Blog
21
08
2006

Eine ergänzende Lauf-Disziplin-Bilanz der Leichtathletik-EM von Wilfried Raatz

Spannung, so manche Überraschung und erstaunlich viel Mittelmaß bei der 19. EM in Göteborg 2006

By GRR 0

„Bei aller Freundschaft….“ könnte man den Programm-Machern der dank unserer Gebühren stark subventionierten ARD ernsthaft mahnend zurufen, als man anstelle des (nicht nur aus deutscher Sicht dank Jan Fitschen zupackenden) 10 000 m-Finales der Männer „In aller Freundschaft“ auf das Programm-Tableau setzte. Meine Herren (vielleicht waren dabei auch Damen beteiligt), welcher Fauxpas! Ansonsten sollte man/frau sich keinesfalls über die Leichtathletik-Präsenz auf den Bildschirmen beschweren, denn was die Öffentlich-rechtlichen mit Scholt, Poschmann, Leissl und Co. (z.B. der mehr als überflüssige Delling) und der Spartensender Eurosport mit den Marathonplauderern Heinrich & Thiele (in Ergänzung durch Stéphane Franke) eine Woche lang während der Leichtathletik-Europameisterschaften in die bundesdeutschen Wohnstuben produzierten, war aller Achtung wert.
Mal besser, mal schlechter – jedenfalls ein dickes Plus für die olympische Kernsportart Leichtathletik im Kampf um die Gunst des Publikums.

Deutschland – das Comeback eine Läufernation?
Das sicherlich nicht, aber gut tut es angesichts der zumeist desaströsen Auftritte der deutschen LäuferInnen auf internationalem Parkett in den vergangenen Jahren, falls diese überhaupt dank der verschärften Zulassungsbestimmungen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes überhaupt möglich waren.

Zweimal Gold durch Jan Fitschen auf der 10 000 m-Strecke und Ulrike Maisch im Marathonlaufen, das ist mehr, als selbst Utopisten im Vorfeld glaubten. Und es ist gut so, dass fernab der Dominanz der afrikanischen Läuferinnen und Läufer einige ins Rampenlicht spurteten, die mit ihrer absoluten Leistungsunfähigkeit sonst kaum eine Chance auf eine Schlagzeile gehabt hätten.

Hier die beiden Goldmedaillen der Deutschen auf viel gefragten Laufstrecken gespickt mit exzellenter Dramaturgie, dort der (un)erklärliche Absturz der spanischen Läufernation, der sich zumindest letztlich durch die beiden 5000 m-Titel durch Jesus Espana und Marta Dominguez noch merklich abschwächte. Oder der überraschende Titelgewinn durch den Finnen Jukka Keskisalo, der die besten finnischen (Langstreckler-)Jahre wieder wachrief.
s ist keinesfalls eine Wachablösung in Göteborg vonstatten gegangen, sondern eher könnte es eine Initialzündung sein, auf die die Volkslaufnation Deutschland vielleicht warten musste, damit es hierzulande mit unseren vermeindlichen Spitzenkräften auch international wieder salonfähig weiter gehen kann.

Männer 800 m: David Fiegen und das Gold vor Augen

Ehrlich gesagt, ich hätte es dem jungen David Fiegen wahrlich gegönnt. David wer?
Richtig, David Fiegen aus unserem westlichen Nachbarland Luxemburg, aus jenem Großherzogtum, das man in weniger als einer Autostunde durchquert hat. Der 22jährige, von seinem Vater Romain Fiegen, einem 400 m-Hürdenläufer trainiert, und von der Trainerlegende Paul Schmidt phasenweise beraten, unterlag praktisch auf der Ziellinie dem „fliegenden Holländer“ Bram Som.
Dieser erspähte letztlich eine klitzekleine Lücke und sich zwischen dem favorisierten Letten Dmitrijs Milkevics, dem Briten Sam Ellis und eben David Fiegen vorbei zu Gold mogelte. Für den früheren Europa-Jugendmeister ist es letztlich ein konsequenter Aufstieg eines Lauftalents, egal ob im Crossterrain (wie beispielsweise mehrfach beim Darmstadt-Cross) oder auf den Tartanbahnen Europas.
Um die Tempohärte letztlich zu verbessern, investierte man im Luxemburgischen sogar in zwei kenianische Sparringspartner für David Fiegen, um damit vielleicht einmal sogar in die Fußstapfen des legendären Josy Barthels wandeln zu können, dem 1500 m-Olympiasieger von 1952.

Den Mut, sich ins Getümmel zu stürzen, fehlte einmal mehr René Herms, dem nach dem verletzungsbedingten Aus von Olympiasieger Nils Schumann einzigen Deutschen mit internationalem Maß. Doch der Sachse ist bereits auf europäischem Terrain überfordert, seine Nerven spielten einmal wieder Roulette. Mit einer katastrophalen Taktik führte er lange das Feld im Vorlauf an, um letztlich als Letzter (!) sang- und klanglos auszuscheiden.
So dilettantisch sein Auftreten, so auch seine einsilbigen Entschuldigungen (er stammelte dabei etwas von Kälte und Regen!).

