute Zusammenarbeit mit dem Nachfolger  Longs, Athletenkoordinator Mike Turnbull,der Competitor schon verlassen hatte.

Wie sich die Dinge aktuell bei Competitor trotzdem entwickeln, kann man nur mit Sorge
verfolgen. Die Ereignisse am vorletzten Sonntag in San Diego stützen (leider) eine solche
pessimistische Einschätzung. Denn die Aufmerksamkeit der Medien wird nun weniger durch
absolute sportliche Topleistungen als mehr durch außergewöhnliche Geschehnisse im
Lifestyle-Segment sichergestellt.

Und da kam den Veranstaltern die 92jährige (und 67 Tage alte) Herriette Thompson aus Charlotte (VA) gerade recht, die trotz diverser Krebserkrankungen als älteste Frau in der Geschichte einen Marathon in der respektablenZeit von 7:24:36 (7:22:05 netto) absolvierte.

16mal war Herriette in San Diego bereits dabei, im letzten “schraubte” sie den Weltrekord der W90 auf 7:07 Stunden. Diesmal war sie für die Veranstalter von so hoher Bedeutung, dass sie  sogar in der Business Class nach Kalifornien eingeflogen und in den Tagen vor dem Lauf  medial sehr wirksam präsentiert wurde.

Zur gleichen Zeit wird der diesjährige Sieger des San Diego Marathons vermutlich seine
Unterlagen von der Messe abgeholt haben. Kaum jemand wird ihn registriert haben, und
bezahlt haben wird er seinen Start wohl selbst.

Der leistungssportliche Fokus in San Diego lag in den letzten Jahren auf dem Halbmarathon.
2013 wurde dort Bernard Koech (KEN) mit 58:41 der drittschnellste Läufer aller Zeiten, das
zu große Gefälle im Schlusspart verhinderte jedoch die Aufnahme dieser Leistung in die
Bestenlisten.

In diesem Jahr beschränkte man sich auf die US-Meisterschaften im Halbmarathon Master-Bereich. Meb Keflezighi als Topstar wurde in einem eigenartigen Rennen vom vermeintlichen Tempomacher Jordan Chipangame (ZIM) wieder eingeholt, der dann in 62:27 knapp gewann.

Die Zeit von Keflezighi mit 62:29 kann als neuer US Masterrekord wegen des Streckenprofils keine Anerkennung finden. Die Rekordausbeute  musste sich so auf die Masters-Bestmarken für 15 km (44:23) und 10 Meilen (16093 m, 47:39) beschränken.

Dagegen war das Leistungsniveau im Marathon gemessen an den Ansprüchen früherer Jahre
zu Zeiten eines Mike Long nahezu erschreckend. Was in Vorberichten mit einem “marathon
with less star power” gemeint war, konnte man dann am Zieleinlauf erleben. Nachdem bereits  im letzten Jahr mit einer Siegerzeit von 2:23:50 das Niveau stark absackte, gab es diesmal  einen dramatischen Fall in fast breitensportliche Dimensionen.

Igor Campus aus dem kalifornischen Chula Vista gewann in 2:37:05, die beste Frau folgte bereits gut 4 Minuten später. Igor gab sicher sein Bestes und gehört nicht zur Gattung der Eliteläufer, aber eine Siegerzeit fast eine halbe Stunde hinter dem Streckenrekord ist für einen Marathon dieser Güte kaum nachzuvollziehen.

Verständlich wird dieses Resultat – und das ist die eigentliche Relevanz dieser Leistung -,
wenn man erfahren muss, wie der Veranstalterdurch gezielte Reduzierung der Preisgelder
und den Verzicht auf die Einladung adäquater Elitefelder dies sehr bewusst steuert. Damit
setzt einer der größten Player in der globalen “Lauf-Industrie” Zeichen gegen den
Hochleistungssport im Straßenlauf.

Man kann das auch noch treffender ausdrücken: In der Gewinn-Maximierung von Straßenlauf-Veranstaltungen sind Eliteläufer ein unnötiger Kostenfaktor. Die Competitor Group scheint bis auf wenige Ausnahmen, diesen Weg konsequent zu beschreiten.

Dabei geht man davon aus, dass diese Entwicklungen den “zahlenden Massen” weitgehend gleichgültig sind. In der Tat kann man sich fragen, was es bringt, wenn eine Horde ostafrikanischer Topathleten meilenweit vor dem Rest des Feldes vorwegrennen und dafür üppige Preisgelder kassieren.

In San Diego hat man offensichtlich diese Frage aus kaufmännischer Sicht beantwortet. Ob
sich dies am Ende auch “auszahlt”, wird sich zeigen müssen. Die Sponsoren halten momentan  der Veranstaltung noch die Treue, das lokale Fernsehen ist aber bereits aus einer
ausführlichen Berichterstattung ausgestiegen.

Man wird aufmerksam verfolgen müssen, inwieweit diese Entwicklungen Schule machen und auch auf weitere Veranstaltungen übergreifen. Bei vielen von Competitor zu verantwortenden  Rennen wie Tempe/Arizona oder Seattle sind ähnliche Tendenzen unverkennbar. Man kann  das auch mit Begriffen aus der Arbeitswelt formulieren: Die “Arbeitsplätze” für  Hochleistung-Athleten aus vornehmlich ostafrikanischen Gefilden werden bei Competitor konsequent abgebaut.

Was in San Diego mit großem Engagement und Können Ende des letzten Millenniums so erfolgreich gestartet wurde, findet nach18 Ausgaben ein jähes Ende. Man erfreut  sich an rüstigen Senioren/innen und nimmt bewusst in Kauf, dass es bei der ganzen  Aktion einen großen Verlierer gibt:

Den (Leistungs-)Sport.

Der globalen Marathonszene stehen diesbezüglich ereignisreiche Jahre ins Haus.

Die Siegerzeiten beim San Diego Marathon inden letzten Jahren veranschaulichen den zunehmenden leistungssportlichen Niedergang in den letzten drei Jahren:

2008 Simon Wangi        KEN   2:10:07
2009 Khalid Boumlili      MAR  2:11:16
2010 Richard Limo     KEN   2:09:56
2011 Terfa Negeri         ETH   2:11:18
2012 Nixon Machichim  KEN   2:10:03
2013 Simon Njoroge     KEN   2:15:00
2014 Ben Bruce            USA   2:23:50
2015  Igor Campus     USA  2:37:05

Helmut Winter

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