2008 Dresdner Kleinwort-Frankfurt Marathon Frankfurt, Germany ......October 26, 2008 Photo: Victah Sailer@Photo Run victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
April 2017 – Geschichten um Marathon, Radklassiker und Tegla Loroupe – Von Klaus Blume
Lüttich oder London – das ist hier die Frage. Ob‘s sinnvoller ist, am Sonntag die besten Rad-Profis beim Balancieren durch die verschneiten Ardennen zu beobachten oder in London die schnellsten Marathonläufern zu sehen, wie sie gegen harsche Atlantik-Winde ankämpfen.
Ein verrückter Monat, dieser April. Nicht nur wegen der Nachfröste und tagsüber plötzlicher Schneeböen. Vor allem, weil ausgerechnet in diesen scheußlichen Wochen die hohe Zeit der Ausdauer-Athleten zelebriert wird.
Die großen klassischen Radrennen ebenso wie die schnellen Marathonläufe.
Die Rad-Profis kämpfen sich dabei über einhundert Jahre alte Straßen, was wie Kulissen historischer Filme wirkt; die Marathonläufer bewegen sich hingegen auf allerfeinstem Asphalt. In Rotterdam hatte Ex-Stundenweltrekordler Jos Hermens obendrein vor vielen Jahren die Stadtväter rumgekriegt, manche Straßenecke im Sinne eines schnellen Marathons kurzerhand umzubauen. So wurden denn aus bremsenden Neunzig-Grad-Ecken Kurven, in denen so richtig zum Tempo ausgeholt werden kann.
Lüttich-Bastogne-Lüttich oder London Marathon?
Im Jahre 2000 hatte sich unsereins kurzerhand für LBL entschieden, wo sich die beiden italienischen Welt-Stars Paolo Bettini und Davide Rebellin bekriegten; mit der kenianischen Marathon-Läuferin Tegla Loroupe hatte ich für den selben Tag ein Telefonat, direkt nach dem London Marathon, verabredet: „Denk‘ dran, die BBC kann warten.“
Es wurde völlig irrsinnig. In einer zugigen kalten Halle am Stadtrand von Lüttich standen Paolo – der spätere Doppel-Weltmeister und damalige Sieger – sowie Davide, der Drittplatzierte, um mich herum, und redeten ohne Punkt und Komma in ihrem merkwürdigen italienischem Französisch auf mich ein. Das aus dieser „Renn-Analyse“ doch noch ein druckbarer Kommentar geworden ist, erscheint mir noch heute wie ein Wunder.
Denn mitten in Paolos blumenreiche Verklärung des letzten Rennkilometers, augenrollend und gestenreich vorgetragen, platzte Teglas Anruf aus London: Kleinlaut, enttäuscht, am Boden zerstört! Da wollte jemand – auf der Stelle, versteht sich! – aufgerichtet werden.
Warum, die Agenturen hatten doch einen glorreichen Sieg vermeldet?
Also gratulierte ich pflichtschuldigst, doch nicht überschwänglich. Und hörte ihre Analyse: Auf den letzten drei Kilometern hätte sie ein starker Seitenwind fast von der Straße geweht, versicherte aber im selben Atemzug, bis dahin sei sie klar auf Rekordkurs gewesen. Die 2:21.26 Stunden der Norwegerin Ingrid Kristiansen aus dem Jahre 1985 hätte sie mühelos pulverisiert – doch geschafft habe sie die 42,195 Kilometer „nur“ in 2:24:33 Stunden. Dann folgte eine ganze Suada kenianischer Schimpfwörter . . .
Ich habe sie dann in der zurück haltenden Neuen Zürcher Zeitung, gerade deshalb, besonders gefeiert. Sie hatte mir doch schon soviel beigebracht; nicht nur übers Laufen oder wie man „kenianischen Tee“ kocht: mit Milch, statt mit Wasser. „Denn du weißt ja nie, was im Wasser drin ist.“ Jedenfalls nicht in Kenia.
Denn um die Wasserqualität daheim hat sie sich bis heute gekümmert. Und damit um die Gesundheit, vor allem um die der Kinder. Vor einigen Jahren hat sie, eigentlich zwischen Kenia und Uganda, ihre „Peace and Leadership School“ errichtet. Ein Lebenstraum! Es geht der heute 44-Jährigen dabei nicht nur um Bildung, sondern vor allem um Schutz vor Missbrauch, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung.
In Detmold, von wo aus sie einst jahrein, jahraus zu ihren großen Rennen aufbrach, sammeln sie inzwischen für dieses wegweisende Unternehmen. Denn ihr selbst wurden vom deutschen Fiskus an die 300 000 Euro gepfändet. Begründung: Ihr Lebensmittelpunkt sei zu ihrer Glanzzeit nicht Kenia, sondern in Detmold gewesen. Also müsse sie dafür Steuern zahlen. Für den London Marathon, den New York Marathon und, und, und . . .
Davide Rebellin wiederum, der als Einziger im Jahre 2004, in nur einer Woche die drei Ardennen-Klassiker Amstel Gold Race, Fleche Wallonne und Lüttich-Bastogne-Lüttich gewann, sammelte damals bereits jahrelang für ein Kinderhilfsprojekt in Bolivien, weil ihm das der Pfarrer seiner Heimatgemeinde ans Herz gelegt hatte. Er tut das noch heute, weil diese Kinder, mit einem genetischen Defekt geboren, ohne Hilfe sterben müssten.
