Internationales Mahnmal
Für den Präsidenten von World Athletics waren die Weltmeisterschaften von Eugene „The Greatest Show on Earth“. Wer diese Weltmeisterschaft vor Ort gesehen oder mitten in der Nacht im deutschen Fernsehen mitverfolgt hat, muss sich die Frage stellen, warum verantwortliche Sportfunktionäre¹ immer wieder dazu neigen, sich selbst zu belügen.
Wäre World Athletics zur Selbstkritik fähig, so müssten die Verantwortlichen eine ganze Reihe von Fragen stellen, deren Antworten vermutlich äußerst schmerzlich sind.
Wie ist es möglich, dass bei der „größten Show der Welt“, die zehn Tage dauerte, lediglich 150.000 zahlende Zuschauer anwesend waren? Bei der gleichen Veranstaltung, für die ich in Stuttgart 1993 mit dem damaligen OK-Präsidenten August Kirsch gemeinsam verantwortlich zeichnete und bei der die Messe Stuttgart mit einem kompetenten Veranstaltungsdirektor Vögele ein nachahmenswertes Marketing- und Promotionskonzept hinterließ, konnte diese Zuschauerzahl bereits nach den ersten beiden Wettkampftagen erreicht werden.
Wie ist es möglich, dass die Zuschauerzahlen im US-Fernsehen bei den US-Leichtathletik- Trials für die Olympischen Spiele von Tokio höher gewesen sind als bei den Leichtathletik Weltmeisterschaften im eigenen Lande? An den zwei Wochenenden der Weltmeisterschaften (Samstag und Sonntag) sahen in den USA durchschnittlich nur 1,966 Millionen Zuschauer diese Weltmeisterschaften. 2021 hatten hingegen die US-Trials der Leichtathletik für die Olympischen Spiele in Tokio 3,183 Millionen Zuschauer bei einer Übertragungszeit von 8 Stunden aufzuweisen. D.h., die Übertragungen der Leichtathletik WM hatten 38 % weniger Zuschauer als die Übertragungen bei den Trials im vergangenen Jahr.
Ergänzend hierzu muss gefragt werden, warum es in sämtlichen US Networks keine Live Übertragungen von Eugene gegeben hat, sondern alle Übertragungen im Kabelfernsehen „tape delayed“ stattgefunden haben?
Wie ist es möglich, dass in Deutschland, mit dem mitgliederstärksten Leichtathletikverband der Welt, die Weltmeisterschaften von Eugene nur nachts mit einem Zeitunterschied von 9 Stunden übertragen wurde und dabei nur circa 180.000 Zuschauer erreicht werden konnten? Warum wurden nicht jeweils am Abend die wichtigsten Ereignisse der vergangenen Nacht in einer Wiederholungssendung von ARD oder ZDF für alle interessierten Leichtathletik -Zuschauer zugänglich gemacht?
Wie ist es möglich, dass die zum ersten Mal in den USA ausgetragen Leichtathletik- Weltmeisterschaften an dem interessantesten Wettkampfwochenende lediglich das fünftmeist gesehene Sport-Event der Vereinigten Staaten gewesen ist?
Warum fanden diese Weltmeisterschaften einmal mehr über einen Zeitraum von zehn Tagen statt, der sich bereits in der Vergangenheit immer wieder als viel zu lange erwiesen hatte und der zur Folge hat, dass sich die Veranstaltung durch Langatmigkeit auszeichnet und an den einzelnen Wettkampftagen dem Zuschauer viel zu wenige interessante Finalentscheidungen angeboten werden können?
Meines Erachtens ist es notwendig, dass die Vorgeschichte zu dieser Weltmeisterschaft in Eugene 2022 noch einmal etwas genauer betrachtet wird. Bereits unter IAAF Präsident Nebiolo gab es ein frühzeitiges Bemühen, die USA, die weltweit wichtigste Leichtathletiknation, für die Ausrichtung einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft zu interessieren. Immerhin sind die USA unbestritten die erfolgreichste Leichtathletiknation bei den Olympischen Spielen seit ihrer Neugründung und auch bei allen Leichtathletik- Weltmeisterschaften, die es seit der ersten Weltmeisterschaft in Helsinki im Jahr 1983 gibt, waren die amerikanischen Athleten und Athletinnen unbestritten die herausragenden Weltstars.
