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04
2023

Beim Boston-Marathon kann Eliud Kipchoge nicht mithalten.  - 2023 Boston Marathon Weekend Boston, Ma   April 15-17, 2023 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com

Chancenlos bei Boston-Marathon 2023: Alles geht schief für Eliud Kipchoge – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Als es bei Kilometer 30 zur Sache geht, kommt Eliud Kipchoge nicht mehr mit: Der Herrscher des Marathons gelangt in Boston an seine Grenzen. Die Szene feiert schon ihren neuen König.

Möglicherweise war Eliud Kipchoge sich seiner Herrschaft über den Marathon zu gewiss. Am Montag, dem Patriots’ Day, ging der überragende Langstreckenläufer des vergangenen Jahrzehnts seinen ersten Boston-Marathon so majestätisch an, als könnte er Kälte und Regen ausgerechnet auf dieser hügeligen Strecke ignorieren.

Praktisch vom ersten Meter an setzte sich der 38 Jahre alte zweimalige Olympiasieger an die Spitze und legte ein Tempo vor, als wollte er den von anhaltendem Rückenwind unterstützten Streckenrekord seines kenianischen Landsmanns Geoffrey Mutai von 2:03:02 Stunden aus dem Jahr 2011 unterbieten.

Elfköpfige Spitzengruppe

Dreißig Sekunden schneller war er – bei Gegenwind – als seinerzeit Mutai auf den ersten fünf, bei 60 Meter Höhenunterschied leicht abschüssigen Kilometern (14:17 Minuten). In 62:19 Minuten führte er die Spitzengruppe von elf Topathleten, denen rund 30.000 Hobbyläufer folgten, über die Halbmarathon-Distanz.

Auch das war, lediglich 21 Sekunden über der Referenzzeit vom Streckenrekord, unglaublich schnell. Auf dem flachen Kurs von Berlin war er bei seinem Weltrekord vor gut einem halben Jahr deutlich schneller. Unterstützt von drei Tempomachern ging er bei 59:50 Minuten durch.

Was sollte schiefgehen? Von den sechs besten Marathon-Ergebnissen aller Zeiten ist Kipchoge deren vier gelaufen. Er hat im September vergangenen Jahres seinen eigenen Weltrekord gebrochen und auf 2:01:09 Stunden verbessert. Er ist seit 2019 der erste und einzige Mensch der Welt, der die 42,195 Kilometer lange Strecke in weniger als zwei Stunden gerannt ist: in 1:59:40 Stunden – bei einem nicht offiziell anerkannten Lauf im Prater von Wien.

Triumphator: Evans Chebet aus Kenia 

Und doch ging alles schief. Als bei Kilometer 30 – Kipchoge hatte die Spitzengruppe auf sieben dezimiert – Gabriel Geay aus Tansania (Bestzeit 2:03:00) attackierte, konnten ihm lediglich vier Läufer folgen. Kipchoge gehörte nicht zu ihnen. Erst auf dem letzten Kilometer entschied Vorjahressieger Evans Chebet das Rennen in 2:05:54 Stunden für sich, vor Geay (2:06:04) und seinem Trainingspartner Benson Kipruto (2:06:06).

„Ich glaube, dort lag das Problem“

Als Sechster, mit 3:29 Minuten Rückstand auf den Sieger, kam der geschlagene Kipchoge ins Ziel. „Mein linkes Bein kam nicht mehr hoch“, sagte Kipchoge am Tag darauf bei einer Pressekonferenz: „Ich glaube, dort lag das Problem. Ich habe versucht, das Nötige zu tun, aber das hat nicht funktioniert. Also habe ich mich darauf konzentriert, in einem angenehmen Tempo zu Ende zu laufen.“  Er sei gut vorbereitet gewesen; die Probleme im Oberschenkel hätten nichts mit dem Laufen bergab zu tun. Kipchoge versprach, zurück nach Boston zu kommen: „Absolut ja, und zwar, um den Boston-Marathon zu gewinnen.“ Ob er im Herbst wie geplant in New York starten werde, wollte er nicht bestätigen. Er müsse sich nach dem Ergebnis vom Montag neu sortieren.

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Die Laufexperten  der Website letsrun.com urteilen bereits: „Wir haben einen neuen König“. Der 33 Jahre alte Chebet hat nun hintereinander weg Boston 2022, New York 2022 und Boston 2023 gewonnen. Geschickt nutzte er am Montag die vermeintliche Dominanz von Kipchoge bis Kilometer 30, um im Windschatten Kraft zu sparen. Mit hochfliegendem Selbstbewusstsein der Konkurrenz hat er so seine Erfahrung. Im Herbst vergangenen Jahres hatte ihm der Brasilianer Daniel Do Nascimento beim New-York-Marathon bei feuchter Hitze mit einem Beginn in Weltrekordtempo mehr als zwei Minuten abgenommen. Bis er stoppte, ein Toilettenhäuschen besuchte und schließlich erschöpft zusammenbrach. Chebet siegte in 2:08:41 Stunden.

Ein Jahrzehnt den Marathon dominiert

Hat Kipchoge sein Alter eingeholt? Nicht wenige in seinem Umfeld deuten an, dass der Meister deutlich vor dem Datum in seinem Pass geboren, mithin womöglich schon vierzig Jahre alt oder älter sein dürfte. Vor zwanzig Jahren, 2003 in Paris, wurde er Weltmeister über 5000 Meter. Ein Jahrzehnt lang hat er den Marathon dominiert. Ist die Zeit des Herrschers abgelaufen? Oder hat er in Boston lediglich taktiert mit Risiko eines positiven Splits, bei dem die erste Hälfte des Marathons schneller gelaufen wird als die zweite?

Niemals sollte man das Herz eines Champions unterschätzen, schon gar nicht Kipchoges Kampfgeist. Seit er, ebenfalls bei Regen und Kälte, den damals auf den Herbst und auf einen kleinen Rundkurs verlegten London-Marathon 2020 verlor, hat er viermal gesiegt und den Weltrekord verbessert.

Doch im Herbst bei den Marathons von Berlin, New York oder dem neuen von Sydney wird er beweisen müssen, dass er noch konkurrenzfähig ist auf allerhöchstem Niveau – nicht nur den Fachleuten, nicht nur sich selbst. Sondern vor allem dem kenianischen Verband, der bei seinen Olympia-Nominierungen zu ungeahnten Härten fähig ist.

Die langen Anstiege und die in irrwitzigem Tempo gelaufenen Bergab-Passagen von Boston 2023 – für Kipchoge eine Erinnerung an die Auf und Abs einer sportlichen Laufbahn.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 18. April 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

 

author: GRR