Johnson wird am Dienstag 52 Jahre al
Ben Johnson – Das dreckigste Rennen – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
24.09.2013 · Vor genau 25 Jahren gewann Ben Johnson das olympische Finale über 100 Meter in Weltrekordzeit. Drei Tage später wurde er überführt und der Medaille entledigt.
Sie waren einfach großartig“, ruft die Stimme aus dem Telefon. „Hier in Ottawa explodiert die Freude.“ Premierminister Mulroney brüllt, um durchdringen zu können zu dem schnellsten Mann der Welt, dem berühmtesten Kanadier der Gegenwart, zu Ben Johnson.
Fünfundzwanzig Jahre ist es her, dass der Sprinter am 24. September um halb zwei Uhr mittags den Gipfel seiner Karriere erreicht zu haben glaubt. Er ist Olympiasieger. Er hat, wie schon bei der Weltmeisterschaft von Rom, Carl Lewis geschlagen, den größten Star der Leichtathletik, seinen Erzrivalen.
Er hat in 9,79 Sekunden seinen eigenen Weltrekord unterboten und die Bestmarke in eine Dimension verschoben, die unerreichbar schien. „Diesen Weltrekord wird in den nächsten fünfzig Jahren niemand brechen“, tönt Johnson auf der Pressekonferenz. Das ist nicht sein einziger Irrtum.
Als ihn ein Fernsehreporter fragt, was ihm wichtiger sei, die Goldmedaille oder der Weltrekord, erwidert er: „Die Goldmedaille. Sie ist etwas, das dir niemand wegnehmen kann.“ Drei Tage später verlangt eine Mitarbeiterin des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) an seiner Hoteltür die Medaille zurück. Ben Johnson reicht sie ihr konsterniert.
Sein Weltrekord wird nie in die Bestenliste des Leichtathletik-Verbandes aufgenommen. Vierzehn Jahre später, im September 2002, unterbietet Tim Montgomery bei der Weltmeisterschaft in Paris die Zeit von Ben Johnson.
Auch er ist gedopt.
Seit der Weltmeisterschaft 2009 in Berlin steht der Weltrekord bei 9,58 Sekunden. Seit Ben Johnson läuft in jedem Rennen der Verdacht mit. Usain Bolt, Olympiasieger von Peking und London, Weltmeister von Berlin, Daegu und Moskau, ist einer der verdächtigsten Athleten der Welt – auch wegen Ben Johnson.
An diesem Dienstag wird Johnson, inzwischen 52 Jahre alt, das Stadion von Seoul besuchen. Er wirbt für die Anti-Doping-Initiative „Choose The Right Track“.
Auf der falschen Bahn
Als er die falsche Bahn wählt, ist das nicht der erste und nicht der letzte Doping-Fall, aber einer der spektakulärsten. Er löst, als er drei Tage nach dem Lauf publik wird, eine Explosion der Enttäuschung, des Entsetzens und der Wut aus. Einer der Helden auf der am grellsten ausgeleuchteten Bühne des Sports gedopt, der Sieger im 100-Meter-Finale der Olympischen Spiele ein Betrüger – wie kann das sein?
Was nicht wenige Zuschauer und Experten bis heute als eines der spannendsten Rennen der Welt in Erinnerung haben – Carl Lewis, nach 9,92 Sekunden im Ziel, rückte auf den ersten Platz nach, Linford Christie (9,97) auf den zweiten und Calvin Smith (9,99) auf den dritten -, entpuppt sich im Rückblick als Kulmination von Lug, Trug und mehr als zweifelhaftem Umgang.
Die Sportverbände und das IOC mussten ihre offenkundige Kumpanei mit Dopern aufgeben und Trainingskontrollen einführen. Als Ben Johnson dem Gejohle und Gedränge entflieht, das ihn seit dem Verlassen der Bahn von Seoul umgibt, als er gemeinsam mit seinem polnischen Masseur Waldemar Matuszewski durch die Glastür mit dem Zettel „Contrôle Anti-Dopage“ ins Reich des Arztes Arne Ljungquist eintritt, erwartet ihn ein Bekannter: Er sitzt am Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, rechter Hand den Kühlschrank, und sagt: „Herzlichen Glückwunsch zu deinem Sieg!“
Johnson erwidert: „Du gehörst hier gar nicht rein.“ Er legt sich bäuchlings auf eine Bank an der Wand und lässt sich die entzündete Achillessehne massieren. An den Namen des Mannes kann sich Johnson nicht erinnern, aber er weiß, dass sie Spaß hatten, als sie nach dem Sportfest in Zürich 1986 gemeinsam durch die Bars der Stadt zogen.