Es gab deshalb Verhandlungen mit Stanford, Los Angeles, New York und Sacramento, die jedoch immer wieder daran gescheitert sind, dass der amerikanische Leichtathletikverband die Garantie eines internationalen Signals für die internationalen Fernsehübertragungen durch einen amerikanischen Fernsehsender nicht garantieren konnte. Als letzte Stadt, mit der sich der amerikanische Leichtathletikverband um die Ausrichtung einer Weltmeisterschaft bei der IAAF bewarb, wurde vom amerikanischen Leichtathletikverband Eugene ausgewählt. Doch deren erste Bewerbung scheiterte an einer äußerst fragwürdigen Entscheidung des IAAF Councils zu Gunsten von Doha 2019, deren Bewerbung mit vielen zusätzlichen finanziellen „Incentives“ versehen war, deshalb von IAAF-Präsident Diack und der Mehrheit seines Councils einer Bewerbung von Barcelona ebenso vorgezogen wurde wie der Bewerbung von Eugene, die allerdings zu diesem Zeitpunkt noch immer keine Garantie für ein internationales Fernsehsignal vorlegen konnte. Die Bewerbungsniederlage Eugenes hielt US-Track & Field nicht davon ab, weiter ein Interesse an der Ausrichtung der LA-WM in dieser Universitätsstadt zu bekunden. Der in den IAAF-Statuten vorgeschriebene Zeitraum für das Bewerbungsverfahren für eine WM im Jahr 2021 war jedoch noch nicht abgeschlossen, als IAAF- Präsident Diack in Peking im April 2015 ohne Vorankündigung bei der vorbereitenden Council-Sitzung für die Leichtathletik WM 2015 plötzlich den Tagesordnungspunkt „Vergabe WM 2021“ auf die Tagesordnung setzte und eine Abstimmung seines Councils zu Gunsten von Eugene erreichte.
Bei der geheimen Abstimmung gab es lediglich zwei Gegenstimmen. Vor der Abstimmung hatte ich meine Meinung zur erneuten Bewerbung von Eugene geäußert und meine Bedenken gegenüber einem Verstoß gegen die Konstitution der IAAF geäußert. Mit dieser Abstimmung wurde jedem anderen interessierten IAAF Mitgliedsverband, so u.a. Schweden, die Möglichkeit genommen, sich ebenfalls für die WM 2021 zu bewerben.
Da ich selbst die Möglichkeit hatte, Eugene bei der Junioren WM der IAAF zu besuchen, haben sich meine Bedenken aber auch auf die Eignung von Eugene als Ausrichter einer WM selbst bezogen. Ich habe Eugene und den Bundesstaat Oregon als äußerst schön, touristisch interessant und liebenswert wahrgenommen. Doch angesichts der vorhandenen Infrastruktur und nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines für eine WM viel zu kleinen Stadions und einer unzureichenden Hotelkapazität erschien mir Eugene als kleine Universitätsstadt für die Ausrichtung einer Leichtathletik WM nicht geeignet.
Hinzu kam, dass sich der nächste Flughafen 100 km entfernt befindet. Noch entscheidender für meine Gegenstimme war jedoch, dass mit der bereits von mir als fraglich empfundenen Vergabe der WM 2019 an Doha, man mit einer Abstimmung zu Gunsten von Eugene 2021 zum zweiten Mal hintereinander den für die Entwicklung der Leichtathletik außergewöhnlich bedeutsamen Kontinent Europa verlassen und damit auch die von mir zu verantwortende Vereinbarung mit der EBU aufkündigen würde, in der festgelegt war, dass in einem Zeitraum von acht Jahren drei Leichtathletik- Weltmeisterschaften in Europa stattfinden sollten und lediglich eine Weltmeisterschaft auf einem anderen Kontinent durchgeführt werden sollte.
