Alina Reh (links) Seite an Seite mit Katharina Steinruck: . - Foto: Wilfried Raatz - wus media
Alina Reh und das überragende Comeback – Vor der Haustür gelingt Alina Reh ein begeisterndes Comeback nach Herzmuskelentzündung mit EM-Reife – Deutsche Langstreckenmeisterschaften in Pliezhausen – Wilfried Raatz berichtet
Taktikfuchs Simon Boch einmal mehr meisterlich
Sie ist keineswegs eine, die auf Understatements macht. Authentisch, bodenständig – so kennt man Alina Reh. Nicht erst seit einem oder zwei Jahren, sondern vielmehr seitdem sie mit großen Schritten die nationale und letztlich auch die internationale Spitze in ihrer jeweiligen Altersklasse dominiert. Wenn sich die 24jährige nun bei den Deutschen Langstreckenmeisterschaften in Pliezhausen im Kreis einer Handvoll Journalisten äußert, dann ist dies Grund auf ehrlich:
„Ich bin hierhergereist und mir gesagt, wenn ich Fünfte werde, ist das gut. Ich wollte vor allem Spaß haben und einfach wieder an der Startlinie stehen – vollkommen egal, wie schnell ich bin. Es gab in den letzten Wochen echt schwierige Momente gab und ich darf jetzt wieder das tun, was ich gerne mache!“ Aber: Sie wurde nicht Fünfte, nicht Vierte, nicht Dritte – und auch nicht Zweite. Alina jubelte im Ziel nach einem begeisternden Solorennen ab Kilometer vier in 32:06,63 Minuten und unterbot dabei die zuvor nicht zu diesem Zeitpunkt für realisierbar gehaltene Europameisterschaftsnorm von 32:20 Minuten.
Die Cross-EM-Dritte von Dublin 2021 wurde unmittelbar nach ihrem deutschen Crossmeistertitel in Sonsbeck geboostert – und in der Folge mit Begleiterscheinungen und einer Herzmuskelentzündung in ein tiefes Tal gefallen, wie sie unumwunden zugab. Und dabei sogar mit dem Gedanken spielte, dem Leistungssport ade zu sagen. „Ich wurde richtig gut in Tübingen und Ulm betreut, ich hatte einen kleinen Kreis mit meinen Eltern, meinem Trainer, einigen Spezialisten wie im Rehazentrum bei Johannes Eisinger in Herxheim. Das hat mir Zuversicht und Halt gegeben!“
Letztlich ausschlaggebend war ein Leistungstest zuhause auf der Bahn über 5000 m und die finale Aussage ihres Arztes („Ich sei wettkampftauglich“). „Mein Trainer hat mir gesagt, dass ich einmal die 5000 m alleine laufen soll um zu wissen, dass ich es kann. Es war gut, dass ich es gemacht habe!“ Bis zur 4000 m-Marke lief eine dreiköpfige Spitzengruppe mit eben Alina Reh, den beiden Marathonläuferinnen Katharina Steinruck und Domenika Mayer und partiell auch Eva Dieterich. „Ich habe nicht gemerkt, dass ich eine Tempoverschärfung gemacht hatte“ kommentierte die Laichingerin, eine halbe Autostunde von Pliezhausen entfernt, ihren stetig anwachsenden Vorsprung vor Katharina Steinruck und Domenika Mayer, die allerdings auf der zweiten Streckenhälfte weiter abreißen lassen musste und mehr und mehr in den Fokus der aufstrebenden Eva Dieterich geriet.
Nach 16:06 zur Streckenhälfte war neben Norm für den Europacup (Pacé/ Frankreich am 28. Mai) sogar noch die Europameisterschaftsnorm von 32:20 Minuten machbar. Ob die für den SCC Berlin startende Alina das vorgelegte Tempo auch im Alleingang halten würde, das war die entscheidende Frage. „Ich habe mir gesagt: Nicht nachlassen, damit keiner mehr drankommt. Aber auch locker bleiben, um die Atmosphäre zu genießen!“ Gedacht, getan – mit der Endzeit von 32:06,63 wurde es sogar ein Negativsplit, wie eine schnellere zweite Hälfte im Fachjargon genannt wird.