Frauen 800 m: „Rambo“-Kotlyarova gelingt der Umstieg

Eher mangelnder Routine ist es Olga Kotlyarova zuzuschreiben, dass erst eingangs der Zielgeraden eine ramboartige Attacke den Weg zu Gold ebnete. Denn die fünffache 400 m-Staffel-Weltmeisterin und 400 m-Olympiaachte von Sydney ist erst in diesem Jahr so richtig auf der 800 m-Strecke angekommen, auch wenn sie schon 2004 eher als Joke eine 1:57er Zeit zur Premiere hinlegte.
Mit Fast-Bestzeit von 1:57,38 wurde es letztlich dann doch Gold vor ihrer Teamkollegin Svetlana Kljuka und der geprellten, aber überaus kampfstarken Britin Rebecca Lyne.
Fast ähnlich lethargisch wie Herms ergab sich Monika Gratzki im Vorlauf mit 2:03,42 ihrem Schicksal und wurde Vorletzte. Was nutzt angesichts des desolaten Auftritts die Saisonbestzeit von 2:00,16 eine Woche später in einem Männerrennen in Köln….

Männer 1500 m: Erneuter Titel Mehdi Baala, den gewieften Taktiker

Vieles sprach im taktisch geführten Finale für Ivan Hesko, den Hallen-Weltmeister 2006, doch der sprintstarke Vielstarter aus der Ukraine hatte sich verzockt und zog gegen den geschickter agierenden Franzosen Mehdi Baala den Kürzeren, der damit seinen in München gewonnenen Titel vier Jahre später mit Erfolg verteidigen konnte.
Da nutzte letztlich auch nicht die Kunst Heskos, im Ernstfall, wie beim World Athletics Finale 2004 die letzten 400 m in 50,2 Sekunden laufen zu können, etwas gegen Baala. Den „Kampf um die goldene Ananas“ gewannen die Spanier, die mit Juan Carlos Higuero, Arturo Casado und Sergio Gallardo fein säuberlich aufgereiht die Ränge drei bis fünf belegten. Sie hatten dem Rennen ihren unmaßgeblichen Stempel aufgedrückt, aber letztlich ihrer Unentschlossenheit Tribut zollen müssen.

Respektable Leistung für Carsten Schlangen

Mit Carsten Schlangen war auch ein deutscher Starter dabei, der allerdings mit 3:42,62 im Vorlauf erwartungsgemäß scheiterte. Für einen, der noch nie in einem internationalen Rennen gestanden hatte, eine durchaus respektable Leistung, auch wenn er damit meilenweit vom Finaleinzug entfernt lag. Es ist aber eine durchaus richtige Entscheidung seitens des DLV, zumindest den Meister in einer vermeindlich schwachen Disziplin zu schicken.

Frauen 1500 m: ICE-Tempo im Finale

Am Schlusstag der begeisternden Titelkämpfe zeigten die russischen Frauen im 1500 m-Finale ihren zaudernden und zögernden Disziplinkollegen, wie hochkarätig ein Meisterschaftsrennen sein kann. Nach zwei WM-Titeln kam dabei Tatjana Tomaschova in 3:56,91 zum Erfolg über ihre Landsfrau Julia Tschischenko (3:37,61) und der starken Bulgarin Daniela Jordanova, die nicht nur mit 3:59,37 auch noch unter der begehrten 4:00 Minuten-Marke blieb, sondern auch einen dreifachen Russen-Erfolg verhinderte, da es ihr gelang, Jelena Sobolewa in Schach zu halten, der mit 4:00,36 nur der undankbare vierte Rang blieb.

Dank der russischen Troika und Jordanova ein Spitzenresultat, das bei den immer mehr in Mode kommenden taktisch gelaufenen Titelrennen eine rühmliche Ausnahme ist. Die 1500 m-Strecke ist europaweit eine Domäne des früheren Ostblocks, Lichtblicke gibt es in dieser tempoharten Disziplin kaum.

Sowohl die deutsche Meisterin Kerstin Werner als auch die DLV-Jahresbeste Antje Möldner wurden seitens des DLV nicht nominiert, eine überaus nachvollziehbare Entscheidung, zumal die Neu-Wattenscheiderin ihren Coup von Ulm selbst eher als Zufallsprodukt ansah und die Potsdamerin nach ihrer vergeblichen Norm-Jagd ausgebrannt wirkte.

