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09
11
2023

Blick vom Bürgenstock auf den Vierwaldstättersee, Horw und Luzern - Foto: Erdmute Nieke

„Den Gaanzn?!“ – Luzern-Marathon 2023 – Impressionen vom SwissCityMarathon Lucerne am letzten Oktoberwochenende 2023 von Dr. Erdmute Nieke

By GRR 0

Als ich Montagmorgen nach dem Marathon beim Hotelmanager vom Hotel „Drei Könige“ auschecke und mich für das extra frühe Sonntagsfrühstück bedanke, kommen sie wieder diese zwei Worte, die ich so oft höre:

„Den Gaanzn?! – Sie sind den Ganzen gelaufen?!“

Beim Einchecken am Freitag hatte ich nachgefragt, ab wann es sonntags Frühstück gibt. Denn die Schiffe über den Vierwaldstättersee zum Start standen bereits ab 7 Uhr bereit. Als ich von einer ersten Stadterkundung zurück komme, hängt eine handgeschriebene Postkarte an meiner Zimmertür mit der Info, dass das Frühstücksbuffet am Sonntag bereits ab 5.30 Uhr öffnet.

In dieser Art liefen meine vier Schweizer Tage: Begegnungen mit freundlichen und offenen Menschen, perfekte Organisation und immer diese Freude über eine „echte“ Marathonläuferin.

Die Mehrheit der Läufer:innen gönnt sich „nur“ die Hälfte. Der Luzern-Marathon 2023 in Zahlen: 10 681 Finisher:innen, davon 1455 Marathonis, 6346 Halbmarathonis und 2390 Läufer:innen auf der 10-km-Distanz, dazu 1200 Volunteers und 60 000 Menschen an der Strecke.

Es beginnt schon bei der Fahrkartenkontrolle im Zug zwischen Zürich und Luzern. Der Schaffner gibt mir mein Freifahrtticket mit einem einzigen Wort der Anerkennung zurück: „Marathon!!!“ Im Startgeld inklusive war freie An- und Abreise mit der Eisenbahn durch die gesamte Schweiz. So geht Nachhaltigkeit in einem Land ohne Autohersteller!

Marathonmesse und Pastaparty finden Freitag und Samstag im edlen Hotel Schweizerhof statt. Am feinen Ufer-Boulevard empfängt ein Haus aus dem letzten Jahrhundert die Läufer:innen mit roten Teppichen, Kronleuchtern und einem Pianisten am schwarzen Flügel beim Rösti (oder Pasta) Essen. Freundliche Helfer:innen, junge und ältere, alle sehr sprachbegabt, geben die Startunterlagen aus, ganz ohne Anstehen. Die Marathonis haben rote Startnummern, die Halben blaue und die Zehner grüne.

Pasta- und Röstiessen unter dem Kronleuchter im Schwizrehof – Foto: Erdmute Nieke

Den Samstag verbringe ich auf der anderen Seite des Vierwaldstättersee mit einer ehemaligen Kollegin und guten Freundin, die zur Zeit in der Schweiz lebt. Wir genießen das Schweizer Leben auf dem Land. Beim Spazieren im Sonnenschein erleben wir feinste Kuhglockenkonzerte. Wirklich alle Kühe sind mit Glocken ausgestattet und grasen an den steilen Wiesenhängen bimmelnd vor sich hin. Wir gehen zum Bürgerstock, einem Bergrücken hoch über dem See. Beim Blick auf Luzern und die vorgelagerte Halbinsel Horw ahne ich bereits, was mir am Sonntag bevor steht. Die Schweiz hat Berge!