Wie es weiter geht, das war natürlich im Journalistenkreis die entscheidende Zusatzfrage. „Den Europacup nehme ich gerne, dass ich die EM-Norm geknackt habe, das ist schon sehr schön!“ Und dann natürlich noch die Frage nach der WM, die Mitte Juli in Eugene stattfinden wird? „Daran habe ich nicht gedacht. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht einmal, wo die Norm steht. Vielleicht laufe ich bei der Langen Laufnacht in Karlsruhe erst einmal die Fünftausend…“. Und zudem im elterlichen Supermarkt täglich die Obstabteilung mit frischer Ware beschicken („Das ist mein normales Leben“). Und dies freilich im Eingang mit den inzwischen wieder höher dosierten Trainingsbelastungen im „Kosmos Laufen“.
Angesichts dieses begeisternden Comebacks, das für Alina Reh praktisch vor der Haustür im nahen Pliezhausen stattfand, gerieten natürlich die weiteren Ergebnisse in den Hintergrund. Obgleich diese höchst beachtlich sind: So steigerte sich Katharina Steinruck auf starke 32:26,28 Minuten und freute sich zudem über den Familienrekord, den bislang ihre Mutter und heutige Marathon-Bundestrainerin Katrin Dörre-Heinig seit 1984 mit exakt 33:00 Minuten innehatte. „Ich hatte eine 32er Zeit anvisiert mit Splits zwischen 3:12 und 3:15. Die letzten drei, vier Kilometer musste ich alleine laufen, das war wirklich hart. Aber auf der ganzen Stadionrunde standen so viele Leute, die angefeuert haben!“ Und freut sich auf den Europacup, ehe die Marathonvorbereitung beginnt…! Ob der Start sie freilich nach Eugene oder nach München führen wird, das ließ sie noch ein weiteres Mal offen.
Groß gewiss auch die Freude bei Eva Dieterich, der U23-Meisterin des Vorjahres, als Dritte mit 32:40,11 Minuten, die ihre bisherige Bestmarke um gleich eine Minute steigern konnte. „Die EC-Norm zu schaffen, das ist schon toll. Damit bin ich erstmals auch bei den Frauen international dabei“, freut sich die 23jährige vom Laufteam Kassel, die in Tübingen lebt und in der Trainingsgruppe bei Isabelle Baumann trainiert. „Das ist natürlich hochmotivierend!“ Als Zehnte der Cross-EM der U23-Klasse hatte sie bereits Mitte Dezember des vergangenen Jahres ein erstes Ausrufezeichen gesetzt, ehe sie im Fotofinish als Cross-DM-Dritte im Verbund mit Domenika Mayer über die Ziellinie stürmte.
Für die beherzt im 10.000 m-Meisterschaftsrennen zunächst mithaltende Regensburgerin wurde es letztlich „nur“ der vierte Rang, mit ihrer neuen Bahn-Bestzeit von 32:43,82 Minuten aber die Nominierung für den Europacup, die ihre LG Telis-Kollegin Maria Kerrres trotz Quantensprung auf 32:58,65 und Normerfüllung verpassen wird, denn im „Überangebot“ der Normerfüller beim DLV steht immerhin noch eine Miriam Dattke, die wegen Fußbeschwerden die Titelkämpfe in Pliezhausen kurzfristig passen musste, aber nach LG Telis-Chefcoach Kurt Ring Ende Mai sicherlich wieder zur Verfügung stehen sollte.
Im Reigen der schnellen Zeiten kommentierte die als Sechste ein nicht minder starkes Rennen laufende Svenja Pingpank nach ihren 33:08,72 Minuten kurz und knapp: „Ziel nicht erreicht!“ und meinte damit eben diese EC-Norm. Die Tochter von Markus Pingpank verwies mit ihrem couragierten Auftritt immerhin die letztjährige Vizemeisterin Deborah Schöneborn, Lisa Oed und die mit viel Beifall bedachten Sabrina Mockenhaupt-Gregor auf die weiteren Ränge.