Mit der Vergabe der WM an Eugene wurde meines Erachtens deshalb eine fernsehpolitische Fehlentscheidung getroffen, die für die finanzielle Situation der IAAF sehr folgenreich sein sollte. Da ich selbst während meiner Mitgliedschaft im IAAF Council den Vorsitz im „Steering Board“ EBU/IAAF inne hatte, vertrat ich die von dem ehemaligen IAAF Präsidenten Nebiolo und mir entwickelte Auffassung, dass die LA-Weltmeisterschaften in der näheren Zukunft in Metropolen und Großstädten stattfinden sollten und in einem acht Jahresvertragsturnus mit der EBU dieses international sehr bedeutsame Sportereignis möglichst dreimal in Europa stattfinden muss, weil es dort für die Zuschauer und für die Sponsoren den attraktivsten Markt gibt.
Außerdem erwies sich bereits das Evaluierungsverfahren, das vor der Vergabe der Weltmeisterschaft an Doha unter der Leitung von IAAF Vizepräsident Coe durchgeführt wurde, aus meiner Sicht als völlig unzureichend. Im Evaluierungsbericht wurden von Coe Doha und Eugene als gleichermaßen geeignet für die Durchführung einer Weltmeisterschaft bewertet, obgleich zum Zeitpunkt der Evaluierung vom US-Fernsehsender NBC keine schriftliche Zusage für die Garantie eines internationalen Fernsehsignals vorlag.
In der öffentlichen Berichterstattung über das Vergabeverfahren zu Gunsten von Doha und Eugene wurde mehrfach ein Korruptionsverdacht geäußert, der unter anderem auch Gegenstand des Ermittlungsverfahrens der französischen Justizbehörden gegen den ehemaligen IAAF Präsidenten Diack und dessen Sohn gewesen ist. Bei der Verurteilung von Diack und dessen Sohn wurden durch das französische Gericht Beweismittel vorgelegt, die den Korruptionsverdacht bestätigt haben.
World Athletics Präsident Coe muss in diesem Zusammenhang zumindest Befangenheit vorgehalten werden, da er während seiner Tätigkeit als IAAF-Vizepräsident und Vorsitzender der Evaluierungskommission sich für die WM-Ausrichterstädte Doha und Eugene ausgesprochen hat, obgleich er zu diesem Zeitpunkt noch eine vertragsgebundene Beziehung als Botschafter für den amerikanischen Sportartikelhersteller Nike aufwies, der nachweislich ein Interesse an der Ausrichtung einer WM in Eugene hatte. Sein damaliger Beratervertrag bezog sich auf eine Höhe von 100.000 £ („The Guardian“, 25. November 2015). In diesem Zusammenhang muss auch auf weitere Selbstvermarktungsprojekte des ehemaligen OK-Präsidenten der „Olympischen Spiele London 2012“ hingewiesen werden (vgl. hierzu auch in diesem Magazin: “Seb“ – Karrieren einer Marke“).
Vorschläge zur Reform der internationalen Leichtathletik hat es in den vergangenen Jahrzehnten bereits sehr viele gegeben. Zu Beginn der Amtszeit von World Athletics Präsident Coe wurde ihm ein Reformpaket übergeben, das im Auftrag der IAAF von einer Expertenkommission erarbeitet wurde. In „sport-nachgedacht.de“(https://sport-nachgedacht.de) finden sich mehrere Beiträge und Essays, in denen Fragen zur Reform der Leichtathletik behandelt werden. Eine Reduktion der Weltmeisterschaft von neun auf sechs Tage, ein vorgeschaltetes Qualifikationsverfahren, neue Präsentationsformen, neue Wettkämpfe wurden u.a. dabei vorgeschlagen, doch das Council von World Athletics und dessen Technische Kommission veränderte die WM genau ins Gegenteil dieser Empfehlungen. Sie verlängerten die WM von neun auf zehn Tagen. Alle anderen Vorschläge wurden „ad acta“ gelegt.
