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22
07
2010

Not und Elend enteilen, das war der Antrieb für Armin Hary, als er vor 50 Jahren 10,0 Sekunden lief. Im Gegensatz zum Jamaikaner Usain Bolt, dem die Herzen zufliegen, kämpfte der deutsche Sprinter immer - und gegen die ganze Welt.

Armin Hary – Der Usain Bolt von 1960 – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Elend sieht idyllisch aus, wenn es vom blauen Himmel überstrahlt wird, wenn die Hütten bunt gestrichen sind, die Kartoffeln Yam heißen und hinter der Siedlung Palmen stehen. „Auch schlecht ernährte Menschen können sich athletisch entwickeln“, sagt Trainer Stephen Francis.

Aus seiner Gruppe hungriger Leichtathleten sind im vergangenen Jahr in Berlin Shelly-Ann Frazer, Brigitte Foster-Hylton und Melaine Walker Weltmeisterinnen geworden; Asafa Powell, der einstige Sprint-Weltrekordler, wurde Dritter. „Armut ist ein großer Vorteil im Leistungssport“, sagt Francis.

„Dafür muss ich nicht nach Jamaika fahren!“, ruft Armin Hary. „Armut haben wir tausendfach in Deutschland. Wir haben drei Millionen arme Kinder, die nicht Sport treiben können. Bin ich denn der Einzige, der sich um sie kümmert?“Hary weiß, welch machtvoller Antrieb Not und Elend sind. „Ich wollte da unten raus und mit Kindern und Jugendlichen zusammen sein, die nicht wissen, woher ich komme“, erzählt er an seinem Wohnort in Bayern. „Ich wollte gleichberechtigt sein. Ich wollte nicht, dass die anderen wissen, dass ich arm bin. Und ich wollte immer etwas lernen.“

Oft zu schnell für die Zeitnehmer: Armin Hary

 Armin Hary ist 73 Jahre alt, und er hat es geschafft. Er ist der Usain Bolt von 1960. Er war der erste Mensch, der – auf einer Aschenbahn – die hundert Meter in 10,0 Sekunden lief. Drei Mal musste er das schaffen, bis die Funktionäre ihm den Weltrekord zugestanden. Am 21. Juni war es fünfzig Jahre her, ein halbes Jahrhundert, dass Hary im Letzigrund von Zürich zweimal innerhalb einer Stunde so schnell lief, dass die Zeitnehmer sich auf die Zehnnull einigen mussten.

Was für Usain Bolt Sherwood Content im jamaikanischen Hinterland ist, war für Hary Quierschied im Steinkohlerevier nördlich von Saarbrücken. Keine Rede von Sonnenschein: Wer hier hineingeboren war, hatte seine Zukunft unter Tage stets vor Augen. Hary lebte in einer Kellerwohnung, bekam Schläge vom Vater, der bald verschwand, und teilte sich mit seiner Mutter und seinem Bruder trocken Brot oder ein paar Kartoffeln gegen den nagenden Hunger der Nachkriegszeit. „Ich hätte keine Möglichkeit gehabt, wenn ich nicht zufällig neben dem Sportplatz aufgewachsen wäre“, sagt er.

„Da kommt wieder der Verrückte!“

Hary hatte kein jamaikanisches Schulsportsystem, das ihn zu Juniorenweltmeisterschaft und Sponsorenvertrag getragen hätte. Er trainierte allein – wohl härter, als er je im Bergwerk hätte schuften müssen. Nicht die Eiseskälte der endlosen Winter, nicht Qualen und Erschöpfung schmerzen ihn noch heute. „Jogger gab es damals nicht“, erzählt Hary. „Alle Leute, die mich im Wald rennen sahen, sagten: Da kommt wieder der Verrückte! Wenn ich Gymnastik machte, zeigten sie mit dem Finger und lachten mich aus.“

Im Gegensatz zu Bolt, dem die Herzen zufliegen, kämpfte Hary immer und gegen die ganze Welt. Wie auch nicht? Anderthalb Jahre vor Zürich, im September 1958, realisierte er bei einem Sportfest in Friedrichshafen, dass er in großartiger Form war. Er bat um einen zweiten Sprint. Den 10,3 Sekunden des ersten Laufes ließ der Einundzwanzigjährige die erste Zehnnull seines Lebens folgen, die ersten glatten zehn Sekunden des Sprints. Das kleine Publikum bejubelte ihn. Doch die Experten und Autoritäten fanden die Leistung weniger erstaunlich als vielmehr verdächtig. Der Verband versagte der Bestmarke seine Anerkennung, weil die Bahn angeblich elf Zentimeter Gefälle hatte – einen zu viel.