Überhaupt genoss „Mocki“ den Auftritt im Trikot des LV Pliezhausen, zumal sie, überhaupt nicht uneitel, noch am Vormittag beim Friseur war, um wettkampfgerecht ins Rennen gehen zu können. In den Abendstunden ihrer gewiss glanzvollen Karriere sind die 33:37,60 aller Ehren wert für die inzwischen 41jährige Mutter der quirligen Ruby.
Gegen diesen großartigen Auftritt eines Teils der deutschen Langstreckenelite hatten es die Männer mit dem Schlussakkord bei allmählich einbrechender Dunkelheit gewiss schwer, dafür bescherten die Abraham, Tesfaye, Boch und Co einen Krimi – und ein gelöster „Fall“ mit einer furiosen 59er Schlussrunde des für seinen Schlussspurt bekannten Simon Boch. „Wenn man gewinnen will, dann spielt die Zeit keine Rolle“, diktierte ein schlagfertiger Simon Boch den Journalisten in die Aufnahme bereiten Handys. Aber auch diese konnte sich absolut sehen lassen: Mit 28:11,69 Minuten gab es nicht nur den zweiten Meistertitel auf dieser Strecke nach Bautzen 2017, sondern auch Hausrekord für den gebürtigen Schwarzwälder! Und dank der unermüdlichen Tempoarbeit seines Teamkollegen bei der LG Telis Finanz Regensburg, Filimon Abraham, praktisch als „Nebenprodukt“ auch noch die EM-Norm, die im Männerbereich bei 28:15,00 Minuten steht. Und etwas feixend: „Mit dem vorgelegten Tempo war ich gut bedient, am Ende habe ich mir natürlich Filimon etwas zurechtgelegt!“
Natürlich wurde Simon Boch nach seiner Orientierung in Sachen EM gefragt. „Ich bin Marathonläufer! Umso schneller ich über 10 km bin, desto leichter wird mir der Marathon fallen. Schließlich ist Marathon viermal zehn Kilometer…!“ Der „lucky looser“ des starken Regensburger Duos an der Spitze war freilich der gebürtige Eritreer, der trotz des erst zwei Wochen zuvor bestrittenen Marathondebüts in Hamburg, bei dem er allerdings nach 35 km vorzeitig aus dem Rennen gegangen war, einen bärenstarken Wettkampf mit 28:15,95 auf die Kunststoffbahn legte – und die EM-Norm um nicht einmal eine Sekunde verpasste. „Ich weiß, dass ich im Spurt schlechter als Simon bin“, bekannte der 2021 mit dem Sieg beim Nations-Cup im Berglauf und Rang 14 bei den Cross-Europameisterschaften als bester Deutscher gefinishte inzwischen 30jährige. Nach dem gescheiterten Marathon sieht Filimon Abraham beim Europacup über 10.000 m Ende Mai noch eine kleine Chance für einen Start bei den Europameisterschaften in München – wäre da nicht eine ansehnliche deutsche Konkurrenz mit ähnlichen Hoffnungen.
Nach knapp 6000 m war mit Homiyu Tesfaye ein Mitfavorit dem Abrahamschen Tempodiktat zum Opfer gefallen, am Ende lag der inzwischen für den TSV Pfungstadt startende gebürtige Äthiopier mit 28:46,11 Minuten doch deutlich zurück. Zeigte sich aber keineswegs unzufrieden mit Rang drei im Meisterschaftsrennen von Pliezhausen. „Nach den Straßenläufen in Paderborn und Würzburg war ich etwas müde und bin ohne jegliches Bahntraining ins Rennen gegangen. Was ich brauche, das sind Rennen, deshalb war es heute für mich ein gutes Training. Beim Europacup wird es natürlich besser laufen“, wagt der 29jährige eine Prognose.
