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24
09
2008

Auch wir machten noch zusätzliche Läufe im Tiergarten, 10-km-Läufe auf dem Kurfürstendamm, veranstalteten den ersten Frauenlauf, einen Staffel-Lauf, Neujahrs-, Silvesterläufe. Ich sage: Wir haben die Berliner zu Läufern gemacht!

„Beim Laufen liegen Triumph und Tragödie eng zusammen“ – Das Interview von Martin Grüning in RUNNERS WORLD mit Horst Milde zum 35-jährigem Jubiläum des BERLIN-MARATHON am 28. September 2008

By GRR 0

Am 28. September feiert der Berlin-Marathon sein 35-jähriges Jubiläum. Wir sprachen mit Horst Milde, der 1974 diesen Marathon aus der Taufe hob und anschließend über 30 Jahre in Berlin 350 Laufveranstaltungen mit knapp 1,3 Millionen Teilnehmern organisierte.

Milde ist nicht nur der „Mr. Berlin-Marathon“, sondern auch über Jahrzehnte ein kritischer Beobachter der weltweiten Laufszene gewesen

RUNNER’S WORLD: Mögen Sie überhaupt noch gerne über den Berlin-Marathon sprechen?

HORST MILDE: Ja sicher, wie können Sie nur fragen, der Marathon ist schließlich einer meiner „Kinder“! Auch wenn ich nicht mehr im operativen Geschäft tätig bin und die anderen machen lasse, die Lust auf den Marathon wird immer bleiben.

Welches Ereignis aus der 35-jährigen Geschichte der Veranstaltung kommt Ihnen spontan in den Sinn?

Das Jahr 1990! Der erste Marathon durchs Brandenburger Tor, als Berlin Ost und Berlin West zusammenkamen und die ganze Welt nach Berlin schaute. Und dann kommen mir natürlich auch alle Weltrekorde in den Sinn. Jeder Race director wünscht sich ja einen solchen, aber wenn er da ist, ist es wie ein Gottesgeschenk. Es gehört einfach auch eine verdammte Portion Glück dazu.

Und welche Namen fallen Ihnen ein? Der erste Weltrekordler, der erste Tote…

…ja, ja, beim Marathon liegen Triumph und Tragödie eng zusammen. Laufen ist ja nicht nur Vergnügen, sondern kann auch überfordern. Aber man behält nur die positiven Erlebnisse im Gedächtnis. Ein einzelner Name kommt mir nicht. Ich habe Jahrzehnte an diesem Marathon mitgestaltet, da sind die Erinnerungen ein großes Mosaik.

1974, erster Berlin-Marathon. Was für Läufer waren damals am Start?

Es war der harte Kern der Berliner Langstreckenläufer. Die Läufer wurden ja damals für ihr Tun noch belächelt. Langstreckenläufer waren Unikate und wenn sie liefen, wurden Ihnen überhebliche Kommentare hinterhergerufen, die eigentlich nur das Unverständnis für das sportliche Laufen ausdrückten. Die meisten Läufer trainierten im Grunewald, wer durch die Stadt bzw. auf der Straße lief, war ein Exot. Man „trainierte“, niemand lief einfach nur so. Und unser erster Marathon fand im Grunewald parallel zur Avus statt. Natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Das war absolut ungewöhnlich, dass da Leute 42 Kilometer am Stück rannten. Von den Olympischen Spielen war das bekannt, aber dass dies auch Menschen freiwillig tun, die keine Aussichten haben, zu Olympischen Spielen zu kommen… – unvorstellbar.
Heute kann man sich ob dieser Dinge eines Lächelns nicht erwehren, aber es war der Anfang einer großen Erfolgsgeschichte. Denn stellen Sie sich vor, damals starteten 286 Läufer und heute müssen wir bei  40.000 die Anmeldung schon fünf Monate im voraus schließen.

1981, der erste City-Marathon in Berlin. War die Zeit reif, die Läufer mitten durch eine Stadt laufen zu lassen?

Ja, das zeigten andere Stadt-Marathons, zum Beispiel der New Yorker. Dort war inzwischen aus einem Lauf im Central Park ein Spektakel durch fünf Stadtteile geworden. Der Durchbruch kam bei uns aber erst, als die Franzosen, als alliierte Schutzmacht, einen 25-km-Lauf mitten durch die Stadt organisierten. In meiner Eigenschaft als Berliner Volkslaufwart war ich stinksauer, dass eine Organisation, die nichts mit dem Sport zu tun hatte, sich das Recht rausnahm, für diese Veranstaltung einen Termin zu blockieren. Aber der Vorteil war: die Franzosen hatten, anders als wir als Verein, die Macht, einen solchen Lauf durch die Stadt durchzusetzen.

Damals galt: alliiertes Recht bricht deutsches Recht. Wenn die einen Panzer auf die Kreuzung gestellt haben, dann war das so. Am Tag  nach der Bekanntgabe, dass die „25 de Berlin“ durch die City führen, habe ich an die Polizei geschrieben, dass ich auch den Marathon durch die City führen will. Ich wollte am Reichstag starten und auf dem Kurfürstendamm enden und meine „Fachleute“ für die Streckenplanung legten eine Strecke fest, die auch am Checkpoint Charlie vorbeiführte. Die Polizei lehnte dies als völlig unmöglich ab, da der Zugang zum sowjetischen Sektor immer frei bleiben müsse.

