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2009

Ihr gemeinsamer Abschied hätte aus dem Drehbuch eines deutschen Fernsehstücks stammen können. Denn zwar nicht im Gleichschritt, doch parallel verliefen die Lebenswege dieser Freundinnen von der Ostsee.

Abschied von zwei Goldstücken – Michael Reinsch, Elstal – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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06. September 2009 Wenn das kein Bekenntnis ist: Ein Stirnband, auf dem steht „Wir sind Weltmeister“. Für Steffi Nerius, die ihre Wettkämpfe stets unter ein Motto gestellt hatte, das sie auf der Stirn trug, war am Sonntagmorgen in Rügen ein Bus mit Familie, Freunden und Fans aufgebrochen in den Westen von Berlin.

Im Olympischen Dorf von 1936, in Elstal, wollten dessen Passagiere bei einem kleinen Sportfest Abschied feiern – und zeigten deutlich, dass sie die Fortsetzungsgeschichten auf den Stirnbändern immer miterlebt hatten.

Auch die aus Leverkusen angereiste Weltmeisterin zeigte Stirn und antwortete: „Finale! – Ich will euch hören!“ Für sie ging es um einen Teil des Jackpots, den eine Bank (die DKB) für die besten deutschen Athleten ausgesetzt hat. Auf dem Rasenplatz zwischen hohen Bäumen und den Ruinen des Olympischen Dorfes, rund zwanzig Kilometer vom Ort ihres größten Erfolges entfernt, dem Olympiastadion von Berlin, bestritt Steffi Nerius den vorletzten Speerwurf ihrer Laufbahn und verdiente mit 62,90 Meter 10.000 Euro. „Ich dachte, die WM in Berlin war der Höhepunkt meiner Karriere“, rief sie bewegt den dreieinhalbtausend Zuschauern zu. „Ich glaube, Elstal hat das noch getoppt.“
 
Auch Franka Dietzsch, ihre beste Freundin, warf noch ein bisschen und freute sich gewaltig. Gemeinsam mit Weltmeister Robert Harting bestritt sie, um nicht nur herumzustehen, ein Diskus-Zielwerfen. Sie war am Morgen mit ihrem Fan-Bus aus Neubrandenburg ins Havelland gefahren. Am Ziel stieg sie mit einer roten Schärpe über den breiten Schultern aus, auf der in Großbuchstaben stand „Diskusqueen“. Ihre Schwester hatte der dreimaligen Weltmeisterin zudem ein Brett mit allerlei Grüßen und mitten drauf einem goldenen Sportschuh gebastelt, den Franka Dietzsch nun an den Nagel gehängt hat. Die Athletin trug die sperrige Huldigung geduldig vor dem Bauch, bis sie alle Wünsche nach Autogrammen und nach gemeinsamen Fotos erfüllt hatte.

Abschied wie aus dem Drehbuch eines Fernsehstücks

Weltmeisterin Steffi Nerius und die dreimalige Weltmeisterin Franka Dietzsch standen – trotz der Teilnahme von Harting und der Kugelstoß-Silbermedaillengewinnerin Nadine Kleinert, – im Mittelpunkt der Veranstaltung. Elstal, das war das Finale einer Serie, die so etwas wie die Golden League für die deutsche Provinz geworden ist. Steffi Nerius und Franka Dietzsch waren die Goldstücke.
 
Ihr gemeinsamer Abschied hätte aus dem Drehbuch eines deutschen Fernsehstücks stammen können. Denn zwar nicht im Gleichschritt, doch parallel verliefen die Lebenswege dieser Freundinnen von der Ostsee. Die 41 Jahre alte Franka Dietzsch aus Koserow auf der Insel Usedom und die vier Jahre jüngere Steffi Nerius aus Bergen auf Rügen begegneten sich zum ersten Mal im Sportclub Empor Rostock und auf seiner Kinder- und Jugendsportschule. Die kleine Franka ging damals in die achte Klasse. Seitdem hielten sie zusammen, bei den großen und kleinen Herausforderungen; zuletzt bei der Weltmeisterschaft in Berlin vor zwei Wochen teilten sie das Hotelzimmer.

Ihre Vergangenheit im staatlichen Nachwuchssportsystem lässt Franka Dietzsch und Steffi Nerius als Vertreterinnen der letzten Generation von DDR-Athleten erscheinen. Dabei hatten beide erst Erfolg, als die Mauer gefallen war. 1991 mussten sie Rostock verlassen, um weiter Spitzensport treiben zu können. Gemeinsam gingen sie auf Reisen, um die Möglichkeiten einer professionellen Karriere auszuloten. Steffi Nerius entschied sich für den Westen. Seitdem trainiert sie bei Helge Zölkau in Leverkusen. Zum Dank für ihren größten Wettbewerb, der ihr 60.000 Dollar Prämie einbrachte, schenkte sie ihm eine Harley-Davidson. Nun wird sie hauptberuflich seine Kollegin und trainiert bei Bayer Behindertensportler, unter anderem den mehrmaligen Paralympics-Sieger Matthias Mester. Ihr Haus auf Rügen vermietet sie an Urlauber.

Der Abschied von Franka Dietzsch war lang und schmerzhaft

Franka Dietzsch blieb zu Hause. Sie entschied sich für den Sportclub Neubrandenburg und den kantigen Trainer Dieter Kollark. Auch diese Liaison wurde zu einer Erfolgspartnerschaft. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, 1999 in Sevilla, gewann Franka Dietzsch ihre erste Weltmeisterschaft. Im Jahr zwanzig des neuen Deutschland tritt sie, mit dem Titeln von Helsinki 2005 und Osaka 2007 drei Mal Weltmeisterin, von der Bühne Leichtathletik ab.

Ihr Abschied war lang und schmerzhaft, auch wenn Franka Dietzsch am Sonntag braungebrannt und gut gelaunt nichts davon spüren ließ. Lebensbedrohlicher Bluthochdruck und eine Fußverletzung kosteten sie im vergangenen Jahr die Olympiateilnahme, und doch trainierte sie immer weiter. Als sie wusste, dass es für die ersehnte olympische Medaille zu spät war, stand die Vorbereitung auf Berlin an. Zum zehnten Mal konnte sie dort nur deshalb an der Weltmeisterschaft teilnehmen – kein Athlet auf der Welt startete öfter – weil sei als Titelverteidigerin eine Wild Card hatte.

„Mit jedem Wettkampf hatte ich mich mehr verabschiedet“

Doch auch diese Saison war eine Qual: Nie kam sie in Form und erreichte in der Qualifikation im Olympiastadion nicht einmal sechzig Meter – das große Ziel ihrer Laufbahn war es, einmal siebzig Meter weit zu werfen – und schied schließlich vor dem Finale aus. Sie erlebte es mit Fans auf der Tribüne. „Mit jedem Wettkampf hatte ich mich mehr verabschiedet“, verriet sie, nachdem sie eine Träne verdrückt hatte. „Endlich hat die Quälerei ein Ende.“ Sie, die mit Trainer Kollark immer per Sie blieb, will zwar mit einer Party ihren Ausstand geben, doch sie wird in Neubrandenburg bleiben.

Steffi Nerius war es vergönnt, auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn zu gehen. Sie weiß seit Jahren, dass sie Trainerin wird. Franka Dietzsch gab ihre Stelle bei der Sparkasse auf, um der DKB-Bank das Sponsoring ihres Vereins leichter zu machen.

Sie macht nicht den Eindruck, dass ihre Zukunft ungewiss ist.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 6. September 2009

 

author: GRR

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