Zu schnell für die Zeitnehmer von Zürich

Wie Usain Bolt heute begleitete damals Armin Hary der Zweifel. Nicht Doping, sondern irgendeine Frechheit beim Start unterstellte man ihm. An der Uniklinik Freiburg sei in Versuchen festgestellt worden, erinnert sich Hary, dass seine Reaktionszeit etwa drei Hundertstelsekunden unter der anderer Sprinter gelegen habe; statt acht also fünf Hundertstel. So sehr sich Hary eine elektronische Zeitmessung wie heute gewünscht hätte, so wenig wäre er mit der Fehlstartautomatik klargekommen. Sie bricht den Lauf ab, wenn ein Läufer den Fuß in weniger als einer Zehntelsekunde aus dem Block hebt.

NOK-Präsident Karl Ritter von Halt übergibt Hary die Goldmedaille bei Olympia 1960

Hary war seiner Erinnerung nach doppelt so schnell. Damit war er auch zu schnell für die Zeitnehmer von Zürich. Schmallippig gaben sie das Ergebnis bekannt: 10,0 Sekunden. Und ergänzten kühl, dass auch dieser Rekord nicht gelte: wegen Frühstarts. Zwar hatte der Starter den Lauf gar nicht abgebrochen. Doch es bedurfte der Intervention des regelfesten Journalisten Gustav Schwenk, um Hary so etwas wie Gerechtigkeit zu verschaffen. Gemeinsam mit nur zwei Konkurrenten startete Hary ein zweites Mal – und lief wieder 10,0.

„Wir waren Menschen zweiter Klasse“

Welche Macht Funktionäre hatten, belegt eine Episode, die Hary seinem Biographen Knut Teske anvertraute. Ein alter Herr, Zeitnehmer von 1960, habe ihm Jahrzehnte später anvertraut, dass seine Stoppuhr nach dem ersten Lauf 9,8 Sekunden angezeigt habe; aus Scham habe er sie nicht den Kollegen gezeigt. Stattdessen gab er 9,9 oder 9,95 oder 10,0 Sekunden an; eine der Zeiten im Protokoll.
 
"Ich habe meine Kindheit und Jugend dem Sport geopfert"

Zeiten nach Gutdünken zu korrigieren war längst nicht alles. Der Deutsche Leichtathletikverband (DLV) hatte noch am Tag des Rekords Hary den Start verbieten wollen. Er solle sich für den Olympiastart in Rom schonen. Bei solchen Funktionären, von denen es einige aus tausendjähriger Erfahrung gewohnt waren zu befehlen, eckte Hary sogar damit an, dass er nicht im Trainingsanzug, sondern wie sie im Anzug zu einem Bankett kam. „Wir waren Menschen zweiter Klasse“, erinnert er sich. „Man musste sich Befehlen unterwerfen. Das habe ich nie getan.“

„Die Nationalhymne ist ein Dankeschön“

Die Olympischen Spiele von Rom 1960 wiesen dem Sport den Weg in die nächsten Jahrzehnte: Ein Boxer namens Cassius Clay betrat die Bühne der Welt, ein Läufer namens Abebe Bikila gewann barfuß beim Marathon die erste all der Goldmedaillen, die seitdem an Läuferinnen und Läufer aus Afrika gingen, der dänische Radrennfahrer Knud Jensen starb an einem Doping-Mittel. Und Armin Hary ließ dem Weltrekord im Wettkampf mit der größten Attraktion den größten Triumph seines Lebens folgen.

Am 1. September stürmte der junge Mann, der die Kohlegruben von Quierschied längst hinter sich gelassen hatte, der in Stockholm 1958 Europameister geworden war, zur Goldmedaille über 100 Meter – nicht ohne die üblichen Schwierigkeiten.
 
Armin Hary ist heute 73 Jahre alt und Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande

Vier Mal wurde der Sprint gestartet, drei Mal wurde er abgebrochen. Ein Fehlstart ging zu seinen Lasten. „Der einzige Lauf, bei dem ich nicht locker war, war der Endlauf von Rom“, sagt Hary. „Das war nicht mein Lauf.“ Aber es war der, der ihm bis heute am meisten bedeutet. Nicht die Zeit von 10,2 Sekunden reut ihn. „Für mich war ganz schlimm, dass ich weder in Stockholm noch in Rom die Nationalhymne gehört habe“, verrät Hary. „Wenn man sie hört, weiß man, wofür man sich gequält hat. Sie ist ein Dankeschön.“

Doch für die Deutschen aus Bundesrepublik und DDR wurde für den Sieg, zum Hissen der Trikolore mit den olympischen Ringen, Beethovens Ode an die Freude gespielt. Sie sollte die heißeste Front des Kalten Krieges überbrücken.

„Ich hielt diese Intrigen nicht mehr aus“

„Ich stand dort oben und dachte: Wenn du Amerikaner wärest, würdest du jetzt die Nationalhymne hören“, erinnert sich Hary. „Aber vielleicht war es gut so. Ich bin dicht am Wasser gebaut. Wahrscheinlich hätte ich geheult.“ Dies war das wirkliche Geheimnis des Armin Hary: Wie sehr sein Patriotismus im Widerstreit mit seiner Ablehnung der schikanösen Funktionäre lag. 1959 hatte er ein Stipendium für die University of California in Los Angeles bekommen.