Nun reicht der athletische Mann in Jeans und weißem T-Shirt Ben Johnson eine Bierdose nach der anderen, damit es endlich mit der Doping-Probe klappen möge. Zwei Stunden hat Johnson acht Dosen geleert, wie er sich im Gespräch mit Richard Moore erinnert, Journalist und Autor des Buches „The Dirtiest Race in History“. Dieses dreckigste Rennen der Geschichte habe bei der Doping-Kontrolle seinen Tiefpunkt erreicht, behauptet Johnson seit dem positiven Befund.
Der mysteriöse Mann habe ihm die Dopingsubstanz Stanozolol ins Bier getan: „Ich hatte sechs Wochen vor den Spielen aufgehört, Steroide zu nehmen“, behauptet Johnson. „Ich würde nicht so blöd sein, so etwas kurz vor einem olympischen Finale zu nehmen. Die Menge Steroide in meinem System hätte einen normalen Menschen umgebracht. Ich wurde positiv auf Stanozolol getestet, aber ich hatte etwas ganz anderes genommen.“
Peking 2008 – «Urknall» Ben Johnson © picture-alliance/ dpa
Vor 25 Jahren in Seoul: Ben Johnson mit voller und unnatürlicher Muskelkraft
Moore identifiziert den Mann: André, genannt „Action“ Jackson, angeblich geboren und wohnhaft in Angola, französischer Staatsbürger, aufgewachsen in den Vereinigten Staaten. Auf einer Wikipedia-Seite wird Jackson als Diamantenhändler und Sammler von Luxusautos vorgestellt, der eigentlich M’Zée Fula-Ngenge heiße und gelegentlich Politiker Afrikas berate. Was Moore beschreibt, ist schillernd genug: Jackson und Carl Lewis kennen sich von der Universität in Houston.
In Seoul beherbergt Lewis ihn in der Villa, die er für sich, seine Freunde und Familie gemietet hat. Sein Manager Joe Douglas räumt ein, dass er Jackson, obwohl dieser mit dem amerikanischen Team oder den Olympischen Spielen nichts zu tun hat, eine Akkreditierung verschafft und in den Raum für die Doping-Kontrollen gebracht habe. Ein paar Tricks seien nötig gewesen, sagt er, aber er habe jemanden aufpassen lassen wollen, dass Ben Johnson seinen Urin nicht manipuliere. Unregelmäßigkeiten sollte Jackson, wenn möglich, fotografieren. So ist es zum Beweisfoto für die Begegnung gekommen: Johnson, Jackson und Bierdosen. 1990 veröffentlicht Carl Lewis das Bild in seiner Biografie „Inside Track“.
Moore gelingt es, Jackson zu sprechen. Ob er Ben Johnson Stanzolol ins Bier getan habe, fragt er. „Natürlich kann ich sagen, ich habe es nicht getan“, antwortet Jackson. „Aber ich kann auch sagen, ich habe es getan. Was nützt es?“ Johnson behauptet, ihm gegenüber habe Jackson gestanden, in jede Dose Bier eine Stanozolol-Tablette geworfen zu haben. Das habe er aufgezeichnet. Moore fragt nach dem Tonband. „Ich kann es nicht finden“, antwortet Johnson.
Das Bild von der tragischen Figur Ben Johnson, einem kleinen Mann mit aufgeblasenen Muskeln, stotternd, herumgeschubst von Wachmännern, Journalisten und Kameraleuten bei seiner überstürzten Abreise aus Seoul, ergänzt Moore um einige Facetten.
Auch beim Arzt geriet Johnson offenbar an den Falschen. Jamie Astaphan, wie Johnson aus der Karibik stammend, kam ins Team, um Trainer Charlie Francis zu entlasten und das Doping zu professionalisieren. Er reduzierte die Gabe von Wachstumshormon, verabreichte zunächst das Steroid Dianabol und stellte dann um auf eine milchig-weiße Substanz, die er aus nicht etikettierten Flaschen aufzog und von der er behauptete, er beziehe sie aus dem Wunderland des Dopings, der DDR. Er nannte sie Estragol.
