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03
08
2010

Die Führung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes hat in Spanien erlebt, dass ihr Ziel, die Nummer eins in Westeuropa zu werden, offenbar (noch?) ein bisschen hoch gegriffen ist.

Bilanz der Leichtathletik-EM – Der deutsche Weg heißt Individualismus – Michael Reinsch, Barcelona, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Ob Verena Sailer, Betty Heidler, Linda Stahl oder Christian Reif: Die deutschen Leichtathleten haben bei der EM gezeigt, dass höchst unterschiedliche Wege zum Erfolg führen können. Ein Verband kann inneren Antrieb nicht erzeugen – aber erhalten.

 Gemeinsam ist ihnen ihre Unterschiedlichkeit. Die 73 Leichtathleten, die in Barcelona im deutschen Trikot die Europameisterschaften bestritten haben, sind ein Team höchst eigensinniger und eigenwilliger Athleten.

Von der angehenden Ärztin Linda Stahl, die in ihrer Freizeit zweimal täglich Speerwerfen trainiert, über die Polizeiobermeisterin Betty Heidler, die Hammerwerfen als Beruf versteht und ein Jurastudium als Hobby pflegt, bis zur Sprinterin Verena Sailer, die mit gestrecktem Bein durch die Halle hoppelt und an Maschinen trainiert, die ihr Trainer zusammengeschweißt hat, stehen diese drei Europameisterinnen für die ganz individuellen Wege zum persönlichen Erfolg.
 
Sprint-Goldstück: Verena Sailer

Die Führung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes hat in Spanien erlebt, dass ihr Ziel, die Nummer eins in Westeuropa zu werden, offenbar (noch?) ein bisschen hoch gegriffen ist. Obwohl die deutsche Nationalmannschaft 16 Medaillen gewann – und damit mehr als bei der EM vor vier Jahren in Göteborg und bei der Heim-WM im vergangenen Sommer – hatten das britische und das französische Team, ganz zu schweigen vom überlegenen russischen, deutlich öfter gesiegt.

Die Sportart besteht, wenn sie Leistung mit Gesichtern verbindet

Die Fixierung auf Medaillenbilanz und Nationenwertung verstelle den Blick auf die Schönheit der Leichtathletik, sagt DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen ganz zu recht. Die Komplexität der Wettbewerbe und die Persönlichkeit der Sportlerinnen und Sportler gebieten Respekt – etwa wenn die 24 Jahre alte Nadine Müller, die beste Diskuswerferin des Jahres, plötzlich realisiert, dass sie die Goldmedaille, die ihr alle Welt schon zugeschrieben hat, nun auch wirklich gewinnen muss – und darüber schlagartig fast das Diskuswerfen verlernt.

Selbstverständlich weiß Kurschilgen, dass nach den Olympischen Spielen 2012 Bilanz gezogen werden wird allein auf der Basis der Gold-, Silber- und Bronzestücke, die am Bande verliehen werden, nicht nach den möglichen Goldschätzchen, die sich mit passablen Leistungen in den Vorrunden tummelten. Doch er hat recht: Die Leichtathletik kann ihren Kampf gegen das Verschwinden aus der öffentlichen Wahrnehmung nur bestehen, wenn sie Leistung mit Gesichtern verbindet.

Abenteuer Spitzensport muss ohne unvertretbare Risiken möglich sein

Der Verband für ausgeprägte Individualisten und deren Disziplinen muss also sportliche Spitzenleistungen ebenso ermöglichen wie persönliche Entwicklung. Er muss leistungsbereitem Nachwuchs die Zusammenarbeit mit kompetenten Trainern erlauben und ihm die Chance geben, sich für einige Jahre auf das Abenteuer Spitzensport einzulassen, ohne unvertretbare gesundheitliche und wirtschaftliche Risiken einzugehen.

Es gebe einen deutschen Weg, sagt Vizepräsident Günther Lohre und nennt Gesundheitsmanagement, die Weiterbildung von Trainern und den Mut zu unkonventionellen Ansätzen als Reserven. Im Lauf müssten, wie beim Stabhochsprung, Zentren und Trainingslager entstehen, in denen sich die Sportler gegenseitig forderten. Diese Richtung dürfte auch Russen, Briten und Franzosen bekannt sein, allerdings nicht als deutscher Weg.

Was die erfolgreichen deutschen Leichtathleten gemein haben, auch mit ihren internationalen Konkurrenten, ist der Wille zum Erfolg. Diesen inneren Antrieb, die goldene Unruhe des Leistungssports, kann kein Verband der Welt erzeugen.

Aber jeder sollte versuchen, ihn zu erhalten.

Michael Reinsch, Barcelona, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 2. August 2010

author: GRR

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