Der Beitrag des früheren Weltrekordlers über 100 m (9,86 Sek.) zur leidenschaftlichen Kontroverse um die Authenzität eines am Ende tempogedrosselten und verjuxten 100-m-Laufs in 9,69 Sekunden ist vermutlich nicht der überzeugendste.
Auf die Füße getreten – Reaktion eines Insiders oder einfach nur verletzte Eitelkeit: Carl Lewis‘ Zweifel am jamaikanischen Olympiasieger Usain Bolt versetzen die Leichtathletik in Aufregung. Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung
Es ist Showtime jetzt für Usain Bolt. An diesem Mittwoch darf der Jamaikaner in der populären, landesweit übertragenen Letterman-Show des US-Senders CBS den Amerikanern erklären, wie es dazu kam, dass er in Peking dreimal Sprintgold gewann, jedesmal mit aberwitzigen Weltrekordzeiten. Für gewöhnlich hat die jüngste Generation der Athleten von der Karibikinsel mit Amerika nicht mehr viel am Hut.
Dutzende jamaikanische Leichtathleten waren in der Vergangenheit an die Universitäten der USA gelockt worden. Die meisten verschleuderten dort ihr Talent und gingen dem Sport verloren. Seitdem bleibt die Nachhut im Lande und nährt sich redlich. Siehe Peking! Die Einladung von CBS freilich hat Bolt nicht ausschlagen wollen, des Honorars wegen. Es wird kaum im Peanutbereich liegen. Zudem bietet das Gespräch Bolt die Chance, einem Landsmann des Talkers Letterman vor Millionenpublikum kräftig auf die Füße zu treten: Carl Lewis, der leicht angestaubten Ikone der US-Leichtathletik.
Als Bolt von den Spielen und den Meetings in Zürich und Brüssel (Antrittsgage: vermutlich je 100.000 Dollar) heimkehrte nach Kingston, platzte mitten hinein in den Empfang nicht nur ein Regenguss, sondern auch ein harsches Wort des in Peking vom Schwimmer Phelps (14 Olympiasiege) als eifrigstem Goldsammler der Geschichte abgelösten Lewis (9). Der, in Glanzzeiten als King Carl inthronisiert, erlaubte sich in einem Interview mit dem US-Magazin Sports Illustrated (SI) eine Majestätsbeleidigung, als er hinter Bolts 9,69 Sekunden von Peking ein Fragezeichen setzte.
Lewis in SI: "Wenn mich Leute wegen Bolt befragen, sage ich, er könnte der Größte aller Zeiten sein. Aber wenn sich jemand innerhalb eines Jahres von 10,03 auf 9,69 Sekunden verbessert, wenn du das dann nicht hinterfragst in einem Sport mit diesem seinem aktuellen Ruf, bist du ein Dummkopf. Punkt!" Dieses Thema höre nicht auf, "in mir zu arbeiten".
Verletzte Eitelkeit
Der Beitrag des früheren Weltrekordlers über 100 m (9,86 Sek.) zur leidenschaftlichen Kontroverse um die Authenzität eines am Ende tempogedrosselten und verjuxten 100-m-Laufs in 9,69 Sekunden ist vermutlich nicht der überzeugendste. Lewis selbst ist aber der prominenteste aller Skeptiker und folglich der am häufigsten zitierte. Es muss daher nicht überraschen, dass der Leichtathletik-Weltverband (IAAF), dessen Präsident Lamine Diack (Senegal) die drei Olympiasiege Bolts höher einstufte als die vier von Lewis 1984, dem Kritiker spontan in die Parade fuhr.
Sergei Bubka, Diacks Stellvertreter und Weltrekordler im Stabhochsprung, musste sagen: "Wir brauchen Athleten mit Persönlichkeit, brauchen Vorbilder für die junge Generation, sie bringen der Leichtathletik Aufmerksamkeit. Bolt ist ein Held, seine Weltrekorde sind einzigartig."
Carl Lewis hat sich mit seinem verklausulierten und auch andere erfolgreiche Jamaika-Sprinter/innen einschließenden Verdacht auf die Seite jenes Teils zweier Glaubensgemeinschaften geschlagen, der über den Hinweis auf natürliche Antriebsquellen für Bolts Sprintexplosion nur den Kopf schüttelt. Auf nichts als Natur bei Bolt hatte die Wissenschaftlerin von der Westindien-Universität in Mona, Rachel Irving, verwiesen. Bolts Fabelzeit sei einfach nur auf "Leistungsverbesserungsgene" zurückzuführen. Den Skeptikern noch unheimlicher wird die Causa angesichts von Experten-Hochrechnungen. Die schraubten die 9,69 auf 9,60 bis 9,54 Sekunden herunter, indem sie volles Tempo bis ins Ziel und eine zulässige Windunterstützung, die in Peking fehlte, in die Kalkulation einbrachten.
"Sie hatten versucht, aus Nichts etwas zu machen"
Dass Jamaikaner vor allem wegen der Qualität der Coaches, des Schulsportsystems, der Graswurzelböden und der typischen Inselernährung (Süßkartoffeln) so schnell sind, wie von der Pro-Bolt-Fraktion immer angeführt wird, diese These erhielt gleich nach der Pekinger Schlussfeier einen Dämpfer. Sports Illustrated säte weitere Zweifel an der Unbescholtenheit der Jamaikaner mit der Meldung, zwei in den USA lebende Olympiastarter Jamaikas, die Hürdler Delloreen Ennis-London und Adrian Findlay, seien 2006 und 2007 von einem Dopingring mit verbotenen Substanzen beliefert worden. Beide haben die Zusendungen gegenüber SI nicht bestritten, aber behauptet, sie nicht geöffnet zu haben.
Indem er sich in die Bolt-Diskussion einschaltete, löste Carl Lewis einen Parallelstreit aus. Strittig ist, ob er, wenn er Bolt verdächtigt, nicht wie ein Pharisäer handelt. Schließlich war Lewis selbst Doper. Bei den US-Trials für Olympia 1988 hatte man ihn dreimal positiv auf verbotene Stimulantia getestet. Folglich hätte er in Seoul, wo er nach Ben Johnsons Disqualifikation das 100-m-Gold erhielt, nicht laufen dürfen. Der Fall wurde vertuscht. Lewis dazu heute: "Sie hatten versucht, aus Nichts etwas zu machen."
In den USA, wo sie ihn immer bewundert, aber nie geliebt haben, deuten sie Lewis' Bedenken nicht nur als Reaktion eines Insiders, sondern auch als Ausdruck von verletzter Eitelkeit. Für ihn, heißt es, seien all jene stets unglaubwürdig gewesen, die besser waren als er. "Es wird Zeit", schreibt Blogger Pat Butcher, "dass er erwachsen wird."
Carl Lewis ist 47 Jahre alt.
Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung, dem 23. September 2008
EN