„Nach drei Monaten hätte ich Amerikaner werden können“, erzählt Hary. „Ich Idiot hab's nicht gemacht. Hätte ich gewusst, wie alles kam, hätte ich's gemacht.“ Zermürbt war er nach Amerika geflohen. „Ich hielt diese Intrigen nicht mehr aus“, sagt er. „Ich glaube, ich habe jeden Deutschen gehasst.“ In Kalifornien wurde er beraubt und schlief auf der Straße, wurde er eingeladen und war Gast reicher Familien. „Als Amerikaner hätte ich es geschafft“, sagt er. „Aber ich wollte nicht. Ich hätte ja Deutschland nicht mal mehr überfliegen dürfen.“
„Die ganze Geschichte ist erfunden“

Auf 250 Millionen Euro schätzte Puma-Chef Jochen Zeitz den Werbewert der drei Siege und drei Weltrekorde von Usain Bolt bei den Olympischen Spielen von Peking 2008. „Ein Händedruck oder einen Koffer“ – das war, was Hary vor einem halben Jahrhundert bekommen haben will. Er verbietet sich, über die ungeheuren Summen von heute nachzudenken. „Wenn es damals schon Geld gegeben hätte, würde ich heute noch laufen“, scherzt er.

Manche sehen in Rom auch den Aufbruch in Sponsoring und Profisport. Hary, der seinen Weltrekord in Adidas-Schuhen gerannt war, trug bei seinem Olympiasieg Puma. Zur Siegerehrung ging er in Adidas. Doch er bestreitet alle Berichte, dass er dafür Geld, vielleicht sogar doppelt, eingestrichen habe: „Das geht so weit, dass Leute behaupten, ich sei mit einem Adidas- und einem Puma-Schuh gelaufen. Die ganze Geschichte ist erfunden.“

„Ein verstaubter Paragraph ist schuld“

Der Olympiasieg war der Anfang vom Ende. Acht Monate später, am 7. Mai 1961, erklärte Hary seine Karriere für beendet. Bei diesem sportlichen Selbstmord war er seit drei Wochen 24 Jahre alt. „Ich hatte alle Ziele erreicht“, sagt er. „Der Rücktritt war schwer, fast so schwer wie der Olympiasieg von Rom. Aber die Funktionäre haben es mir leicht gemacht.“ Sie hatten Hary wegen Verstoßes gegen die Amateurbestimmungen, wegen einer als Reisekostenabrechnung getarnten Zahlung, gesperrt.

„Ein verstaubter Paragraph ist schuld – nicht Hary“ überschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung damals einen Text, in dem Karlheinz Vogel beschrieb, welche gravierenden Verstöße im olympischen Sport üblich waren und wie weit der Amateurbegriff von der Wirklichkeit entfernt war. Das interessierte den Verband wenig; die Herrschaften wollten sich auch für Harys Satz revanchieren, Funktionäre seien für die Athleten da und nicht Athleten für die Funktionäre. Sie verhinderten sogar, dass Bundespräsident Heinrich Lübke Hary zur Ehrung der Olympiasieger mit dem Silbernen Lorbeerblatt einlud.

„Tausende, die wie ich unten rauswollen“

„Ich hatte keine Jugend. Ich habe meine Kindheit und Jugend dem Sport geopfert“, fasst Hary seine Karriere zusammen. „Dann bin ich für Deutschland gelaufen. Und anschließend bekomme ich in den Hintern getreten! Da kann ich Cassius Clay verstehen, dass er das Ding in die Isar wirft.“ Der schwarze Boxer will seine Goldmedaille von Rom, als ihm im rassistischen Süden der Vereinigten Staaten wieder einmal die Bedienung in einem Restaurant verweigert wurde, in den Mississippi geschmissen haben.

Hary will seine Goldmedaille verlosen, sobald er zehntausend Partner für seine AHA-Förderung hat. Bis jetzt hat er keine zehn. „Ich könnte zufrieden sein. Aber ich bin todunglücklich, weil es so langsam geht“, sagt er. „Wenn der liebe Gott mich lange genug leben lässt, hinterlasse ich ein großartiges Modell der Nachwuchsförderung.“

Seit gut fünf Jahren kämpft Hary für diejenigen, die Hunger leiden. „Ich erlebe eine Armut, die können Sie sich nicht vorstellen“, sagt er. „Aber in der Diskussion um Kinderarmut höre ich nie vom Sport.“ 170 Kinder unterstützt Hary derzeit.

Die Gesellschaft müsse ihre Verantwortung wahrnehmen und Kindern eine Perspektive geben, fordert er. „Es gibt Tausende, die wie ich damals unten rauswollen.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 18. Juli 2010

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