Männer 5000 m: Der Favorit am Boden – Spannendes Sprintfinale entschädigt

Fast schien es, als hofften sie auf die Rückkehr des gestrauchelten Favoriten Alistair Cragg, doch der Ire humpelte mit angerissener Achillessehne aus dem Stadionoval. Spannung pur dann im Finale der Mitläufer zwischen dem Briten Mohammed Farah und dem Spanier Jesus Espana, der letztlich nach mehreren Führungswechsel glücklich die Nase vorne hatte.
Undiskutabel die Siegerzeit von 13:44,70. Doch stets hat (nur) der Sieger recht. Verlierer einmal mehr Juan Carlos Higuero, der als 1500 m-Mann eigentlich die besten Chancen zu Gold gehabt hätte.
Hätte – das lässt sich auch für den deutschen Starter Arne Gabius sagen, der sich eher sang- und klanglos aus dem mäßig langsamen Vorlauf vorzeitig aus dem Rennen verabschiedete. Dem Neu-Tübinger und Baumann-Schützling fehlt es scheinbar an der Courage und dem Mut, auch einmal gegen die Schmerzen in der müde werdenden Muskulatur anzukämpfen.
Internationale (Titel-)Rennen jedenfalls werden nach einem anderen Strickmuster gelaufen als es die zumeist mäßig schnellen nationalen Rennen sind.

Frauen 5000 m: Wenigstens Bronze für Elvan Abeylegesse

Nach dem 10 000 m-Debakel für die äthiopische Türkin Elvan Abeylegesse schien es über die halbe Distanz besser zu laufen, doch die Afrikanerin mit dem türkischen Pass hatte die Rechnung ohne die Titelverteidigerin Marta Dominguez gemacht.
Nach Rang sieben über 10.000 m gelang ihr am Finaltag der Coup mit einem harten Finish gegen die Russin Lilia Shobuchova und der Türkin. Die Spanierin hatte dabei ganz auf ihre Spurtstärke gesetzt – und gewonnen.
Des einen Glück, des anderen Leid gilt dabei für die Britin Jo Pavey, die sich nach der Streckenhälfte an die Spitze gesetzt hatte und für den enormen Druck gesorgt, dem letztlich nur die drei Medaillengewinnerinnen folgen konnten. Parallelen zu Jos großer Landsfrau Paula Radcliffe drängen sich auf, schließlich wurde diese auch zumeist nach großartigem Temporennen im Spurt von der Spitze verdrängt.

Sabrina Mockenhaupt schien das Zickenduell mit ihrer deutschen Rivalin Irina Mikitenko über 10 000 m gut weggesteckt zu haben, denn die kleine Siegerländerin zeigte sich blendend erholt und schaffte das Optimum mit Rang sechs gegen die starke Norwegerin Susanne Wigene und die Ungarin Krisztina Papp.

Männer 3000 m Hindernis: Finnische Sensation

Jukka Keskisalo hatte nach der Papierform allenfalls eine kleine Außenseiterchance, doch der aktuell nur auf Rang vierzehn der europäischen Bestenliste geführte Finne wurde wie im Märchen plötzlich zur Nummer eins des alten Kontinents.
Vor zwei Jahren hatte Keskisalo schon einmal im Finale gestanden, bei den Weltmeisterschaften im heimischen Helsinki, doch eine Verletzung verhinderte in der Folge einen Ausbau dieser Position. Mit Glück überstand er den Vorlauf als Siebter und 8:29,06. Und nun dieser finnische Hammer im Finale!
Der Spanier José Luis Blanco hatte das Nachsehen wie auch der französische Favorit Bouabdellah („Bob“) Tahri, der mit 8:06,91 die beste Vorleistung mit nach Göteborg brachte. Doch der gebürtige Algier im Tricolore-Dress, übrigens seit 2005 von dem früheren Pippig-Coach trainiert, blieb einmal mehr bei hochkarätigen Ereignissen ohne Glück, holte aber wenigstens mit Bronze seine erste Medaille bei internationalen Meisterschaften.

Ohne deutsche Beteiligung fanden die Hindernis-Wettkämpfe statt. Beschämend angesichts der großen Tradition gerade auf dieser Strecke. Doch mit Tradition alleine lässt sich kein neuer Patriz Ilg produzieren …

Frauen 3000 m Hindernis: Goldiges Familienglück

Es ist das Rennen mit dem größten Entwicklungspotential. Selbst wenn sich eine Läuferin wie die junge deutsche Meisterin Verena Dreier im entscheidenden Moment um acht Sekunden auf 9:48,90 steigern kann, reicht das noch längst nicht für den Finaleinzug.
Dennoch Hochachtung vor der 20jährigen, die sich nach verletzungsbedingten Rückschlägen unter Heiner Weber prächtig nach vorne gearbeitet hat – weiterer Erfolg nicht ausgeschlossen.
Im Finale jubelte Alesia Turava aus verständlichen Gründen: Die Weißrussin hatte nicht nur die Jahresbeste Violetta Janovska mit ihrem furiosen Antritt 400 m vor dem Ziel geschockt, sondern auch eine weitere Goldmedaille für die Familie Turava geholt.
Schließlich hatte drei Tage zuvor ihre Schwester Rita das 20 km-Gehen gewonnen.

author: GRR

Comment
0

Leave a reply