Der dramatische Niedergang der internationalen Leichtathletik wurde jedoch nicht nur von einigen Experten beklagt. Er wird nun immer häufiger auch vom internationalen Sport -Journalismus wahrgenommen. Besonders beachtenswert ist dabei vor allem die Kritik von Alan Abrahamson, der als die „beste Quelle für Informationen über die Olympischen Spiele und deren Steakholder“ gilt. Er war Kolumnist für NBC und Universal Sport und schrieb für die Los Angeles Times. An der University of Southern California ist er heute Hochschullehrer in der Fakultät für Journalismus und Kommunikation.
Nach seinem Besuch der Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Eugene sieht er die Leichtathletik in einer existenziellen Krise, die vor allem dadurch hervorgerufen wurde, dass zwischen der Bedeutung ihrer Sportart, die von den Verantwortlichen von World Athletics angenommen wird, und dem, was die Sportart heute wirklich bedeutet, ein nicht zu übertreffender Widerspruch besteht: „There is a stark disconnect between the romantic idealism of its most important international leaders hold for the sport and what track and field realistically can be in the modern landscape, particularly in the United States.“
Viele der Verantwortlichen in der Welt-Leichtathletik zeichneten und zeichnen sich bis heute durch eine Selbstgefälligkeit und Arroganz aus, die kaum zu übertreffen ist. Frühere Präsidenten des Weltverbandes vertraten öffentlich die Auffassung, dass die wirklichen Olympischen Spiele eigentlich immer erst dann beginnen, wenn die ersten Leichtathletik-Medaillen zu vergeben sind. Bis heute sehen Sie ihre Sportart als die „Königin“ bei den Olympischen Spielen, ohne wahrzunehmen, dass längst andere Sportarten wie Turnen/Gymnastik und Aquatics mit der Sportart Leichtathletik gleichgezogen haben oder gar von diesen überholt wurde. Bei Olympischen Schwimmwettbewerben werden heute bereits 49 Medaillen verliehen. Die Leichtathletik erreicht hingegen mit ihrem Finalangebot 48 Goldmedaillen. Angesichts der Langatmigkeit und der über mehrere Stunden herrschenden Langeweile während der Wettkampftage der Leichtathletik, wird das Leichtathletik-Programm bereits seit längerer Zeit von vielen internationalen Fachverbänden infrage gestellt.
Abrahamson stellt deshalb die Frage, warum sollen junge Leute im 21. Jahrhundert eine Sportart lieben, bei der man in den Vereinigten Staaten ein Dutzend Informationstechniken benötigt, um 100 Stunden über einen Zeitraum von zehn Tagen zu sehen. Für ihn hat die Leichtathletik in erster Linie wohl kaum ein Problem des Marketings, sondern ein strukturelles Problem. Die Leichtathletik sieht sich selbst als das nach den Olympischen Sommerspielen und dem Fußball-Weltcup drittgrößte Sport-Event der Welt. Will sie dies sein, so müssen die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in großen Stadien stattfinden und Zuschauermassen an sich binden. Dies war jedoch bislang nur in Europa bei den Weltmeisterschaften 1993 in Stuttgart, 2009 in Berlin und 2017 in London der Fall. In Eugene betrug die Kapazität des Stadions nicht mehr als 15.000 Zuschauer. „Change or you will be changed“ hat IOC-Präsident Bach als Maxime für das Gremium ausgerufen, das für die Olympischen Spiele verantwortlich ist und die ebenfalls sich in einer Krise befinden.
Vieles hat sich den vergangenen Jahrzehnten in unserer Gesellschaft verändert. Man denke nur an den veränderten Konsum von Massenmedien. Die Nachrichtenartikel sind immer kürzer geworden, die Schnitte im Fernsehen und in den Filmen werden immer schneller, es gibt immer mehr schnelle Plots im Fernsehen: aber der Zeitplan der Leichtathletik-Weltmeisterschaften dämmerte vor sich hin. Zeichen der Warnung gibt es bereits genug. Dem internationalen Schwimmverband ebenso wie dem internationalen Kunstturnverband sind die Reformen ihrer Wettkämpfe gelungen. Basketball, Handball und Volleyball werden immer attraktiver und füllen große Sportarenen. Die Europameisterschaft der Frauen im Fußball konnte ohne Mühen mit ihrer Attraktivität die gleichzeitig stattfindende Weltmeisterschaft der Leichtathleten überflügeln.