Hinter diesem prominenten Trio holte sich der 20jährige Tom Förster als Gesamtvierter in 29:32,13 den U23-Titel und verwies mit minimalem Vorsprung Kilian Schreiner (29:32,83) auf Rang fünf. Um die nächsten Plätze spurteten Lorenz Baum, Dustin Uhlig, der U23-Zweite Marius Abele und Thorben Dietz und blieben wie auch Alexander Schröder unter der 30-Minuten-Marke. Der bis Streckenhälfte mischte der für den LAC Freiburg startende Filmon Teklebrhan in der Spitzengruppe fleißig mit, musste letztlich aber aufgeben.
Im vorgeschalteten 10.000 m-Rennen der U23-Juniorinnen formierte sich eine Vierergruppe mit Jasmina Stahl, Linn Lara Kleine, Hanna Bruckmayer und zunächst noch Sopie Kretschmer – ehe Jasmina und Linn Lara ein erfolgsversprechender Vorstoß nach 7000 m gelang. Jasmina Stahl erwies sich in der Schlussphase als stärkste Läuferin und durfte nach 34:11,12 Minuten jubeln. „Das Rennen hat super viel Spaß gemacht. Meine Beine haben sich sehr gut gefühlt, deshalb habe ich einen Alleingang die letzten 2000 m versucht! Es hat sich gelohnt!“ Dagegen zeigte sich Linn Lara Kleine als Zweitplatzierte (34.33,22) etwas enttäuscht: „Nachdem ich am Bayerkreuz im März eine 33:15 gelaufen war, enttäuscht mich das schon. Ich war vier Wochen im Höhentrainingslager in Flagstaff und neue Dimensionen ausprobiert. Natürlich nehme ich die Silbermedaille mit, aber mit einem bitteren Beigeschmack!“
Die beiden 5000 m-Rennen der U20-Junioren verliefen spannend – bis auf die Ziellinie. Bei den Mädchen kam es wie schon zuletzt wiederum zum bayerischen Dauerduell zwischen Linda Meier und der erst 15jährigen Franziska Drexler. Auch wenn Franzi in der Schlussphase das Tempo bestimmte, am Ende hatte die 17jährige des LAC Passau mit 17:15,83 knapp die Nase vorne, Franzi folgte mit einer Sekunde Rückstand auf Rang zwei. Noch knapper ging es bei den Jungen zu, denn am Ende trennten Kurt Lauer und Constantin Carls bei einer Siegerzeit von 14:58,53 Minuten gerade einmal 35/100stel Sekunden. „Ich liebe solche taktische Rennen“ freute sich Kurt Lauer über den Titelgewinn. „Für mich war dies das erste Bahnrennen der Saison. Wegen einer Fußverletzung habe ich das Training etwas reduzieren müssen“, gestand der Ludwigsburger, dessen Ziel ein Start bei den Weltmeisterschaften in Cali über die 3000 m-Hindernisstrecke sind. Der erst 16jährige Tristan Kaufhold als der Talentschmiede des SSC Hanau-Rodenbach holte überraschend mit 15:04,68 Rang drei.
Den Auftakt machten bei diesen Langstreckenmeisterschaften im herrlich gelegenen Schönbuchstadion die Mastersklassen, die allerdings über ungewohnt warme Temperaturen in der frühen Nachmittagszeit für die 25-Runden-Läufe klagten. Für die schnellste Endzeit sorgte Dirk Busch als Sieger der M40 mit starken 32:15,14 Minuten, weitgehend dichte Einläufe im Sekundentakt waren allerdings das Salz in der Suppe bei eher kleinen Starterfeldern in den einzelnen Altersklassen. Für eine ungewöhnliche – und erfolgreiche Starthäufigkeit sorgte dabei Markus Mey, der nach seinen M50-Siegen in Hannover (Marathon) und Wolfenbüttel (50 km) den Hattrick in Pliezhausen mit dem Erfolg auch noch über 10.000 m sicherte.
Bei den Frauen gefiel die W50-Siegerin Susanne Heinbach (40:32,54) wie auch Christine Sigg-Sohn als W55-Erste (40:53,75), die schnellste Zeit erzielte als Erste der W35 Stefanie Osthoff mit 38:32,90 Minuten.
Wilfried Raatz