Drei Jahre hatte sich der Schlaks aus Schanghai gequält
Auferstehung in 13,09 Sekunden – Chinas Held Liu Xiang beendet seine Leidenszeit und siegt bei den Asienspielen über 110 Meter Hürden. Frank Hollmann im Tagesspiegel
Chinas Volksheld ist zurück. Mit vorgestreckter Brust sprintete Liu Xiang über die Ziellinie der Asienspiele von Guangzhou. Das Ende einer langen, für viele Chinesen schier unendlichen Leidenszeit. Vor mehr als sechs Jahren gewann der Hürdensprinter aus Schanghai in Athen das erste Olympiagold für einen Asiaten auf der Tartanbahn. Vor zwei Jahren, im Sommer 2008, litten hunderte Millionen chinesischer Sportfans mit, als Liu mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Pekinger Vogelnest-Stadion humpelte.
Die große Goldhoffnung der Gastgeber im vielleicht spektakulärsten Stadion der olympischen Geschichte glich einem Häufchen Elend. Die Achillessehne schmerzte zu sehr, der am Boden zerstörte Liu Xiang wurde zu einer verbleichenden Erinnerung an Chinas Angriff auf die Weltspitze der Leichtathletik.
Den Vorlauf der Asienspiele hatte Liu Xiang am Montag immerhin souverän gewonnen. Aber die Zeit: 13,48, mehr als eine halbe Sekunde langsamer als bei seinem Weltrekord 2006. In der Leichtathletik des 21. Jahrhunderts sind das Lichtjahre. Doch beim Hürdenfinale im vollbesetzten Stadion von Guangzhou zelebrierte Liu Xiang den Schlusspunkt des Abends. 13,09 Sekunden, zwei Zehntel schneller als die Konkurrenz. Mit dieser Zeit hätte der lange verletzte Athlet in Peking Silber gewonnen, bei der WM 2009 in Berlin hätte es sogar für Gold gereicht.
Gut habe er sich bei seinem Lauf gefühlt, sagte Liu Xiang danach strahlend in die Kameras, aber mit dieser Zeit habe er niemals gerechnet. Dabei sei er noch nicht mal mit voller Kraft gelaufen: „Ich habe noch Reserven!“
Drei Jahre hatte sich der Schlaks aus Schanghai gequält. Nach Olympia hatten ihm Sportmediziner in einer aufwendigen Operation Kalkablagerungen von der Achillessehne geschabt, die Liu Xiang zuvor bei jedem Schritt schmerzte. Mit schier endlosen Trainingseinheiten im Kraftraum brachte er sich wieder in Form, trainierte abgeschirmt mit seinem väterlichen Freund und Coach Sun Haiping. Der ließ seinen Schützling nur selten zum Leistungsnachweis ans Licht der Öffentlichkeit. Und wenn doch, gerieten die Auftritte zur nationalen Enttäuschung. Zeitweise lief ihm sogar die bestenfalls zweitklassige nationale Konkurrenz davon.
All das ist nun vergessen. Nach dem Erfolg bei den in olympischen Dimensionen ausgetragenen Asienspielen hat Liu offenbar Blut geleckt. Bei der WM in Südkorea nächstes Jahr und erst recht bei den Olympischen Spielen in London 2012 wolle er „noch besser laufen“. Als er das verkündet, leuchten seine Augen, als wäre aller Ballast von seinen Schultern gefallen, als würde ihn die Hoffnung seines Milliardenvolkes nicht mehr belasten.
Vielleicht trägt ihn die Euphorie noch fünf Jahre, dann wäre er 32 Jahre alt. 2015 findet die Leichtathletik-WM in Peking statt – Liu Xiangs Chance, die Schmerzen des Sommers 2008 mit einem Siegerlachen zu überstrahlen.
Frank Hollmann im Tagesspiegel, Donnerstag, dem 25. November 2010