Abrahamson meint deshalb folgerichtig: “Sooner or later – and devoted fans do not want to hear it, but the truth is it`s going to be sooner – it`s going to be ugly for track and field if it doesn`t start changing”.
Deshalb sollte die Dauer der Weltmeisterschaft von zehn auf sechs Tage gekürzt werden. Die Starterfelder in den einzelnen Disziplinen sind radikal zu verkleinern. Dies kann möglicherweise dadurch erreicht werden, dass ein Qualifikationssystem für die Weltmeisterschaften in jedem Kontinentalverband etabliert wird. Die Anzahl der Wettkämpfe muss reduziert werden. Jede Wettkampfsession sollte am Abend maximal 2 Stunden dauern. Noch viele Vorschläge wurden benannt und liegen bereits vor und lassen sich auch heute noch nach den „Eugene“-Erfahrungen benennen. Nicht jeder wird sich als geeignet erweisen, doch sollte immer dabei bedacht sein, dass wir uns nicht im Jahr 1972 befinden, wo noch jeder Leichtathletikwettkampf bei den Olympischen Spielen eine Attraktion war, sondern dass wir das Jahr 2022 schreiben und dass sich die Jugend immer mehr von der Leichtathletik abgewendet hat.
Wenn „change or be changed“ die neue Maxime für die dringend erforderlichen Reformen von World Athletics sein soll, so muss allerdings bedacht werden, dass hierzu auch ein personeller Wandel erforderlich ist. Einer nationalistisch ausgerichteten Personalpolitik, wie sie von den Präsidenten der Weltleichtathletik in den vergangenen Jahrzehnten verfolgt wurde, muss dringend ein Ende bereitet werden. Unter Nebiolo war das Headquarter der IAAF nahezu gänzlich von italienischen Mitarbeitern geprägt. Diack tauschte den Mitarbeiterstab nahezu gänzlich durch Franzosen aus. Coe hat mittlerweile die Zentrale von World Athletics zu einer britischen Hochburg umgebaut und dabei auch noch viele britische Agenturen mit besonderen Aufträgen versehen. Die Personalkosten haben sich dadurch nicht unerheblich ständig erhöht. Die Führung von World Athletics muss deshalb ebenso auf den Prüfstand gestellt werden wie das hauptamtliche Personal im Headquarter in Monaco. Die dort anzutreffende finanzielle Situation von World Athletics ist – nicht nur verursacht durch die Corona Pandemie – als äußerst bedenklich zu bezeichnen. Die noch 2015 bestehenden Rücklagen wurden von der neuen Führung von World Athletics nahezu völlig aufgebraucht und die Haushaltsprobleme von World Athletics haben sogar während der Pandemie dazu geführt, dass das IOC um ein Darlehen gebeten wurde.
Nationales Warnsignal
Aus deutscher Sicht muss das nationale Warnsignal, das bereits vor und während der Weltmeisterschaft in Eugene immer deutlicher sichtbar wurde, noch sehr viel ernster genommen werden, als dies für die Probleme von World Athletics der Fall ist. Die deutsche Leichtathletik befindet sich seit mehr als einem Jahrzehnt auf einem Abwärtskurs, der in Eugene hoffentlich seinen Höhepunkt erreicht hat.
Im Medaillenspiegel erreichte der DLV mit zwei Medaillen Platz 19 in der Nationenwertung. Noch bedenklicher sind die erreichten Nationenpunkte in der Platzierungstabelle (Platz 1-8) von World Athletics, wo Deutschland Platz 14 mit 32 Punkten einnimmt. Gastgeber USA konnte uneinholbar 328 Nationenpunkte erreichen. Dabei muss bei diesem Ergebnis berücksichtigt werden, dass Russland, die zweit erfolgreichste Leichtathletiknation der Welt, nicht am Start gewesen ist und es mittlerweile mit 48 Wettkampfentscheidungen wesentlich mehr als bei früheren Leichtathletik -Weltmeisterschaften gibt und damit sich eigentlich die Chance, in der Nationenwertung eine höhere Punktzahl zu erreichen vor dem Hintergrund der meist zu großen DLV-Mannschaften eigentlich sehr günstig sein müsste.