Hilfe, die jedoch jahrelang gefährdet war. Denn Rebellin sollte für die Zeit von 2002 bis 2008 insgesamt 6,8 Millionen Euro an Steuern nachzahlen. Weil er als Rad-Profi, des Wetters und der Straßen-Profile wegen, mitunter wochenlang in der Toskana trainiert, mochte der römische Fiskus seinen Hauptwohnsitz in Monte Carlo nicht als solchen anerkennen, sondern irgendwelche Dörfer an seiner Trainingsstrecke. Doch am 1. Mai 2015 wurde er vom Verdacht der Steuerhinterziehung frei gesprochen.
Er habe ja ohnehin noch genug zu büßen, sagt Rebellin dazu – und meint damit den Verlust der olympischen Silbermedaille von 2008 in Peking. Die hatte er nämlich mit Hilfe des Blutdopingmittels EPO gewonnen.
April – das ist auch der Monat, in dem Geschichten zur Geschichte werden können.
Wie am Ostermontag, beim 121. Boston Marathon. Den gewann die Kenianerin Edna Kiplagat in beachtlichen 2:21:52 Stunden – und auch dahinter verbirgt sich eine besondere Geschichte. Edna gehörte nämlich bis 2008 in Boulder (Colorado) der Trainingsgruppe Dieter Hogens und Uta Pippigs an, und Uta, die sich in Boston mit drei Siegen hintereinander ein eigenes Denkmal gesetzt hatte (1994, 1995, 1996), war vor 23 (!) Jahren mit 2:21:45 schneller als Kiplagat heute: Ihr gelang 1996 der dritte Sieg.
Heute berät sie Dieter Hogen, dessen kenianischer Schützling Allan Kiprono am 9. April den Hannover Marathon in 2:09:52 Stunden gewann. Nun möchte der gebürtige Thüringer seinen kenianischen Schützling Kiprono im Herbst gern in Frankfurt präsentieren. Angestrebte Zeit: 2:06 Stunden. Na, wenn das kein seriöses Angebot ist . . .
Übrigens, Ostern 2017: Da verzockte ein Pole , der es als Ex-Weltmeister und geübter Klassiker-Jäger eigentlich besser kann, den sicheren Sieg im niederländischen Amstel Gold Race. Der große Michal Kwiatkowski sprintete fünfzig Meter zu früh zum Ziel, immer feste gegen den Wind – und gab fünf Meter vor dem Zielstrich auf, als der Belgier Philippe Gilbert an ihm vorbei brauste.
Da hatte es einst ein anderer Pole besser gemacht: Jean Stablinski. 1966 fuhren wir dieses Rennen zum ersten Mal und es schien überhaupt kein Ziel in Sicht, weil sich die Veranstalter vermessen hatten. Am Ende stand auf dem Tacho unseres Begleitautos eine Distanz von sage und schreibe 302 Kilometern! Eigentlich sollte das Rennen gut siebzig Kilometer kürzer sein. Doch Stablinski, dieser Fuchs, hatte sich nicht irre machen lassen.
Erst Jahre später haben wir darüber gesprochen. Am Vorabend der Pavé-Classique Paris-Roubaix, in einem kleinen Traditionshotel. Draußen heulte und tobte der Sturm um das verwinkelte Haus, rüttelte an Türmchen, Zinnen und Fensterläden. Und der Regen klatschte wie Sturmfluten an die alten Mauern. Damals erzählte ich ihm, wie ich 1953 in der damaligen DDR – auf der „Friedensfahrt“, dem anspruchsvollsten Amateur-Etappenrennen der Welt – wegen eines Autogramms hinter ihm her war. Übrigens vergeblich. „Stab“, 2007 verstorben, lächelte gerührt.
Er war 1953 unter seinem polnischen Namen Jan Stablewski für das Team „der in Frankreich lebenden Polen“ angetreten, hatte zwei Etappen der „Friedensfahrt“ gewonnen, drei Tage lang das Gelbe Trikot getragen und am Ende Platz drei im Gesamtklassement belegt.
Der April, und die Geschichten, aus denen Geschichte werden kann.
Beim London Marathon am Sonntag, dem prestigereichsten Rennen des Frühjahrs, wird Vorjahrssiegerin Jemina Sumgong aus Kenia fehlen. Die Olympiasiegerin von Rio de Janeiro wurde am 7. April des EPO-Dopings überführt. Das hatte man innerhalb eines speziellen Testprogramms für Straßenläufer festgestellt.
Schon 2012 war die Dame als Zweite des Boston Marathon unangenehm aufgefallen, weil sie eine gehörige Kortison-Dosis benutzt hatte. Doch ihr umtriebiger italienischer Manager Federico Rosa konnte dafür das Attest eines bei ihm angestellten Arztes herbei zaubern – und alles war in Ordnung.
Ebenfalls am Sonntag schickt sich der 37-jährige Spanier Alejandro Valverde an, den Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich zum vierten Male zu gewinnen. Die Veranstalter, die schließlich auch die Tour de France inszenieren, hoffen auf einen anderen Sieger. Denn Valverde, von 2010 bis 2012 gesperrt, stand jahrelang im Mittelpunkt der „Operacione Puerto“, des größten Doping-Skandals Spaniens.
Eines nie beendeten Skandals! Und was sagt Valverde zu alledem? Er verbitte sich, dieses Thema auch nur im Ansatz zu erwähnen.
April, ein Monat, in dem Geschichten zur Geschichte werden.
Klaus Blume
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