Verdacht gegen Mitläufer
Trainer Charlie Francis hatte Johnson zum Doping überredet mit dem Hinweis, dass man nur betrüge, wenn man der Einzige sei. „Warum sollte ich sauber bleiben, wenn alle anderen betrogen“, beschreibt Johnson seine Überzeugung. „Das ist unfair.“ Also dopt er und lässt sich von einem schmächtigen Läufer zum kraftvollsten Sprinter der Welt hochzüchten. Der Verdacht gegenüber der Konkurrenz dürfte nicht aus der Luft gegriffen sein.
Carl Lewis wurde bei den Trials 1988 positiv auf Aufputschmittel getestet; hätte der Verband nicht die vorgesehene Dreimonatssperre in eine Warnung umgewandelt, würde er in Seoul fehlen. Eines der Mittel, die ihm nachgewiesen werden, Pseudoephedrin, findet sich in Seoul auch bei Linford Christie. Auch er kann die Funktionäre davon überzeugen, dass er nicht absichtlich gedopt habe. Er bekommt Silber. Vier Jahre später, in Barcelona, wird er Olympiasieger; 1999 wird er auf Nandrolon positiv getestet. Calvin Smith, der Dritte, ist der schnellste Sprinter des Finales, der nie mit Doping in Verbindung gebracht wird, und neben dem Brasilianer Robson da Silva der einzige.
Doktor Astaphan untergräbt das Vertrauen zwischen Trainer Francis und Ben Johnson. Im Sommer 1988 holt er Johnson für sieben Wochen Regeneration auf die Insel St. Kitts in der Karibik. Dort macht er ihn mit Jack Scott bekannt, einem Trainer und Buchautor, der eine Maschine entwickelt hat, die Verletzungen mit niedriger Stromspannung heilen soll. Auch Scott war eine zwielichtige Figur.
1974 spielte er eine undurchsichtige Rolle im Entführungsfall der Millionenerbin Patty Hearst, die gemeinsam mit ihren Kidnappern Banken ausraubte. Als er 1988 Ben Johnson behandelt hat, taucht er bei Carl Lewis auf. Erst bietet er ihm Informationen aus dem Lager von Johnson an, dann die Zusammenarbeit mit dessen Doping-Arzt. Astaphan habe die Nase voll, erfuhr Lewis. Wenn er bereit sei zu dopen, richtete Scott aus, könne er 9,5 Sekunden laufen.
Verraten und verkauft
Astaphan reist mit Ben Johnson nach Seoul und fiebert mit dessen Mutter auf der Tribüne dem Finale entgegen. Während einer Kortisonbehandlung der Achillessehne erpresst er den Sprinter. Er wolle eine Million Dollar, sagt er nach der Erinnerung von Johnson, oder er werde alles enthüllen. Johnson bleibt cool. Darüber werde man nach dem Rennen sprechen, erwidert er. Leider ist dann keine Zeit mehr.
Als die kanadische Regierung eine Untersuchung anberaumt, die Dubin Inquiery, kommt heraus, dass Astaphan alle Telefongespräche mit Johnson aufgenommen hatte. Das ist noch der geringste Betrug des Arztes gegenüber seinen Athleten. Eine Analyse entlarvt das Wundermittel „Estragol“ als billiges Hormonprodukt für die Viehmast: Winstrol-V. Sein Wirkstoff ist Stanozolol.
Rückkehr nach Seoul: Ben Johnson posierte am Dienstag im Olympiastadion von 1988 für die Anti-Doping-Initiative „Choose the right way“ auf der 100-Meter-Bahn
Wie sehr Doping-Analytiker Manfred Donike dem Nachweis dieser Substanz nachjagte, erlebte Don Catlin, seinerzeit Leiter des Doping-Kontrolllabors der Vereinigten Staaten, bei einem Besuch 1985 in Köln. Beide wussten seit den Spielen von Los Angeles, dass einer ihrer blinden Flecken Stanozolol war. Donike ergänzte den wissenschaftlichen Austausch um eine Dosis der fraglichen Substanz, die er seinem Kollegen injizierte. Wenig später bat er zur Kontrolle. Der Stoff war nicht nachweisbar.
Catlin erinnert sich, dass Donike ein halbes Jahr später – dank seiner Probe – der Nachweis gelang. Als Donike in Seoul Ben Johnson überführt, kann er beweisen, dass dies kein Zufall und auch kein Einzelfall ist. Er verweist auf „eine langfristige Durchseuchung“, nachgewiesen mit einem Profil, das er vom Stanozolol-Doping des schnellsten Mannes der Welt erstellt hat.
Ben Johnson war nicht nur verraten und verkauft von seinem und dem rivalisierenden Lager. Er war auch längst überführt.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dienstag, dem 24. September 2013