Zum Vergleich sei auf die in den letzten 30 Jahren aus deutscher Sicht erfolgreichste Leichtathletik WM von Sevilla im Jahr 1999 hingewiesen. Dort erreichte die deutsche Nationalmannschaft unter Leitung von Vize-Präsident Rüdiger Nickel und Leistungssportdirektor Dr. Schubert zwölf Medaillen, in der Nationenwertung wurde Russland auf den dritten Platz verwiesen und es wurden 151 Nationen Punkte erreicht. (vgl.Tab.1)
Jahr | Ort | Ereignis | Medaillen | Rang | Nationenpunkte | Rang |
1983 | Helsinki | WM | BRD 9 | 4. | 96 | 4 |
DDR 19 | 1. | 191 | 3. | |||
1984 | Los Angeles | OS | BRD 11 | 3. | 132 | 3. |
1987 | Rom | WM | BRD 3 | 17. | 67 | 5. |
DDR 31 | 1. | 264 | 1. | |||
1988 | Seoul | OS | BRD 4 | 7. | 65 | 5. |
DDR 27 | 3. | 243 | 3. | |||
1991 | Tokyo | WM | 17 | 3. | 194 | 3. |
1992 | Barcelona | OS | 10 | 3. | 119 | 3. |
1993 | Stuttgart | WM | 8 | 6. | 130 | 3. |
1995 | Göteburg | WM | 6 | 3 | 110 | 3. |
1996 | Atlanta | OS | 7 | 4. | 113 | 4. |
1997 | Athen | WM | 10 | 2. | 127 | 2. |
1999 | Sevilla | WM | 12 | 3. | 151 | 2. |
2000 | Sydney | OS | 5 | 8. | 101 | 3. |
2001 | Edmonton | WM | 7 | 9. | 109 | 9. |
2003 | Paris | WM | 4 | 27. | 73 | 5. |
2004 | Athen | OS | 2 | 23. | 47 | 10. |
2005 | Helsinki | WM | 7 | 11. | 74 | 7. |
2007 | Osaka | WM | 7 | 5. | 87 | 5. |
2008 | Peking | OS | 1 | 30. | 62 | 7. |
2009 | Berlin | WM | 9 | 4. | 112 | 4. |
2011 | Degu | WM | 8 | 4. | 91 | 5. |
2012 | London | OS | 8 | 10. | 103 | 4. |
2013 | Moskau | WM | 7 | 4. | 103 | 3. |
2015 | Peking | WM | 8 | 7. | 113 | 4. |
2016 | Rio de Janeiro | OS | 3 | 7. | 73 | 6. |
2017 | London | WM | 5 | 9. | 78 | 6. |
2019 | Doha | WM | 6 | 7. | 69 | 7. |
2021 | Tokyo | OS | 3 | 13. | 51 | 11. |
2022 | Eugene | WM | 2 | 19. | 32 | 15. |
Tab.1: Medaillenerfolge und erreichte Nationenpunkte des DLV bzw. des DVfL (bis 1989) bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen im Zeitraum von 1983 bis 2022
Vor diesem Hintergrund sind eine Reihe kritischer Fragen auch an die Verantwortlichen im DLV zu richten, deren Beantwortung dringend geboten ist.
Wie ist es möglich, dass der DLV eine Nationalmannschaft von 80 Athletinnen und Athleten und 62 Betreuern zur WM in Eugene entsendet, obgleich in den Weltbestenlisten des Jahres 2022 mit ihren 48 verschiedenen Wettbewerben bei den Männern nur acht Wettbewerbe mit insgesamt 17 Athleten und bei den Frauen sieben Wettbewerbe mit insgesamt 13 Athletinnen ausgewiesen werden und das für internationale Wettkämpfe übliche Kriterium „Endkampf Chance“ bei der Nominierung für Eugene 2022 offensichtlich nicht beachtet wurde?
