Das Aufwachsen mit Sport „Drüben und Drüben“ vor dem Mauerfall: Jochen Schmidt & David Wagner – Die Buchbesprechung von Prof. Detlef Kuhlmann
25 Jahre Fall der Berliner Mauer – der 9. November 1989 hat das Leben der Menschen „Drüben und Drüben“ verändert. Das gilt auch und nicht zuletzt für den Sport. Darüber sind inzwischen zahlreiche Bücher, aber sicher noch längst nicht alle geschrieben.
Aus Anlass des 25. Jahrestages des Zusammenwachsen der Menschen in beiden deutscher Staaten ist jetzt ein Buch dazu gekommen, das oberflächlich gar nicht vom Sport erzählt, sondern an zwei deutsche Kindheiten erinnert, in denen das Aufwachsen vor dem Fall der Mauer „Drüben und Drüben“ geschildert wird:
Wie verliefen eigentlich Kindheiten hier und dort, was war dabei möglicherweise so anders in der „DDR“ bzw. in der „BRD“?
Wer sich auf die beiden kurzweilig geschriebenen Kindheitsberichte einlässt, wird sich dabei auch die Frage stellen, ob denn in den Texten etwas über das Aufwachsen mit Bewegung, Spiel und Sport im Alltag der beiden Kinder zu finden ist – gibt es überhaupt Erinnerungen an eine bewegte Kindheit „Drü-ben und Drüben“?
Die Antwort ist einfach und lautet: natürlich!
Dazu muss man wissen, dass sich hier zwei junge Männer als Schreibprofis erinnern: der eine vom Jahrgang 1970 ist geboren in Andernach am Rhein im Westen und dort in einem Einfamilienhaus aufgewachsen, der andere vom Jahrgang 1970 ist in Ost-Berlin zur Welt gekommen und dort in einem Neubaugebiet groß geworden.
Beide eint heute ihre berufliche Profession: Sie sind „berühmte“ Schriftsteller ihrer Zeit: „Müller haut uns raus“ und „Schneckenmühle“ sind die bekanntesten Romane von Jochen Schmidt (drüben im Osten); „Meine nachtblaue Hose“ und „Vier Äpfel“ die von David Wagner (drüben im Westen).
Das Buch ist ein Wendebuch. Das kann man wörtlich verstehen: Wer den einen Teil von „Drüben“ fertig gelesen hat, muss dass Buch einmal wenden und kann dann mit dem zweiten Teil von „Drüben“ beginnen.
Inhaltlich haben beide Teile aber etwas Wesentliches gemeinsam: Sie bestehen beide aus 13 Kapiteln mit den gleichen Überschriften (besser: locations): Kinderzimmer,
Wohnzimmer, Küche, Badezimmer, Garten, Wege, Schule, Spielplätze, Bei anderen, Im Auto, Ferien, Niemannsland und der 9. November 1989.
Allein bei Betrachtung dieser Überschriften kann man vermuten, dass und wo im Einzelnen Spuren über eine bewegte Kindheit zu finden sind. Man wird so oder so fündig!
Wenigstens ein paar „Highlights“ seien hier im Stenogrammstil kurz präsentiert: In der Fünf-Minuten-Pause von David ist Rundlauf-Tischtennis im Klassenzimmer am Lehrerpult angesagt.
David redet lieber über Fußball, als dass er gut spielt. Dafür war er ein paar Jahre im Schwimmverein, deswegen mochte er auch den Schwimmunterricht in der Schule. Mit Ursula geht er erst joggen, danach zu ihr, Tee trinken und Platten hören etc. Jochen bevorzugt die Fußballwiese vor dem Plattenbau. Die Bäume dienen als Pfosten zum Bolzen oder als Turngerät: „Fing einer zu spielen an, waren auch nach kurzer Zeit zwei Mannschaften zusammen, weil immer mehr dazu stießen“.
Familie Bogdan wohnte schräg unten im Haus von Jochen. Frau Bogdan ar-beitete beim NOK-Präsidenten der DDR und durfte mit zu den Olympischen Spielen fahren. Jochen bekommt dann ein Plakat aus „Lehk Plehßid“ und Autogramme aller Olympioniken der DDR. Familie Wagner ist zum Skifahren in der Schweiz. Dort lernen sie jemanden kennen, der sagt, er sei aus der DDR … aus der DDR und zum Skifahren in der Schweiz, das kann nur eine Bonzen- oder Diplomatenfamilie sein, vermutet David.
Später machen Wagners an der Adria Sommerurlaub, wo gerade die Europameisterschaften im Gewichtheben stattfinden; Vater Wagner stellt einem Mann im hellblauen DDR-Trainingsanzug Fragen zu seiner Sportart, also zum Reißen und Stoßen. Er wollte unbedingt mit ihm ins Gespräch kommen. Der Sport machts möglich.
Bleibt am Ende nur noch eine wichtige Frage: Wie sah denn die bewegte Kindheit von David und Jochen am besagten 9. November 1989 aus?
Die Antwort in beiden Texten ist gleich: Dieser Tag war „Sport frei“! Ein allgemeines Fazit lässt sich daraus auch so ziehen: Bewegung, Sport und Sport können die Kindheit „drüben“ bereichern, aber der Sport „drüben“ ist nicht alles im Leben.
Und das wiederum kann man am besten als Kind „überall“ lernen – und jetzt im Wendebuch ganz gut nachlesen.
Jochen Schmidt & David Wagner: Drüben und Drüben. Zwei deutsche Kindheiten. Reinbek: Rowohlt 2014. 336 Seiten; 19,95 Euro.
Prof. Detlef Kuhlmann