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02
07
2007

Nur die Kubanerin Osleidys Menéndez hat jemals weiter geworfen; sie hält den Weltrekord mit 71,70 Metern. Woran sie schon beim Wurf gemerkt habe, dass der Speer so weit fliegen würde? \"Das macht ja die Leichtathletik aus\", antwortete Christina Obergföll.

Christina Obergföll korrigiert mit Europarekord ihren \“Glückswurf\“ von Helsinki – Mit Leichtigkeit von einer Last befreit – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)

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MÜNCHEN. So etwas nennt man wohl Fingerspitzengefühl. Kaum hatte der Speer die Hand von Christina Obergföll verlassen, begann sie zu jubeln. Als der Speer nach sekundenlangem Flug in den Rasen stach, ging ein Raunen durchs Publikum. Und schließlich bestätigte die elektronische Messung beim Europacup der Leichtathleten im Olympiastadion von München, was die 25 Jahre alte Speerwerferin sofort gespürt hatte: Ihr war ein Riesenwurf gelungen.
Er ging zwanzig Zentimeter über die Grenze von siebzig Metern hinaus und übertraf ihren Europarekord von der Weltmeisterschaft 2005 in Helsinki um siebzehn Zentimeter.

Nur die Kubanerin Osleidys Menéndez hat jemals weiter geworfen; sie hält den Weltrekord mit 71,70 Metern. Woran sie schon beim Wurf gemerkt habe, dass der Speer so weit fliegen würde? \“Das macht ja die Leichtathletik aus\“, antwortete Christina Obergföll. \“Wenn es leicht geht, ist es gut.\“ Um diese unerklärliche Leichtigkeit des Seins hat sie lange ringen müssen. Die 70,03 Meter von Helsinki wurden zu mehr als einem Maßstab für jeden ihrer Würfe. Sie wurden zu einer Hypothek, an der sie schwer trug. Bemerkungen über den \“Glückswurf\“ von Helsinki verletzten sie. \“Warum verurteilt man mich\“, klagte sie, \“wenn ich mit dreiundzwanzig Europarekord werfe?\“ Die Saison 2006 missriet. Christina Obergföll erzielte zwar mit 66,91 Metern den weitesten Wurf des Jahres. Doch bei der Europameisterschaft in Göteborg wurde sie nur Vierte.

\“Das war kein physisches, sondern ein psychisches Loch, in das sie gefallen war\“, sagt ihr Trainer Werner Daniels im Rückblick. \“Sie durfte nicht mehr weit werfen, sie musste weit werfen.\“ Fast zwei Jahre lang musste Christina Obergföll beteuern, dass der Erfolg von Helsinki nicht der Wurf ihres Lebens gewesen sei. Nun hat sie es bewiesen. Chefbundestrainer Jürgen Mallow lobte: \“Es ist riesig, dass sie zum zweiten Mal über 70 Meter geworfen hat, und zwar nicht irgendwo, sondern hier in München. Sie und ihr Trainer haben bewiesen, dass es auch ein zweites Mal geht.\“ Und wenn es ein zweites Mal geht, geht es auch ein drittes Mal.

Um sich von dem Verdacht zu befreien, den besten Wurf ihres Lebens schon hinter sich zu haben, hat die Fünfundzwanzigjährige den Winter über hart gearbeitet. Ihr Talent beschreibt Daniels so: \“Sie ist unten sauschnell und kann oben ganz schnell mit dem Arm zucken.\“ Seine Aufgabe war es, die Bewegung von Speer und Werferin in die richtigen Bahnen zu leiten: den Anlauf, den Stopp mit dem stabilen Aufsetzen des linken Fußes, den Wurf mit dem rechten Arm, die Speerführung so dicht am Kopf wie möglich. Den Verkantungswinkel, das Abweichen der Flugrichtung, hat Christina Obergföll so von mehr als dreißig auf unter zwanzig Grad reduziert. \“Zehn wären fast schon optimal\“, sagt sie. \“Null gibt es eigentlich nicht.\“ Den Winkel um fünf Grad zu reduzieren, hat Daniels einmal vorgerechnet, bringe zwei Meter. Am Samstag hat Christina Obergföll ihren Rekord lediglich um siebzehn Zentimeter verbessert. \“Der Rest ist: locker bleiben\“, sagt Daniels. \“Wir trainieren die Lachmuskeln gezielt mit.\“ Bei allem Spaß, den Christina Obergföll nun gewonnen hat, ist ihre Freude doch nicht ungetrübt. 70 Meter im Speerwerfen – das ist bei den Frauen wie ein Hundertmeterlauf in weniger als elf Sekunden, wie ein Stabhochsprung über fünf Meter, wie Kugelstoßen über zwanzig Meter. Gerade mit letzterem Vergleich nähert man sich dem Bereich, der Christina Obergföll schmerzt. \“Ich finde es schade, dass man gleich verdächtigt wird, wenn man gute Leistungen zeigt\“, klagte sie am Samstag.

Dabei kann ihr Trainer nur deshalb mit beiden Händen den schrumpfenden Abstand zum Weltrekord zeigen – anderthalb Meter -, weil der Weltverband (IAAF) 1999 einen neuen Speer eingeführt hat. Sein Schwerpunkt liegt so weit vorn, dass er immer mit der Spitze in die Wurfwiese einsticht. Damit musste eine neue Weltrekordliste begonnen werden. Petra Felkes Bestleistung von glatt 80 Metern aus dem Jahr 1988 ist damit Geschichte – anders als die unerreichbaren Weltrekorde aus der Hochzeit des Anabolikadopings, die Disziplinen wie Kugelstoßen und Diskuswerfen, Sprint und 400-Meter-Lauf neuer Bestmarken berauben.

\“Ich habe bei der Weltmeisterschaft in Helsinki sauber geworfen, ich habe hier sauber geworfen\“, versicherte Christina Obergföll am Samstag. \“Und ich glaube, ich kann auch Weltrekord sauber werfen.\“ Ebenso wichtig wie ihr Training ist Christina Obergföll der Abstand zum Sport. In Freiburg studiert sie Englisch auf Lehramt, und im vergangenen Herbst intensivierte sie ihr Engagement. \“Da bin ich ein paar Stunden am Tag mit dem Kopf ganz weit weg vom Sport\“, sagt sie.

Doch der Sport ist ihre Arbeit. Über dessen Härte ging Trainer Daniels mit seiner Art von Bonmot hinweg: \“Wenn es ganz leicht wäre, würde es ja Leichtathletik heißen.\“

MICHAEL REINSCH
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Dienstag, dem 26.06.2007

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