Wir genießen Kuchen und Alpenausblicke. Zum Nachmittagskaffee kommt ein Nachbar vorbei, der gerade das Gras für seine Kühe gemäht hat. Als er hört, dass ich für den Marathon extra aus Berlin angereist bin, ist sein Kommentar: „Heute wollen alle nur noch rennen und nicht mehr arbeiten.“ Er erzählt uns, dass er für seine Kühe jeden Tag 60 000 Schritte geht!
Wir erleben noch ein wunderschönes Bergritual: einen Almabtrieb durchs Dorf. Festlich geschmückte Kühe – mit riesengroßen Glocken um den Hals – werden die Dorfstraße entlang getrieben. Diese Kuhglocken werde ich auch am Sonntag noch oft erleben.

Vollgetankt mit Sonne, wunderbaren Landschaftsbildern und gutem Essen fahre ich am Abend zurück nach Luzern.

Sonntag Morgen treffe ich beim Extra-Früh-Frühstück auf zwei Frauen aus Lausanne. Sie wechseln sofort ins Deutsche und wir freuen uns auf den Marathon. Sie berichten, dass sie am Samstag mit dem kostenlosen E-City-Bus die Strecke abgefahren sind und dass uns drei starke Anstiege erwarten – und das zweimal. Denn wir Marathonis laufen die Strecke zweimal.

Um 7 Uhr mache ich mich auf zum Schiff, das am Bahnhof ablegt. Auf dem Weg kreuze ich die Laufstrecke an der breiten Reuss-Brücke, die Absperrgitter werden gerade erst mit einem großen Truck angeliefert und aufgebaut. Außerdem entdecke ich große gelb-grüne Dräksak, diese werden mich den ganzen Tag begleiten und stehen zum Zielwurftraining für Getränkebecher an den Versorgungsständen. Die Schweizer sind wirklich wahre Organisationstalente.

Drei Besatzungsmitglieder begrüßen uns  zur kostenlosen Überfahrt zum Start – Foto: Erdmute Nieke

Der nächste Wow-Moment: Am Schiffssteg werden wir von drei Besatzungsmitgliedern begrüßt zur kostenlosen Überfahrt zum Start. Mit dem Schiff zum Start! Das gab es nicht mal zum Venedig-Marathon! Dazu der Sonnenaufgang über dem See! Geht noch mehr? Eigentlich nicht!

Auf der anderen Seite des Sees angelangt, werden wir in die Garderoben geleitet. Für uns Frauen – die Lausannerinnen aus dem Hotel sind wieder an meiner Seite – steht das Sportcenter Würzbach mit unzähligen Helferinnen bereit. Eine große Sporthalle ist mit unzähligen Bierzeltbänken ausgestattet. Da lassen wir einfach unsere Wechselsachen liegen. Die Wertsachen werden von Helferinnen liebevoll in Papierumschläge gepackt, mit unserer Startnummer versehen und unter Aufsicht verwahrt. Hier ist an alles gedacht. Die perfekte Organisation!

Dann schlendere ich zum Start. In der Dixischlange treffe ich auf einen ersten Soldaten. Er ist an einer Startnummer mit einem Flecktarn-Muster zu erkennen. Er kommt aus dem Iran! In den Wettkampf ist die Militärweltmeisterschaft im Halbmarathon integriert. 240 Läufer:innen aus 45 Nationen sind gemeldet. Russland ist gesperrt. Die Soldat:innen starten 20 Minuten vor mir. Seit 1948 gibt es einen Internationalen Militärsportverband, sein Motto „frienship through sport“. Was für ein Motto in diesen Zeiten! Ob das gemeinsame Laufen die Welt friedlicher machen kann? An diesem sonnigen Morgen am Seeufer in Luzern wirkt es irgendwie so!

Wie beim BERLIN-MARATHON gibt es Startblöcke, ich starte im letzten Block H um 8.45 Uhr. Wieder überall diese freundlichen und offenen Menschen, die sich freuen, was wir hier so machen. Ich stehe neben einem 19-jährigen Luzerner, der zum ersten Mal startet und seine ganze Familie mitgebracht hat und alle sind so herrlich aufgeregt.
Eine junge Frau aus St. Gallen spricht mich auf mein Berlin-T-Shirt an und will das, was wohl alle Marathonis mal wollen: in Berlin starten. Die Sonne scheint und Stimmung ist einfach richtig gut. Im Drei-Minuten-Abstand wird für jeden Startblock pünktlichst runter gezählt und schon läuft es los!

