Cover …Auf den letzten Metern – ARETE Verlag – Hildesheim – Cover: ARETE Verlag - Foto: Horst Milde
„… auf den letzten Metern. Momente des Zieleinlaufs. Eine Anthologie“ – für jede:n Läufer:in!
Wir Läufer:innen kennen sie: die letzten Meter, die uns klein oder groß machen – vor anderen, vor allem aber vor uns selbst.
Jene Meter, die darüber entscheiden, ob wir einen Lauf als Erfolg oder Misserfolg werten. Liegen wir unter, auf der Höhe oder über unseren Erwartungen? Laufen wir zweifelnd oder gewiss, enttäuscht, zufrieden oder beglückt dem Ziel entgegen?
Wie Läufer:innen die letzten Meter erleben, was sie auf ihnen fühlen, denken und tun, fächert die neue Textsammlung von Detlef Kuhlmann auf. Zu 200 Seiten hat er 50 literarische Texte zusammengetragen, die er Laufbüchern wie auch Romanen entlehnt. Hier und da ein Gedicht, überwiegend aber Erzählungen, Auszüge aus längeren Abhandlungen. Geschickt portioniert. Lang genug, um als Leser:in nicht nur in die Dramatik des „Endspurts“ hineingezogen zu sein, sondern sich vorab auch der Dramaturgie des Laufs vergewissern zu können. Kurz genug, um konzentrierte Spannung zu erleben, die wie ein Sog wirkt: Man möchte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, stattdessen immer weiterlesen, von Lauf zu Lauf.
Ob nun Laufanfänger:innen, erfahrene Läufer:innen oder gar Olympioniken berichten …, ob sie zu einem Trainings-, Volks- oder Meisterschaftslauf aufbrechen …, ob sie die 1.500 oder 5.000 m, den Halb- oder Marathon, 100 Meilen oder den Spartathlon zurücklegen …, gar untertage eines Bergwerks, in der Hitze Afrikas oder in der Eiseskälte Sibiriens laufen – alle Beiträge nehmen uns mit auf die Strecke, lassen uns Höhen und Tiefen des Laufs miterleben, uns unweigerlich mitfiebern und mitbangen, ja mitleiden und mitfreuen. Sofort fallen einem jene Läufe ein, bei denen es einem selbst so oder ähnlich ging oder die das Eigenerlebte hier bis ins Unermessliche steigern.
Wer kennt sie nicht – Aussagen wie „Mein Körper schien kurz davor zu sein auseinanderzufallen.“ (Haruki Murakami) „Jede Muskelanspannung fühlte sich an wie ein Hammerschlag.“ (Tom Ockers) „Ich will das erste Mal in meinem Leben einen Lauf abbrechen.“ (Sandra Mastropietro) „Tränen laufen über mein Gesicht, … Tränen der Angst, der Wut und der Verzweiflung.“ (Iris Gehrmann) „Fuck.“ (Ina Lange) „Jeder Meter ein Kampf gegen das Aufgeben.“ (Klaus Weidt) „Hinsetzen darf ich mich jetzt nicht, sonst komme ich nicht mehr hoch.“ „Die Gedanken zerfasern.“ (Marcus Pinsker) „Ich laufe wie in Trance.“ (S. M.) Aber auch: „Ich kann mir gut vorstellen, wie es mir in der nächsten Woche ging, wenn ich jetzt aufhörte: Ich würde mich hassen.“ (Mark Rowlands) „Es machte mich zur Heldin …, dass ich den Schmerz überwand.“ (Kathrine Switzer) „Ich entwickle plötzlich ungeahnte Kräfte.“ (S. M.) „Die Mauer.“ „Der zweite Wind“. (Ulrich Pramann) „Bloß nicht übermütig werden.“ (Joschka Fischer)
Und wer Gegner ausstechen muss: „Ich werde ihnen weglaufen, sagt mein Film.“ (Dieter Baumann) „Einmal ließ ich ihn absichtlich zwei Meter von mir davonlaufen und wechselte dabei blitzschnell auf die rechte Seite. (…) Er verdrehte sich beinahe den Hals, ohne mich zu erspähen. In dem Moment lief ich rechts an ihm vorbei.“ (Waldemar Cierpinski)