Welche Rolle spielte POTAS für die Nominierung der deutschen Mannschaft? Die Cheftrainerin sprach in diesem Zusammenhang von einer Belohnung für die Athletinnen und Athleten und berief sich dabei auf Kriterien des POTAS-Systems. Teilt die DLV Führung diese Auffassung, die jedoch für den Steuerzahler absolut inakzeptabel ist? Treffen die in den Medien zitierten Aussagen der Cheftrainerin zu, so müsste alles getan werden, dass die Anwendung von POTAS sofort eingestellt wird!
Wie erklärt sich der DLV, dass er bei POTAS im Ranking der olympischen Fachverbände die Spitzenposition einnimmt, doch seine Erfolge bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen seit mehreren Jahren rückläufig gewesen sind?
Die Reihe der Fragen, die sich auf den Auftritt der deutschen Nationalmannschaft bei der WM in Eugene beziehen, müsste dringend ergänzt werden. Eine teilweise fachlich gut begründete Kritik, konnte hierzu auch in einigen deutschen Tageszeitungen, so u.a. in der SZ gelesen werden.
Unabhängig vom Misserfolg der deutschen Nationalmannschaft in Eugene stellen sich aber auch eine ganze Reihe weiterer Fragen, die sich auf das Personal und die Führungsstrukturen des DLV beziehen.
Der DLV hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten einen erheblichen Mitgliederschwund aufzuweisen. Hatte er noch 2005 899.520 Mitglieder, so waren es im Jahr 2021 768.476, also 131.044 weniger Mitglieder, was einem Rückgang von 6,8 % entspricht. Allein im Zeitraum von 2020 bis 2021 hat der DLV weitere 30.343 Mitglieder verloren (-3,8 %), obgleich der vor fünf Jahre neu gewählte Präsident als sein wichtigstes Projektziel die Erreichung der Millionengrenze bekannt gab. Wurden in den letzten fünf Jahren zur Gewinnung neuer Mitglieder Maßnahmen ergriffen? Wenn ja: welche und warum haben diese keinen Erfolg erbracht?
Es wäre ein großer Fehler, wenn man den Mitgliederrückgang nur mit der Corona-Pandemie begründen würde, wie dies in diesen Tagen des Öfteren der Fall ist. Immerhin gibt es Sportarten, die trotz der Pandemie einen Mitgliederzuwachs aufzuweisen haben, so wuchsen zum Beispiel in Rheinland-Pfalz u.a. die Sportarten Fußball +1 %, Schwimmen +2 %, Tennis +3 %, Radsport +3 % im zweiten Jahr der Corona-Pandemie.
Welche Initiativen hat der DLV ergriffen, um den sportpolitisch völlig inakzeptablen „sportlichen Bewegungslockdown“ der vergangenen drei Jahre wegen der „Corona-Pandemie zu verhindern, verursacht durch die sportfeindlichen Beschlüsse der Bunderegierung??
Was wird von den Verantwortlichen des deutschen Leichtathletikverbandes gegen den noch ständig wachsenden Bedeutungsverlust der Leichtathletik an den Universitäten und Hochschulen sowie im Sportunterricht des öffentlichen Schulwesens getan? Welche Initiativen ergreift der DLV, um die ehemals wichtigen schulischen Wettkampfstrukturen der Leichtathletik wieder zu beleben? Welche Rolle spielt „JUGEND TRAINIERT FÜR OPLYMPIA“ für die Führung des deutschen Leichtathletikverbandes?
Auf welcher fachlichen Grundlage und aufgrund welcher sportfachlichen und administrativen Leistungen und Erfolgen in der Leichtathletik wurde die Cheftrainerin von wem berufen?
Auf Grundlage welcher fachlichen Kompetenz und mit welchen beruflichen Erfahrungen im Bereich der Personalführung und des Managements wurde der Vorstand von wem berufen?