Ein Dräksak – Foto: Erdmute Nieke

Es kommen 42 Kilometer Sonne, blauer Himmel, Berge zum hoch und runter Laufen, Musik, anfeuernde und helfende Menschen, Blicke auf den See mit den ganz hohen Bergen, die schon erste Schneehauben haben und Wohngebiete verschiedenster Art, ländlich und städtisch, historisch und modern. Eine wirklich abwechslungsreiche Strecke!

Die erste Runde wird für mich als langsame Läuferin relativ leer. Die zweite Runde wird aber ganz anders. Die Halbmarathonis starten zwischen 10 Uhr und 11.50 Uhr. Wenn sie mich überholen, bekomme ich so oft nette und ermutigende Worte.

Frenetisch wird es am Start der 10-km-Läufer:innen. Sie warten gerade alle auf der anderen Straßenseite in ihren Startblöcken auf den 13 Uhr Start und entdecken meine rote Nummer zwischen den vielen blauen Halbmarathoni-Nummern. Aus 2000 Kehlen wurde ich noch nie angefeuert! Wow! Bloß nicht heulen, sondern weiter laufen!

Die Zuschauer mit den Kuhglocken … überall … – Foto: Erdmute Nieke

Die Musik an der Strecke ist mit über 30 Gruppen einfach genial. Mich rühren die vielen Alphornbläser. Am Ende des längsten Anstieges in Horw stehen acht Männer in der Sonne und spielen das schönste Konzert. Das lenkt mich mich gut ab und ich freue mich, der Musik immer näher zu kommen und vergesse dabei den mühsamen Anstieg.

Viele große Blaskapellen, zum Teil in phantasievollen Kostümen (die Luzerner Fastnacht lässt grüßen) in allen Altersgruppen sind immer lange zu hören. Viele Menschen stehen auch mit Kuhglocken in allen Größen in der Hand und geben den Lauftakt vor.
An einer sehr ländlichen Stelle in Horw sitzen drei Frauen mit Akkordeon in Tracht und werden von einem Kontrabass begleitet. Dazu läuten echte Kühe im Hintergrund. Was für eine schöne Stimmung!

Auf der feinen Uferpromenade in Luzern ist – nein – geht dann meine absolute Lieblingsgruppe: zehn Männer (Trychlergruppe Meggen) gehen in Formation parallel zur Laufstrecke mit so großen Kuhglocken, deren Klang so laut ist, dass ich ihn körperlich spüre. Beim Schreiben des Textes recherchiere ich nach dieser Gruppe und lese, dass sie gemeinsam in ihren weißen Hemden, orangen Halstüchern und schwarzen Trycheln ein altes Brauchtum pflegen. Eine Schelle (!) oder Trychel wiegt rund sieben Kilogramm und sie wird mit der Hand getragen und beim Gehen angeschlagen. In der Zentralschweiz wird mit diesen Schellen-Umzügen der Nikolaus am 6. Dezember angekündigt. Ob der Nikolaus auch schneller wird, wie ich es geworden bin beim Klang diese zehn Trycheln?

Eine weitere Spezialität der Luzerner Laufstrecke ist es durch besondere Orte und Gebäude einfach hindurch zu laufen.

Die Halbinsel Horw bietet einen Blick über den See auf den Pilatus. Gemeint ist nicht der Stadthalter von Jerusalem zur Zeit Jesu, sondern ein stattliches Bergmassiv mit 2128 Metern Höhe. Es geht auch an einigen Weinbergen vorbei. Dazwischen wachsen Palmen und Pinien. Überhaupt blühen überall noch bunte Sommerblumen. Viele Anwohner:innen sitzen und stehen an der Laufstrecke, frühstücken in der Sonne und feuern uns an, oft auch mit ein paar schönen Kuhglocken!