Ich fand zum Glück die Gelegenheit, den damals höchsten politischen Beamten der Alliierten beim Abendessen zu treffen, Mr. John Kornblum, der später auch erster amerikanischer Botschafter in Berlin wurde. Und John Kornblum sagte mir: „ Da stellen wir einen amerikanischen Offizier und einen deutschen Polizisten hin, die, wenn ein Diplomat durch will, eine Lücke im Feld abwarten und ihn dann durchwinken…“

Beim nächsten Treffen mit der Polizei bekam der Verantwortliche fast einen Herzanfall, als er das hörte, aber die Strecke führte schlussendlich tatsächlich am Checkpoint Charlie vorbei. Eine heiße Kiste!

Die 80er-Jahre: Die Joggingwelle schwappte aus den USA herüber. Die Teilnehmerzahlen legten in Berlin Jahr für Jahr zu, war Ihnen das noch geheuer?

Man hat eigentlich gemacht, gemacht, gemacht. Das Ausmaß war mir nie bewusst. Und wir haben ständig etwas Neues auf die Beine gestellt: Diskussions- bzw. Läuferforen in der Universität, Trainings zur Marathonvorbereitung angeboten und so weiter. Wir haben auch permanent versucht, den Marathon in die Medien zu bringen, das Laufen an sich zu promoten, den Gesundheitsaspekt rauszustellen. Und die Polizei zeigte immer weniger Widerstand, es gab immer mehr Laufveranstaltungen.

Auch wir machten noch zusätzliche Läufe im Tiergarten, 10-km-Läufe auf dem Kurfürstendamm, veranstalteten den ersten Frauenlauf, einen Staffel-Lauf, Neujahrs-, Silvesterläufe. Ich sage: Wir haben die Berliner zu Läufern gemacht!

In den ersten Jahren des Marathons waren Sie ja hauptberuflich Konditormeister und nicht Race director. Was hatte Priorität?

Meine Frau wird dies hoffentlich nicht lesen, aber: Der Marathon hatte Priorität. Wie ich das geschafft habe, ist mir heute ein Rätsel. Bis 1998 hatten wir noch das Konditoreigeschäft. Wir hatten 20, 25 Angestellten, drei Kinder und einen Garten, das ging nur, weil wir das Laufen zur Familien-Angelegenheit erklärt haben (Sohn Mark Milde ist heute Race director des Berlin-Marathons, Anm. d. Red.).

Alles rund um die diversen Lauf-Veranstaltungen wurde am Ess-Tisch besprochen. Und es gab ein tolles Netzwerk: Ehemalige SCC-Athleten, wie zum Beispiel Bodo Tümmler, der 1500-m-Europameister von 1966, übernahmen beim Marathon Verpflegungsstationen. Oder aus der Schule meiner Kinder haben wir viele Helfer rekrutiert, die über Jahre in der Organisation dabei waren.

Fiel es Ihnen, als ehemaligem Leistungssportler, schwer, den wachsenden Wunsch zu akzeptieren, dass der Marathon nicht nur etwas für Eliteläufer ist?

Jeder der läuft, ist bei mir willkommen! Nicht umsonst war ich der erste Großveranstalter, der auch das Walking und Jugendläufe miteingebaut hat. Ich habe mich nie gescheut, mir bei anderen etwas abzugucken und die New Yorker mit dem legendären Fred Lebow und seinem Nachfolger Alan Steinfeld haben uns gezeigt, wie man einen Marathon auch sinnvoll den Freizeitläufern öffnen kann.

Als ich 1983 beim New York Road Runners-Club zu Besuch war, habe ich mir Aktenordner voll mit Material mitgenommen und den beiden gesagt: „Ich bin der Erste, der jede gute Idee von Euch sofort am nächsten Tag in Berlin umsetzt.“ Und so war es auch.

1990, der Marathon in die Wiedervereinigung. Was ging am Abend nach dem Marathon in Ihnen vor?
 

Am Abend wusste ich, dass dies ein Ereignis war, das nie wiederkehrt. Ich sah die große politische Bedeutung, aber ich war auch stolz – ganz Sportler –, dass das große Interesse mit einer sportlichen Höchstleistung gekrönt worden war. Mit den Siegen von Steve Moneghetti, einem Australier, der als Erster in Berlin unter 2:10 Stunden blieb und „unserer“ Uta Pippig, dem Star des eigenen Vereins, war ich einfach nur unendlich glücklich.

Dann kam die Zeit, in der es hieß „jeder kann einen Marathon laufen“, was Gefahren barg – wie wir heute wissen.

