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08
01
2025

Ralf Otto fährt zu Paralympics, egal ob er Schützlinge dort hat, und fotografiert – hier den Hochspringer Ezra Frech, USA (Persönliche Bestleistung: 1,97 m). Sein Oberschenkel ist amputiert und ihm fehlt die linke Hand. „Aber nur wer das weiß, sieht das“, so Ralf Otto. Für ihn ist es das perfekte Foto: „Neben ‚Paris 2024‘ sieht man, was man mit einer Prothese alles machen und dass man an die zwei Meter springen kann.“ - Foto: Dr. Ralf Otto – PSC/LSB Berlin

„Athletik vor Prothetik“ – Was wäre der Sport ohne Trainerinnen und Trainer! Ohne sie keine Spitzenleistungen, Erfolge und Medaillen. Einige stellen wir in einer Serie vor: Dr. Ralf Otto ist Landestrainer für Behindertensport und Leichtathletik – SPORT IN BERLIN

By GRR 0

Der 65-Jährige steht auf der Tartanbahn, die Hände in der Fleecejacke, und sagt zu seinen Athleten: „Ein bisschen Aufwärmen, dann in den Kraftraum.“ Während des Aufwärmspiels sieht man kaum, wer hier welches Handicap hat. „Das ist das Ziel: dass man es nicht erkennt“, sagt Otto und lacht.

Es ist ein windig-nasser Tag undTrainer Ralf Otto friert im Mommsenstadion im Berliner Westend.

Seit 30 Jahren trainiert er Leichtathleten mit Behinderung, war in Behindertensportverbänden aktiv, ist Vereinspräsident des PSC Berlin und seit 2018 Landestrainer für Para-Leichtathletik beim LSB. Bald geht er in Rente, aber Otto bleibt ehrgeizig. „Nicht so viel Rücklage“, ruft er Tim Linke zu, seinem Schützling und designierten Nachfolger, der mit Prothese läuft. „Mehr Vorlage, Timi!“

Mehr Vorlage als Otto kann man eigentlich kaum liefern. Er hat Para-Sport mit aufgebaut in Berlin. Nur wenige Menschen können besser berichten, was seitdem richtig gut und was falsch gelaufen ist. Dabei sagt er: „Ich bin kein typischer Trainer. Ich war als Dozent an der Uni, habe dort promoviert, in Biomechanik, also Sportwissenschaft. Nur irgendwann war mir das zu weit weg von der Praxis.“

Dann fragte ihn ein Speerwerfer mit Beinprothese, der mit ihm studierte, ob er ihn trainieren wolle. „Über ihn habe ich erst einen Bezug zu Behindertensport bekommen.“ Und durch ein Projekt an der Deutschen Sporthochschule Köln, als er 1994 bei der Leichtathletik-WM in Berlin mitfilmte. So kann Otto sagen: „Bis heute ist Biomechanik im paralympischen Sport ein fast unerforschtes Feld.“

Man könnte ja denken, dass kein Bereich im Sport so technisch-wissenschaftlich arbeiten würde. Dass bei den Paralympics nur die neuesten Produkte von Prothesenherstellern präsentiert würden. Aber Otto entgegnet: „Es gibt bis heute nur Einzelfallstudien. Und die Prothesen, die heute genutzt werden, gibt es in der Form schon seit 20, 30 Jahren, die kann man so online im Katalog kaufen.“

 

Dr. Ralf Otto, Landestrainer in der Rudolf-Harbig-Halle  – Foto: Stephanie Steinkopf

Natürlich helfe sein Wissen zu Prothesen, sagt Otto, aber das Einzige, was sich wirklich verbessert habe, sei die Fitness der Aktiven. „Mein Lieblingssatz war daher immer: Athletik vor Prothetik.“ Man könne noch so lang an Einstellungen feilen, am meisten helfe: trainieren, trainieren, trainieren. In allen Disziplinen, die er betreut: Läufe bis 400 Meter, alle Sprünge, Speer-, Kugel-, Diskuswurf.

Es werde insgesamt mehr und besser trainiert als früher, sagt er. In Stoßzeiten zwölf Mal die Woche, früher gab es dagegen nicht mal Trainingslager. Otto kämpfte in vielen Funktionen in Verbänden für professionelle Strukturen. Er war zwölf Jahre ehrenamtlich Teamchef beim Deutschen Behindertensportverband (DBS), aber als es endlich eine Bundestrainerstelle gab, wurde er nicht berücksichtigt.

Die Ausbootung 2008 hängt Otto heute noch nach, er sagt, sie habe eher persönliche Gründe gehabt. Dennoch fährt er weiterhin zu Paralympics, egal ob er Schützlinge dort hat, fotografiert gerne mit. Die Stimmung in Paris sei toll gewesen, doch die deutsche Bilanz von acht Leichtathletik-Medaillen – Platz 30 in der Welt – nennt er „wirklich schlecht“, und mutmaßt: „Das wird seine Gründe haben.“

Nachwuchs-Mangel ist sicher ein Grund für den historischen Tiefwert. An Otto liegt es wohl kaum. Seine Nachwuchssportler sind motiviert, waren mit dem paralympischen Jugendlager mit in Paris. Er hält ihnen die Spiele in L.A. 2028 als Ziel vor Augen, auch wenn sie hier nur noch zu viert sind. Früher habe er bis zu 15 Schützlinge gehabt, von denen es meist die Hälfte zu Paralympics schaffte.

Nun muss Otto sich um die Talente kümmern, die er noch hat. Heute sind zwei gekommen. Linke, 21 Jahre, und Alexander Wriedt, 16, treten in mehreren Disziplinen an, der Rest der Gruppe fehlt krank. Sie werfen sich einen sogenannten „Heuler“ zu, eine Art Gummitorpedo, statt Wurfspeeren. „Meiner ist kaputt“, ruft Linke. „Du wirfst einfach schlecht“, antwortet Otto. Es wird viel gescherzt.

Beide Schützlinge sind sehr zufrieden mit ihm. „Er hat einfach super viele Erfahrungen in dem Para-Sport-Bereich, da können wir nur von profitieren“, sagt Wriedt. „Er ist unser Mentor, im Sport und als Mensch“, sagt Linke, der noch studiert, Trainerscheine macht und ab 2026 übernehmen soll. Otto zieht sich ab nächstem Jahr schrittweise zurück. Ob er seine Trainertätigkeit vermissen wird?

Langweilig werde ihm kaum, glaubt er. Und wenn es ums Geld gehe, wäre er an der Uni geblieben. „Was mir fehlen wird, ist der Umgang mit Sportlern“, sagt Otto. Er wollte immer etwas mitgeben: eingestreutes Allgemeinwissen, Selbstvertrauen mit Handicap, Gesundheit im Alltag.

Er freue sich, wenn es früheren Sportlern gut gehe. Nur die Kälte am Trainingsplatz – die wird er nicht vermissen.

Dominik Bardow in SPORT IN BERLIN

Sport ist das wichtigste Unterrichtsfach: Professor Dr. Steffen Greve vom Institut für Sportwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, über die perfekte Sportstunde, Noten und Traumata – SPORT in BERLIN

 

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