Dann, mit der Ziellinie vor Augen: „Meine Spurtkraft reicht nicht mehr aus.“ (D. B.), „torkelte ich mehr …, als dass ich lief.“ (Norbert Schläbitz) „Wo kommt denn diese Kraft für den Endspurt plötzlich her?“ (Isabel Bogdan) „Gänsehaut am ganzen Körper“. (Hubert Karl) „Sicher lächele ich ein bißchen gepeinigt.“ (U. P.) „Hinein ins schäumende Überlauf-Becken der Endorphine.“ (Andrea Wechsler)
Im Ziel: „Auf einmal ist alles still.“ (Heidi Schmitt) „Das Ziel verfehlt.“ (Alexander Weber) „Selbstmitleidstränen“. (Günter Herburger) „Es hat nicht gereicht, ich bin Vierter.“ (D. B.) „Bittere Enttäuschung“. (H. K.) „Ich hatte es geschafft. … Ich war der glücklichste Mensch der Welt.“ (Philipp Jordan), „überglücklich – aber auch ein bißchen leer.“ (Klaus-Rainer Martin) „Ich habe es geschafft. Ich kann alles schaffen.“ (I. B.) „Dankbarkeit erfüllt mich, dieses Abenteuer erlebt zu haben.“ (K.-R. M.)
„Erst nach dem Zieleinlauf registriert man, was gerade passiert ist“, resümiert Christian Bruns, und Matthias Politycki meint: „Eine Niederlage zu verkraften, ist schwer; ein Ziel erreicht zu haben, ist schwerer.“ „Raus aus der Performance-Falle“ (Hajo Schumacher) lautet ein neuer Vorsatz und „Ich befand mich in einer handfesten Laufkrise“ (A. W.) ein Eingeständnis. Werner Sonntag beruhigt: „Von Lauf zu Lauf wächst du.“
Man möchte am liebsten jede:n Autor:in nennen und zitieren, ob Bernd Stelter, Matthias Brandt, Volker Schlöndorff, Heinz Florian Oertel, Manfred Steffny, Ronald Reng, Gerhard Uhlenbruck, Klaus Weidt und wie sie alle heißen. Das Buch liest sich als ein „Best of“, sprachlich von stets hoher Qualität. Es bietet beste, da spannende Unterhaltung. Es lässt uns teilhaben an den Laufstrategien und -manövern seiner Protagonist:innen und eröffnet dadurch vielseitige Vergleichsmöglichkeiten und Erkenntnisgewinn. Hier und da kommt ein Beitrag verschmitzt daher, auch mal fiktiv, aus der Sicht des Reporters und Zuschauers, philosophisch exkursiv oder analytisch.
Nach dem Lesen dieses Buches in einem Rutsch ging es mir wie Fernsehmoderatorin Katrin-Müller-Hohenstein – die das Vorwort geschrieben hat – nach einem ihrer Läufe: „Ich bin erschöpft aber glücklich.“ Ein gutes Zeichen!
So Dank an den Herausgeber Dr. Detlef Kuhlmann, den man bei German Road Races nicht mehr vorstellen muss, für dieses rundum gelungene Werk und all die Text-Perlen, die er für es gehoben hat. Es ist schön, dass er neben Professur, verbandssportlichen Tätigkeiten und anderem mehr immer wieder Zeit findet, sich auch der literarischen Auseinandersetzung mit dem Sport, insbesondere dem Laufsport zu widmen bzw. diese zu fördern.
Der dem Laufen verbundene ARETE Verlag in Hildesheim mit Verleger Christian Becker hat die Texte mit einem schön gestalteten, stabilen Klappumschlag versehen.
Das Coverfoto selbst zeigt die letzten Meter des BERLIN-MARATHON ab dem Brandenburger Tor. Wer genau hinschaut, ahnt an Hand der abgebildeten Läufer:innen, ihrer unterschiedlichen Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke, bereits die Vielfalt erlebter „Momente des Zieleinlaufs“ (Untertitel).
Wolfgang W. Schüler
Detlef Kuhlmann (Hrsg.): „… auf den letzten Metern. Momente des Zieleinlaufs. Eine Anthologie. Arete Verlag Hildesheim, 2021, 200 S., ISBN 978-3-96423-058-4, 20,00 €