Warum sind Präsident und Vorstand bei den ersten drei Wettkampftagen der WM in Eugene nicht vor Ort gewesen? Ist ein Besuch des „Ball des Sports“ wichtiger als die Anwesenheit bei der für die deutsche Leichtathletik wichtigsten internationalen Veranstaltung?
Durch welche eigenständigen wissenschaftlichen Leistungen und Forschungserfolge zeichnet sich der so genannte „Science Coach“ des DLV aus?
Warum werden vom Vorstand in dessen öffentlichen (mündlichen und schriftlichen) Äußerungen unzählige Anglizismen verwendet, wenngleich Anglizismen, die oft nicht passend sind und auch nur wenige verstehen, noch lange keine Leistung ersetzen?
Angesichts der Abwärtsentwicklung des DLV muss auch die Frage geklärt werden, ob weiterhin das Präsidentenamt mit dem offensichtlich sehr zeitaufwändigen Amt eines Oberbürgermeisters zu vereinbaren ist. Der Präsident muss gefragt werden, wie viel Zeit er pro Woche für das Führungsamt im DLV aufbringen kann und es ist zu prüfen, welche Ziele und Projekte er während seiner bisherigen fünfjährigen Amtszeit erreicht bzw. aufzuweisen hat.
Einmal mehr hat sich auch bei der WM in Eugene gezeigt, dass die Notwendigkeit von sog. „Bundestrainern“ überprüft werden muss. Zu überprüfen ist dabei auch die wissenschaftliche Weiterqualifikation des Trainerstabs des DLV ebenso wie die Instrumente zur Überprüfung der fachlichen Kompetenz.
Die deutsche Leichtathletik, das haben die Weltmeisterschaft in Eugene 2022 in aller Deutlichkeit offengelegt, benötigt dringend eine radikale Reform.
Im Grunde müsste dieser Misserfolg auch zu personellen Folgen führen. Vermutlich muss dieser Misserfolg auch personelle Folgen haben. Doch hierbei bedarf es keiner vorschnellen Entscheidungen, zumal personelle Alternativen aus dem Verband heraus selbst nicht zu erkennen sind. Sehr viel wichtiger ist vielmehr, dass die Führung des Verbands zu einer grundsätzlichen Fehleranalyse bereit ist und Fehler als das erkennt, zu was sie immer schon sich als gut erwiesen haben: Aus Fehlern kann gelernt werden. Doch dazu ist eine transparente Analyse, ein Leistungs- und Arbeitswillen und eine Bereitschaft zur Übernahme echter Verantwortung erforderlich.
Es bleibt nur zu hoffen, dass die bevorstehenden „European Games“ in München nicht erneut ein Anlass zum Selbstbetrug werden. Angesichts der Leistungsbilanz der europäischen Leichtathletiknationen bei der WM in Eugene kann eine zweistellige Medaillenbilanz zu Gunsten des deutschen Gastgebers wohl nicht ausgeschlossen werden. Unter den ersten zehn Nationen im Medaillenspiegel von Eugene befindet sich mit Polen auf dem achten Platz nur eine einzige europäische Nation, womit einmal mehr auch gezeigt werden kann, in welchem Niedergang sich der europäische Leichtathletikverband seit mehreren Jahren befindet.
Die Medaillen und die Erfolge in München seien den Athletinnen und Athleten der deutschen Nationalmannschaft gegönnt. Doch Budapest 2023 steht bereits vor der Tür und die Vorbereitungszeit für Paris 2024 ist nur noch kurz.
Wenn es für die DLV Führung zu deren Selbstverständnis gehört, dass man sich unter den besten Leichtathletiknationen der Welt behaupten möchte, so kann München 2022 allenfalls als ein Aufatmen gesehen werden, um sich endlich den wirklichen Herausforderungen in der Verbandsentwicklung zu stellen.
Letzte Bearbeitung: 4.8.2022
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Prof. Helmut Digel
Quelle: „SPORT NACHGEDACHT“
https://germanroadraces.de/?p=201970
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