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17
08
2006

Langläufer sind nicht Glamour-Wesen aus einer anderen Welt, wie die stets von Zirkusluft umwehten muskulösen Sprinter. Die mageren Dauerläufer stehen mit beiden Beinen auf der Straße und auf Waldwegen.

Roter Teppich – „Das Wunder von Göteborg“ – EUROPAMEISTERSCHAFTEN DER LEICHTATHLETEN IN GÖTEBORG – Michael Reinsch in der FAZ – Mit dem Marathon-Titel wird Ulrike Maisch zum „National Hero“

By GRR 0

„Das ist das Wunder von Göteborg!“

Praktisch im Handumdrehen, nun ja, in zweieinhalb Stunden ist am Samstag Ulrike Maisch zu einer der attraktivsten Frauen der Leichtathletik geworden. Noch während der Interviews in der „Mixed zone“ des Ullevi-Stadions von Göteborg steckte ihr ein Vertreter des New York Marathons seine Karte mit den Worten zu: „Behalten Sie sie!“
Da hatte auch schon Horst Milde, der Vater des BERLIN-MARATHON, vom Streckenrand aus zu Hause angerufen und die Verpflichtung der Läuferin aus Rostock für seinen Lauf Ende September abgemacht. „Endlich haben wir National Heroes“, freute er sich und bejubelte die „epochale Bedeutung“ der Siege von Ulrike Maisch im Marathon und von Jan Fitschen im 10 000-Meter-Lauf: „Das ist das Wunder von Göteborg!“

Zu früh

Langläufer sind nicht Glamour-Wesen aus einer anderen Welt, wie die stets von Zirkusluft umwehten muskulösen Sprinter. Die mageren Dauerläufer stehen mit beiden Beinen auf der Straße und auf Waldwegen. Mit dem Titel von Göteborg geraten nun zwei in den Fokus all derer, die die große, einflußreiche und nicht zuletzt kaufkräftige Gruppe der Hobbyläufer zu erreichen suchen. Ulrike Maisch versuchte sich am Sonntag morgen nach nur einer Stunde Schlaf in diese neue Situation einzufinden. Der BERLIN-MARATHON komme ein bißchen zu früh, um ihn mitzulaufen, sagte sie. Doch auf die Verdienstmöglichkeiten, die sich ihr nun eröffnen, freue sie sich. Vor einem Semester hat die 29 Jahre alte Rostockerin ihr Lehramtsstudium unterbrochen; um professionell trainieren zu können, hat sie sich bei der Bundeswehr beworben.

Erster Marathon in Berlin 2001

Mit gerade acht vollständigen Marathons in den Beinen – den ersten lief sie bei Horst Milde 2001 – hat Ulrike Maisch noch Spaß am Langlauf und ihre Möglichkeiten noch längst nicht ausgereizt. Am Samstag lief sie auf den vier Runden über das Kopfsteinpflaster und die Straßenbahnschienen von Göteborg in 2:30,01 Stunden Bestzeit. Als sie auf den letzten zwölf Kilometern zehn Positionen und 41 Sekunden Rückstand aufholte, lief sie die zweite Hälfte des Rennens knapp dreieinhalb Minuten schneller als die erste. „Da ist noch ein bißchen was drin“, sagte sie am Sonntag. Das kann man durchaus auf mehr als die Bestzeit beziehen.

Roter Teppich

Im Vergleich mit den Besten der Welt, etwa mit der wegen Schwangerschaft in Göteborg fehlenden Schnellsten, der Engländerin Paula Radcliffe (Weltrekord in 2:15,25 Stunden), fehlen Ulrike Maisch gut zehn Minuten und ein Manager. Soll sie dem Werben der großen, internationalen Läufe nachgeben und sich in die – wohl aussichtslosen – Vergleiche mit Läuferinnen aus Japan, Kenia und Äthiopien begeben?
Oder soll sie sich in Deutschland Rennen mit Tempomachern und ausgewählter Konkurrenz für Bestzeiten und gute Plazierungen auf den Leib schneidern lassen?
Die Veranstalter dürften nur zu bereit dazu sein, ihr auf den Laufstrecken des Landes den roten Teppich auszurollen. Ulrike Maisch verlagert einen Teil der ermüdenden Trainingskilometer auf Wander- und Radtouren und sogar in bis zu fünf Stunden lange Wassergymnastik. Wer sich so schont, dürfte nicht Gefahr laufen, sich auf der Jagd nach dem schnellen Geld verheizen zu lassen.

Junioren-Meisterin

Vor zehn Jahren hatte die Läuferin schon begonnen, sich derart zu schonen, daß dies praktisch ein Abschied vom Sport war. Nach dem Abitur war sie gemeinsam mit einer Freundin nach El Paso in Texas an die Universität gegangen und ließ schließlich, trotz Sportstipendiums, das Laufen fahren. Mit acht bis zehn Kilogramm Übergewicht, erinnert sie sich heute, kehrte sie aus Amerika zurück. Sie ließ sich zur Vorbereitung auf einen Halbmarathon überreden und wurde, auch damals, zu ihrer eigenen Überraschung deutsche Junioren-Meisterin. Da kam sie wieder in Schwung. Nur zum Vergnügen läuft sie allerdings nicht. „Glückshormone?“ sagte sie. „Habe ich beim Laufen noch nie bemerkt.“ Die dürften nach dem Rennen am Samstag gekommen sein.
Ulrike Maisch wog übrigens 55 Kilo.

Michael Reinsch
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
Montag, dem 14. August 2006

author: GRR

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