Malaika Mihambo - Foto: Victah Sailer
Änderung im Weitsprung – Geliebtes Brett, gehasstes Brett – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung-
Der Leichtathletik-Weltverband World Athletics plant, den Balken im Weitsprung abzuschaffen. Das wäre eine andere Disziplin – würde aber vermutlich neue Rekorde auslösen.
Weitsprung ist, wie so vieles in der Leichtathletik, ein spezieller Wettbewerb. Den beim ISTAF Indoor von Berlin gewann am Freitagabend, in einer energiegeladenen Halle mit mehr als 12.000 Zuschauern, Olympiasiegerin Malaika Mihambo mit 6,95 Metern, ihrem besten Ergebnis bei vier Starts in diesem Winter. „Im Wettbewerb habe ich nur an den Anläufen gearbeitet“, sagte sie: „Fünf sind mir so gelungen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Das ist eine gute Quote.“
Woher kommt die Zufriedenheit?
Drei ihrer sechs Sprünge waren ungültig. Die schnellste Weitspringerin der Welt hatte auch in Berlin wieder so viel Tempo drauf, dass sie dreimal übertrat und die Sprünge nicht gemessen wurden. „Mir ist es gelungen, wirklich sehr gut in meinen Anlauf reinzufinden“, urteilte sie trotzdem: „Er hat immer bis auf einige Zentimeter gestimmt.“
Malaika Mihambo nimmt den Balken, von dem sie laut Reglement abspringen muss, nur als Orientierungsmarke. Dank Videoanalyse und Augenmaß wissen sie und ihr Trainer, dass manche ungültigen Sprünge sehr gut sind. Und dass ein Sprung wie Mihambos erster am Freitag, der mit 6,78 Metern ebenfalls zum Sieg vor der Schweizerin Annik Kälin und der Italienerin Larissa Iapichino (beide 6,75 Meter) gereicht hätte, nicht gelungen war. „Ich war ideal am Brett, aber es war nicht der optimale Punkt für den Absprung. Ich hatte meine Zwischenmarke überlaufen, musste (meine Schritte) ganz kurz setzen und habe mich gar nicht getroffen“, erklärte die Dreißigjährige: „Ich habe schon oft nicht das erreicht, was ich draufhatte, weil ich nicht ganz richtig das Brett getroffen habe.“
Das klingt wie ein Plädoyer. Für die Änderung, die der Leichtathletik-Weltverband World Athletics plant. Noch in diesem Jahr sollen bei Sportfesten der zweiten Reihe Sportlerinnen und Sportler aus einer Absprungzone heraus abheben zum Flug in die Sandgrube und nicht mehr auf Gedeih und Verderb die vordere Hälfte des zwanzig Zentimeter breiten Balkens treffen müssen. Wenn alles gut geht, wird der vermaledeite Balken 2026, 140 Jahre nach Einführung, ausgedient haben.
Der bevorstehende Umbruch seiner Disziplin lässt den viermaligen Olympiasieger Carl Lewis über einen verfrühten Aprilscherz schimpfen. „Man macht doch auch nicht die Körbe beim Basketball größer, weil einige Spieler ihre Freiwürfe nicht treffen.“ Ivana Spanovic, Weltmeisterin von Budapest 2023, beklagt, dass niemand die Athleten nach ihrer Meinung frage. Den Balken zu treffen sei Teil des Weitsprungs.
Bei der WM, bei der sie im vergangenen Jahr die Abwesenheit Mihambos zum Titelgewinn nutzte, gab es spektakuläre Stürze. „Wer übertritt, kann ins Rutschen kommen, bleibt am Tartan hängen, fliegt ab, und keiner versteht, warum“, erklärt Marc Osenberg, „und bricht sich dabei alle Gelenke im Fuß.“
Video- und Messtechnik haben den Fußabdruck in einer Plastilinmasse, die in den Balken eingelassen war, für den Nachweis des Übertretens obsolet gemacht. In der Aussparung liegen nun rutschige Kunststoff- und Sperrholzriegel, eine Gefahrenquelle. In Berlin sah man eine blaue Intarsie im Balken, eine Siebdruckplatte, die der Athletenmanager und Veranstalter Osenberg mit Tartan übergossen hatte: Weltpremiere mit Grip. Retter des Balkens ist er damit vermutlich trotzdem nicht.
„Was will man? Dass die Athleten absolut weit springen?“, fragt Malaika Mihambo: „Dann ist der Balken das falsche Ziel. Will man aber den Schwerpunkt auf die technische Komponente legen, darauf, dass die Anlaufgenauigkeit auf den letzten Millimeter stimmen muss, dann muss man das Brett lassen.“
Was man will, weiß niemand besser als Petr Stastny, als Vorstandsvorsitzender (CEO) der Diamond League der vermutlich wichtigste Vermarkter der Leichtathletik. Er kämpft unermüdlich gegen Langeweile und Wartezeiten in seinem Sport. Dafür hat er bereits das Endkampf-Format „Final 3“ für Sprünge und Würfe eingeführt. Rund ein Drittel aller Weitsprünge sei ungültig, verschenkte Mühe also und vergebene Aufmerksamkeit. „Unser Ziel ist es, die Dynamik und Attraktivität der Leichtathletik so gut wie möglich darzustellen“, sagt der Berliner: „Auch Sportarten mit langer Tradition sollten sich verändern dürfen. Für Sportlerinnen und Sportler würde dies selbstverständlich eine Veränderung der Trainings- und Wettkampfroutine bedeuten.“
Weitsprung ohne Balken wäre eine andere Disziplin. Bisher führen die besten Sprünge nicht immer zum besten Ergebnis. Der weiteste Sprung Mihambos wurde annulliert, weil sie einen Zentimeter übertrat. Das war bei der Weltmeisterschaft von Eugene 2022, die sie mit 7,12 Meter gewann. „Wir haben ihn ausgewertet und kamen auf 7,34 Meter“, sagt Mihambos Trainer Uli Knapp, vier Zentimeter über ihrer Bestleistung: „Das wäre weltweit der beste Sprung der letzten dreißig, vierzig Jahre gewesen.“
Als sie bei der deutschen Hallenmeisterschaft vor einer Woche im zweiten Versuch 6,83 Meter weit sprang, verschenkte sie beim Absprung zwanzig Zentimeter: ein Siebenmetersprung, der in keinem Ergebnis auftaucht. Den Titel gewann sie mit 6,93 Metern. Die Videomessung vom tatsächlichen Absprung in der Zone bis zur Landung würde solche Flüge in voller Länge würdigen und vermutlich zu neuen Rekorden führen.
Vierzehn deutsche Meisterschaften, die Europameisterschaft von Berlin 2019, zwei Weltmeisterschaften, Olympiasieg in Tokio 2021: All ihre Titel gewann Malaika Mihambo nach dem überkommenen Reglement.
Sie weiß, dass eine Herausforderung auf sie wartet: „Ohne Balken habe ich noch nichts gewonnen.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 26.2.2024