Dann laufen wir durch das große Fußballstadion von Luzern. Beim meiner zweiten Runde darf ich mit dem Maskottchen der Luzerener Fußballer Hand in Hand am Spielfeldrand lang laufen und ich freue mich auf die Cola, die es nur hier gibt. Als langsame Marathoni werde ich mit drei Bechern von den fröhlichen Helfer:innen aufgetankt! Wieder: Freundliche Menschen und perfekte Organisation!

Kurz vor dem Bahnhof Luzern laufen wir durch ein großes Bürogebäude und wir dürfen durch die große, moderne Luzerner Stadthalle laufen, hinten rein, vorn raus – über einen roten Teppich!

Die berühmte Holzbrücke in Luzern – Foto: Erdmute Nieke

Die Krönung am Ende jeder Runde ist natürlich der Lauf durch die Altstadt von Luzern. Mein Blick fällt auf die beiden berühmten Holzbrücken über die Reuss mit dem Wasserturm der alten Wehranlage, der auch Gefängnis war. Über Kopfsteinpflaster geht es durch die engen Gassen mit den schönen mittelalterlichen Häusern!

Das Ziel des Marathons befindet sich im Verkehrshaus. Das Verkehrshaus ist ein riesiges Verkehrsmuseum. Hier laufen wir durch das Museums-Foyer in den großen Hof des Museums. Zwischen Eisenbahnen und Flugzeugen geht die Laufstrecke am Ende auch durch ein Stück Tunnelröhre und auf einem gelb-roten Teppich zum Zielbogen! Gemeinsam mit vielen 10-km-Läufer:innen laufe ich in dieses besondere Ziel! Geschafft!!!! Ich bekomme eine große goldene Medaille um den Hals gehangen!

 

Dampferfahrt jetzt mit Luzern-Medaille – Foto: Erdmute Nieke

Als ich in der Garderobe mein Handy wieder abhole, habe ich vom Veranstalter schon eine SMS mit Glückwünschen und meiner Zielzeit. Zwei Tage später erhalte ich eine Mail mit einem kostenlosen Foto, das ich mir aus den offiziellen Marathonfotos aussuchen darf. Außerdem enthält diese Mail einen Link zu einem persönlichen, perfekt gestalteten 59-Sekunden-Video-Clip mit Musik. Zu sehen ist eine animierte Streckenführung, meine Zwischen- und Zielzeit und mein Lauf durch die Stadthalle sowie mein Zieleinlauf. Eine wunderschöne Erinnerung an meine 42,195 Kilometer durch Luzern und Horw.

Nach dem Umziehen lasse ich mir im Hof des Verkehrshauses meine goldene Medaille für fünf Franken gravieren und stelle mich nach dem echten Zielbier an. Langsam schlendere ich mit meinem Bier – was für eine Wirkung nach 42 sonnigen Kilometern in den Beinen – zur Anlegestelle des Schiffes zurück in mein Hotel über den See.

Am Abend gönne ich mir in der Altstadt ein gutes Schweizer Käsefondue. „Den Gaanzn?!“ fragt die Kellnerin, als sie die leere Schüssel abholt, meinen Hunger bewundert und ich ihr den Grund dafür erkläre.

Was bleibt? Beim Swiss City Marathon Lucerne stimmt einfach alles! Freundliche und herzliche Menschen sorgen mit einer perfekten Organisation des Laufes für ein wunderbares Wochenende, bei dem das Marathon Laufen trotz aller Anstrengung große Freude macht. Macht weiter so, liebe Luzerner:innen! Und für alle, die Luzern noch nicht kennen: Probiert es aus und lauft unbedingt „den Gaanzn“!

Dr. Erdmute Nieke
www.lauffreude.berlin  http://www.lauffreude.berlin

 

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