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14
08
2011

Stabhochsprung-Europameister Renaud Lavillenie aus Frankreich erreichte mit 5,76 Meter zwar die größte Höhe, doch Mohr gewann drei der vier Durchgänge und trug 15 Punkte zum Sieg bei; sein bester Sprung trug ihn mühelos über 5,72 Meter ©Horst Milde

„Berlin fliegt“ – Raus aus den Stadien – rein in die Städte – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

„Die großen Veranstaltungen verlangen extreme Aufmerksamkeit und extreme Konzentration von den Zuschauern“, sagt die blonde junge Dame, die am Brandenburger Tor von Berlin zufrieden in die Sonne blinzelt. „So ein kleines Event wie dieses hier ist einfacher zu verstehen, und die Stimmung ist besser.“

Lukrativ ist es noch dazu. Die Frau im Nationaltrikot hat gerade, unter dem Jubel von etwa zweitausend Zuschauern und vor den Kameras von Eurosport, ihren Teil zum Gewinn von 24.000 Euro beigetragen.

Die Frau im Nationaltrikot ist Bianca Kappler, und sie persönlich ist ganz und gar nicht überfordert von der Komplexität der Leichtathletik mit ihren 47 olympischen Wettbewerben. Im Gegenteil: Seit 2003 ist sie sechs Mal deutsche Meisterin im Weitsprung geworden. Obwohl auf dem Sprung zur Weltmeisterschaft in Daegu in Südkorea, fand sie am Freitag Zeit, der Leichtathletik auf die Sprünge zu helfen.

Sie war Teil von „Berlin fliegt“, einer Veranstaltung, bei der Mannschaften aus Russland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Deutschland Weitsprung der Frauen und der Männer sowie Stabhochspringen vor dem Brandenburger Tor bestreiten 

Jeder Teilnehmer hat nur vier Sprünge, nach jedem Durchgang gibt es Punkte für die Rangfolge,
und am Ende siegten Bianca Kappler, Sebastian Bayer und Malte Mohr mit 32 Punkten vor den Vereinigten Staaten (30), Frankreich (25) und Russland (16). Stabhochsprung-Europameister Renaud Lavillenie aus Frankreich erreichte mit 5,76 Meter zwar die größte Höhe, doch Mohr gewann drei der vier Durchgänge und trug 15 Punkte zum Sieg bei; sein bester Sprung trug ihn mühelos über 5,72 Meter.

Trend zu kompakten Events

Für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) wäre die Veranstaltung auch ohne den Sieg seiner drei Athleten ein Erfolg gewesen. Er folgt zwei Trends, zu denen der Niedergang der großen Stadionsportfeste die Veranstalter in Deutschland zwingt: zu kompakten und übersichtlichen Events einerseits und zum Schritt dem Publikum entgegen andererseits. „Kommen die Zuschauer nicht zu uns, kommen wir zu den Zuschauern“ heißt die Devise, nach der Marathonläufer und Stabhochspringer sich schon längst in den Innenstädten etabliert haben.

Ob Zürich mit dem Kugelstoßen im Hauptbahnhof, ob Rottach-Egern mit dem Stabhochsprung auf eine Matte, die auf dem Tegernsee zu schwimmen scheint, ob Fränkisch-Crumbach mit seinem Hammerwurf-Event, Bad Langensalza mit dem Weitsprung-Festival auf einem Schulhof, ob Innsbruck mit Sprüngen vorm Goldenen Dachl oder Kreuztal, Büdelsdorf und Bernhausen mit einem dreitägigen Paar-Wettkampf der Mehrkämpfer aus jeweils vier Disziplinen.

Ja, Klassiker wie Hochsprung in Arnstadt und Eberstadt, wie die Werfer-Tage in Halle an der Saale, in Schwanebeck und Nordhausen sowie die Gipfeltreffen des Mehrkampfes in Götzis und Ratingen machen Schule 

Leichtathletik ist Teil des Berliner Stadtmarketings

„Die Spezialmeetings werden immer mehr“, sagt Bayer, der Hallen-Europameister im Weitsprung. „Die Stabhochspringer haben uns das vorgemacht, die Weitspringer ziehen jetzt nach.“ Er hoffe, dass die Leichtathletik in Deutschland wieder den Stand von 1993 erreiche, sagt Bayer. Das waren goldene Zeiten, als die WM in Stuttgart Millionen in den Bann zog, Heike Drechsler und Lars Riedel Titel gewannen und die deutsche Mannschaft acht Medaillen holte.

Vor wenigen Tagen habe er sich beim Fußball-Länderspiel gegen Brasilien daran erinnert, dass er noch 2008 beim Weltcup-Finale im Stadion von Stuttgart gesprungen sei, erzählte Bayer. „Dann wurde die Bahn rausgerissen. Das ist ein blöder Trend, dass der Fußball alles übernimmt. Und ein Olympiastadion sollte man schon gar nicht, wie es in London diskutiert wird, plattmachen.“

„Berlin fliegt – auf Leichtathletik“, rief wie zur Beruhigung Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister. Allein Berlin kann dieser Sportart in Deutschland ein Stadion mit mehr als 70.000 Plätzen bieten. Leichtathletik ist Teil des Berliner Stadtmarketings. Nach der Weltmeisterschaft 2009 und neben dem jährlichen Stadion-Sportfest Istaf sowie dem Berlin-Marathon soll die Leichtathletik-Europameisterschaft 2018 in die Stadt kommen. Sie kann auf Unterstützer wie Alt-Außenminister Hans-Dietrich Genscher sowie seinen Nachnachfolger Guido Westerwelle bauen, die sich bei „Berlin fliegt“ nicht einmal von der plumpen Reklame des Ansagers vertreiben ließen.

„So könnten wir das Publikum erreichen“

Wenn schon nicht die Zukunft der Leichtathletik, so doch eine ihrer Facetten will DLV-Präsident Clemens Prokop am Brandenburger Tor gesehen haben. Wer bekommt schon einen Ort wie den Pariser Platz an einem Freitagnachmittag für seine Sportveranstaltung? „Dies ist ein Appetithäppchen für die Leichtathletik“, schwärmte Prokop. Die amerikanische Weitsprung-Weltmeisterin Britney Reese, die mit 6,77 Meter den größten Satz machte, war zum ersten Mal, wie sie es ausdrückte, für die Leichtathletik auf der Straße. „Vielleicht kriegen wir so etwas auch in den USA hin“, sagte sie. „So könnten wir das Publikum erreichen.“

Das Downsizing der Leichtathletik, die Auswilderung einzelner Disziplinen aus den Stadien soll eine Massenbewegung werden. „Innovative und inspirierende Konzepte“ verspricht Frank Lebert, der Geschäftsführer der Marketinggesellschaft des DLV. Nicht mit der Diamond League, der Champions League der Leichtathletik, sondern mit Mannschafts-Wettkämpfen glaubt er Identifikation beim Zuschauer schaffen zu können. „Ich wäre schwer enttäuscht“, sagte er in Berlin, „wenn wir das hier nicht entwickeln und in Deutschland ausrollen könnten“.

Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 14. August 2011

author: GRR

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