Wenn jemand schreibt „In drei Monaten zum Marathon – so geht’s“, dann ist das gefährlich, nach unserem heutigen Kenntnisstand. Da müssen vor allem die Medien, also ihr, zurückrudern. Wir haben ja auch schon vor 10, 15 Jahren Presse-Mitteilungen rausgegeben, in denen wir an die Läufer appelliert haben: „Wenn ihr merkt, ihr könnt nicht mehr, dann hört ihr am Rathaus Steglitz auf und rennt erst im nächsten Jahr den ganzen Marathon.“

So etwa ab Ende der achtziger Jahre kam es mir nicht mehr auf steigende Finisherzahlen an, sondern dass die Läufer gesund ins Ziel kamen. Die Läufer waren zunehmend untrainierter, das zeigte sich ja unzweideutig in den dramatisch schlechteren Durchschnitts-Finisher-Zeiten, da musste ich als Race Director einfach so denken.

1998, der erste Weltrekord in Berlin. War dieser nötig war, um dem Berlin-Marathon die internationale Reputation zu verschaffen, die ihm zustand?

Erst der Rekord von Ronaldo da Costa verschaffte die endgültige Akzeptanz als superschnelle Strecke und hob uns auf eine Stufe mit den ganz großen in London, New York oder Boston. Da dachte ich kurz: „Jetzt kannst du Schluss machen. Den Weltrekord, mehr braucht man nicht als Veranstalter.“

Und 1999 der nächste Weltrekord…

…Tegla Loroupe! Also Ronaldo war – noch – ungeplant, aber Teglas Rekord war geplant und die folgenden dann sowieso: 2001 Naoko Takahashi als erste Frau unter 2:20 Stunden, Paul Tergat 2003 unter 2:05 Stunden und Haile Gebrselassie 2007.  

Galt für Sie die Devise, wenn vorne die Zeiten stimmen, kommt auch die Masse?

Nein, überhaupt nicht. Mir war immer wichtig, möglichst viele Sportler für den Marathon zu werben. Die Masse der Läufer lag mir extrem am Herzen. Oder sagen wir es so: Für mich war der Breitensport schon immer eine Herzensangelegenheiten. Fernsehen und Sponsoren hatten aber natürlich Interesse, dass vorne die Zeiten stimmten, berechtigterweise, anders bekommt man keine überregionale Aufmerksamkeit. Das war mir auch immer bewusst.

Und wenn der Weltrekord passiert ist, fällt man dann in ein tiefes Loch?

Nein, das kann man sich nicht leisten. Da kommen noch zigtausende, denen eben auch zigtausendfach was zustoßen kann. Da schaltet man als Veranstalter  – auf jeden Fall ging es mir so – sofort um, und konzentriert sich auf das nachkommende Läuferfeld. In ein Loch kann man erst fallen, wenn die Krankenhäuser nach dem Zieldurchlauf des letzten Läufers „grünes Licht“ geben.   

Nach dem Rückblick zuletzt der Blick in die Zukunft: Wie viele Teilnehmer wird der Berlin-Marathon 2015 haben?

Ich glaube, dass die großen Laufveranstaltungen immer mehr Zuspruch bekommen und einige kleine darunter leiden müssen, aber der Berlin-Marathon sollte dennoch nicht mehr Teilnehmer 2015 haben als er jetzt hat! Ein immer Mehr darf nicht zu Lasten des Services für den einzelnen Läufer gehen.

eder der Teilnehmer muss auch in Zukunft als individueller Sportler angesprochen werden können.

Könnte es sein, dass der jahrzehntelange Laufboom auch wieder abebbt?

Quatsch! Gelaufen wird immer! Wir wissen doch aus der Menschheitsgeschichte, dass wir zum Laufen geboren sind.

Interview: Martin Grüning in RUNNERS WOLRD – Oktober 2008 

ZUR PERSON: Als Leichtathlet startete Horst Milde, der aus dem Berliner Bezirk Tempelhof stammt und noch heute dort wohnt, für den TSV Tempelhof-Mariendorf. Später wechselte er als Mittelstreckenläufer zum SCC Berlin und wurde mit der 3 x 1000 m-Staffel des Klubs zweimal Deutscher Meister (1964 und 1965). Am 8. November 1964 startete Horst Milde mit dem Crosslauf  am Berliner Teufelberg den ersten Berliner Volkslauf mit 700 Teilnehmern.

Zu dieser Zeit studierte der gelernte Konditormeister an der Freien Universität (FU Berlin) Betriebswirtschaft. Später übernahm er der Diplom-Kaufmann die Konditorei Milde am Tempelhofer Damm, die er gemeinsam mit seiner Frau Sabine bis 1998 führte. Das Büro in de rBackstube wurde Ideenfabrik für die Berliner Laufbewegung. Erst nach der Aufgabe der Konditorei arbeitete Horst Milde vollberuflich als Geschäftsführer der SCC-Running GmbH.

Seit 1999 ist er Mitglied im Board of Directors des Weltmarathonverbandes AIMS. 30 Jahre lang war Milde Renndirektor des Berlin-Marathons, bevor 2004 von der Leitung der Veranstaltungen zurücktrat, um sie Jüngeren zu überlassen.

Noch heute ist Milde, der am 24. Oltober seinen 70 Geburtstag feiert, Sprecher der German Road Races (GRR), der Interessengemeinschaft der deutschen Straßenlaufveranstalter.

author: GRR

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