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01
2016

Liliya Shobukhova wurde wegen Dopings gesperrt und ihre Siege wurden ihr aberkannt. ©Victah Sailer

Der Abgrund des Eisbergs – MICHAEL GERNANDT in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

München – Die beschauliche Gemeinde Unterschleißheim kann sich darauf einstellen, am Donnerstag selbst in entlegenen Ecken des Globus Erwähnung zu finden.

Denn internationale Medien, die es dann in den Landkreis München verschlägt, glauben Fakten von bisher nicht gekannter Brisanz geliefert zu bekommen, Fakten aus einer zerrütteten Welt des Sports. Als Lieferant der News tritt in der Provinz die in Montreal (Kanada) ansässige Weltantidoping-Agentur (Wada) auf, genauer: die von Dick Pound, Agentur-Präsident von 1999-2007 und IOC-Mitglied seit 1978, geleitete unabhängige Wada-Kommission zur Untersuchung des Dopingskandals in Russland.

Außer Pound ermittelten der Sportrechtsexperte Richard McLaren aus Kanada sowie Günter Young, Kriminaldirektor im LKA Bayern.
 
 Bereits der erste öffentliche Auftritt der Gruppe im November 2015 war einher gegangen mit einem weltweit vernehmbaren Paukenschlag. Damals legte Dick Pound in Genf den ersten Teil des Berichts über die vom russischen Sport erheblich behinderten Recherchen vor. Er bestätigte die im Dezember 2014 in der ARD gesendete Doku über staatlich gefördertes Doping in der russischen Leichtathletik und dessen Vertuschung.

In der Folge wurde – als erster Nationalverband überhaupt – die russische Organisation Araf von der IAAF unbefristet suspendiert. (Die US-Nachrichtenagentur AP meldete am Dienstag unter Berufung auf interne Dokumente der IAAF, der Weltverband habe schon 2009 mit den Russen zusammengearbeitet, um das Ausmaß des Blutdopings durch russische Athleten vor den Spielen 2012 zu vertuschen.)
 
Anfang Januar 2016 legte zudem die Ethikkommission des Leichtathletik-Weltverbands (IAAF) unter dem britischen Kronanwalt Michael Bellof die Ergebnisse ihrer Untersuchung zu Korruption im Leichtathletik-Weltverband IAAF auf den Tisch. Sie gipfelten in lebenslangen Sperren wegen Erpressung im – ebenfalls von der ARD enthüllten – Fall der gedopten Marathonläuferin Lilia Schobukowa (konnte sich gegen € 450000 reinwaschen) für Valentin Balachnitschew, Araf-Chef und Ex-Schatzmeister der Iaaf, Alexei Melnikow, Araf-Cheftrainer, IAAF-Marketing-Mitarbeiter Papa Massata Diack, Sohn des früheren Iaaf-Präsidenten Lamine Diack (1999-2015); Gabriel Dolle, der Antidopingchef des Weltverbands, erhielt fünf Jahre.

Die Ethiker erklärten, die Vier hätten „unehrlich und korrupt gehandelt und dem Sport einen bisher nicht da gewesenen Schaden zugefügt“.
 
 Pounds Schlusswort zu Report eins lautete: „Das war nur die Spitze des Eisbergs“. Der angeblich noch aufregendere Report zwei soll zeigen, wie es unter der Oberfläche aussieht und „weitere Details liefern zu Korruption und Bestechungspraktiken auf dem höchsten Niveau der internationalen Leichtathletik“ (Wada).

Die Kommission zweifelt am neuen IAAF-Chef. Sebastian Coe erkenne nicht den Ernst der Lage

Bekannt für drastisch-klare Worte und ungeschminkte Meinungen, verhieß Pound der Londoner Times im Hinblick auf den Nachmittag in Unterschleißheim: „Sie werden sehen, wie es einige Drecksäcke trieben“. Er wiederholte ein Statement seines Partners Richard McLaren vom November: „Der Leichtathletikskandal ist noch schlimmer als es die Zustände in der Fifa sind“. Die Affäre habe vor allem „unmittelbare Auswirkungen auf die Ergebnisse im Stadion: Es geht um die Integrität des Wettbewerbs“.
 
 Wie besorgt die Iaaf derzeit um ihre eigene (angeschlagene) Unbescholtenheit ist und wie groß die Furcht vor einem weiteren Donnerwetter der Pound-Gruppe, bezeugen eine Äußerung eines Vorstandsmitglieds und eine am Montag an Pound gesendete erste offizielle Iaaf-Reaktion auf Report Nr. eins.

Die Niederländerin Sylvia Barlag fühlt sich „traurig und wütend, als würden wir darauf warten, geschlachtet zu werden“. Im 30-Seiten-Papier an die Wada heißt es: Es gibt keine „systematische Korruption innerhalb der IAAF, kein Dopingfall wurde durch den Verband vertuscht“; allerdings seien vier von acht Fälle „in unerklärlicher und höchst verdächtiger Weise“ verschleppt worden.
 
 Der Report von Pound („eifrigster Kreuzritter des Sports im Krieg gegen Drogen“/Daily Telegraph) wird am Donnerstag vermutlich Stellung beziehen zum  Doping außerhalb Russlands, in der Türkei, in Marokko und Kenia, ferner zu einer im vorigen Jahr aufgetauchten IAAF-Datei mit 12.000 verdächtigen Blutproben aus der Zeit 2001-2012 und der Verbandsreaktion darauf.
 

 Die Wada-Kommission scheint nicht überzeugt zu sein, dass die Iaaf und ihr neuer Chef Sebastian Coe den Ernst der Lage für ihren Sport erkannt haben. Wird der Lord also noch einmal persönlich angegriffen wie von Pound vergangene Woche? Er sei nicht unschuldig am desaströsen Zustand der IAAF, der Pound „eine Verfassung aus dem 19. für eine Organisation des 21. Jahrhunderts“ attestierte.

Coe war bis August 2015 IAAF-Vize unter Lamine Diack, den Frankreichs Justiz wegen des Verdachts der Korruption und Bestechung im Visier hat. Es wäre für ihn, Coe, „lange Zeit ein Leichtes gewesen, eine Governance-Überprüfung anzuordnen – wenn er es denn gewollt hätte“.

Im Männermagazin GQ erläuterte der Brite seine frühere IAAF-Position so: „Ich war nicht Diacks Stellvertreter, nur einer von fünf Vizes, vor mir waren zwei Senior-Vizepräsidenten. Praktisch habe ich ja die meiste Zeit für die London Games gearbeitet“. Coe war Cheforganisator der Spiele 2012. Erst heute will er erkannt haben, dass in der Iaaf „zuviel Macht in der Hand einer Person war“. Oder gar in der Hand einer Familie?
 
 Die Zeitung L`Equipe (Paris) berichtete von einer missglückten erpresserischen Dopingvertuschung im Fall der türkischen 1500-m-Olympiasiegerin Asli Alptekin. Das Blatt schrieb, noch ein Sohn von Diack, Khalil, soll bei dem Bestechungsversuch die Finger im Spiel gehabt haben. 

Berichtet das Pound-Team auch über diese Manipulation?        

MICHAEL GERNANDT in der Süddeutschen Zeitung, Mittwoch, dem 13. Januar 2016 

 

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