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12
09
2006

Der amerikanische Leichtathletik-Coach Clyde Hart über Rekorde, Doping und verdächtige Trainingsgruppen

„Wenn Marion Jones schuldig ist, dann für ihren Umgang“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Clyde Hart ist 72 Jahre alt. Er trainiert zwei der drei unbesiegten Jackpot-Gewinner der Golden League: Sanya Richards und Jeremy Wariner, beide 400-Meter-Läufer, die auch am Wochenende beim Weltfinale der Leichtathleten in Stuttgart auf der Bahn stehen. Wariner ist mit 22 Jahren Olympiasieger und Weltmeister. Er läuft damit in den Fußstapfen von Michael Johnson. Auch den fünfmaligen Olympiasieger und neunmaligen Weltmeister hatte Hart entdeckt und an der Baylor University in Waco/Texas trainiert.
Johnsons Weltrekorde über 200 und 400 Meter gelten immer noch: 19,32 und 43,18 Sekunden.

Ihre Athleten sagen, daß sie nur tun müßten, was Coach Hart sagt. Ist das so?

Das ist ein Kompliment. Ich bin seit fünfzig Jahren Trainer und habe eine Geschichte von erfolgreichen Läufern; fünfzehn sind 44er Zeiten gelaufen und zwei 43er. Wenn die Kids mir vertrauen, brauche ich nicht soviel Zeit, um ihnen zu erklären, warum wir was tun.

Die beiden klingen, als hätten sie eine Mission: rausgehen und Leistung abliefern. Lehren Sie das?

Ja, wir sprechen darüber. Wir setzen uns für jedes Jahr Ziele. Im vergangenen Jahr war das der Sieg bei der WM. So etwas ist ein ganz anderes Programm, als die Golden League zu gewinnen. Damit haben wir im Juni
in Oslo angefangen.
Was kann alles passieren in drei Monaten! Man muß sechsmal bereit sein. Dieser Sommer war, was die Vorbereitung und die Konzentration angeht, mindestens so schwer wie eine Olympia-Saison.

Ist das der Grund dafür, daß Sie die beiden nach Europa, nach Berlin und Stuttgart, begleitet haben?

Absolut. Ich wollte verhindern, daß die Kids eines Tages sagen: Hätte ich dies oder das getan, wäre ich besser vorbereitet gewesen. Nach Stuttgart lasse ich sie allein.

Trainiert Jeremy Wariner nach demselben Plan wie Michael Johnson?

Ganz genau. Jeremy wird nie so kräftig werden wie er. Man kann ihm drei Mahlzeiten am Tag servieren, er legt einfach nicht zu. Als er zu mir kam, habe ich gesagt: Du nimmst in den nächsten vier Jahren zehn Pfund zu. Ich wäre froh, es wären fünf geworden. Aber Windhunde sind ja auch ziemlich mager.

Trotzdem macht er dasselbe Training?

Von dem Programm, das ich mit Michael verfolgt habe, benutzt Jeremy etwa 95 Prozent. Wenn Michael diese anderen fünf Prozent gemacht hätte, wäre er vermutlich ein bißchen schneller gelaufen. Seit 2000 habe ich ein paar Sachen gelernt, die diesen Kids guttun und die Michael gutgetan hätten. Aber das sind Rückblicke; man wird es nie wissen.

Haben sich die Athleten geändert?

Nicht so sehr, wie die Leute sich das vorstellen. Die Athleten von heute sind sehr höflich und tun, was sie sollen. Ich wäre nicht Coach, wenn ich mich rumärgern müßte. Dazu ist das Leben zu kurz. Ich habe dreimal hintereinander den Olympiasieger gestellt, das hat noch niemand erreicht. Ich mache so lange weiter, wie es mir Spaß macht. Jeremy hat Lust, ich habe Lust.
Da haben Michael und ich gesagt, laß uns diese Kids unterstützen, soweit es geht.

Heißt das: bis zum Weltrekord?

Wie Sanya gesagt hat: Für sie ist erst einmal der amerikanische Rekord das Ziel.

Die 48,83 von Valerie Brisco-Hooks . . .

Ich will nicht sagen, daß die Zeit von Michael schlecht ist, 43,18. Aber sie ist eher erreichbar. Wenn Jeremy eine halbe Sekunde von seiner Bestzeit runterbringt, was er dieses Jahr geschafft hat, ist er dran.
Er ist dem Plan sowieso voraus.

Und die 47,60 von Marita Koch?

In den vergangenen zwanzig Jahren ist kein Mensch auch nur in die Nähe gekommen. Vielleicht zwei, drei Frauen sind überhaupt eine 48er Zeit gelaufen.

Sanya Richards hat vom Weltrekord gesprochen, und alle haben einen Schreck bekommen.

Ich will nicht sagen, daß der Rekord unerreichbar ist. Aber er ist, ehrlich gesagt, kein realistisches Ziel.
Marita Koch war gedopt, als sie den Rekord lief.
Ich glaube auch. Ich habe darüber gelesen.

Haben Sie vom DDR-Doping erst erfahren, als darüber geschrieben wurde?

Wir haben es bemerkt, als es getan wurde. Wir haben über die Schwimmerinnen gesprochen, von denen heute einige unter gesundheitlichen Problemen leiden. Es war verrückt, als wir vor dem Istaf in Berlin in dem Sportzentrum trainierten, das die zentrale Bahn der ostdeutschen Läuferinnen gewesen war.

Viele Leute sind erschüttert von den Doping-Enthüllungen dieses Sommers: bei der Tour de France, Justin Gatlin, fast Marion Jones . . .

Wir haben noch dazu die Baseballspieler in Amerika. Ich habe das Gefühl, daß die Leichtathletik in unserem Land einen guten Job macht beim Testen. Sie erwischen Leute, und trotzdem prügelt man sie. Wenn man einen sehr guten Athleten erwischt, zeigt das doch, daß man nicht nur ein Opferlamm sucht.

Ist Hoffnung für saubere Athleten?

Ich sage immer: Wir machen es sauber. Man kann sich nicht auf etwas verlassen, das einen in drei, vier Monaten stärker macht. In meinen fünfzig Jahren als Trainer hatte ich nie einen positiv getesteten Athleten. Wir wurden und werden regelmäßig getestet. Ich finde das gut.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Wenn man sich die Geschichte des Dopings in meinem Land anschaut, wird man feststellen, daß die, die erwischt wurden, fast alle aus denselben Enklaven kamen. In letzter Zeit kamen sie sogar alle aus derselben Trainingsgruppe.

Aus der Truppe von Trevor Graham.

Es gibt noch andere Gruppen, etwa in der Gegend von Los Angeles. Wenn ich konkreter würde, bekäme ich Ärger. Jemand hat kürzlich aufgelistet, welche Trainer und Manager wie viele positive Athleten hatten. Ich kam nicht vor.

Als Sie von Balco, dem Doping-Netzwerk mit Designer-Steroiden, erfahren haben, hat Sie das erschüttert?

Nein. Man kommt immer auf dieselben Leute. Ich war von keinem einzigen Namen überrascht. Auf der Bahn siehst du Kids, die fehlen mal bei zwei oder drei Wettkämpfen, und dann sind sie wieder da und sind überraschend gut. Es gibt viele Anzeichen. Aber wirklich entscheidend ist, mit wem jemand unterwegs ist.

Wie geht es weiter?

Die Kids müssen wissen, daß es Regeln gibt. Alle müssen sich an diese Regeln halten. Wie kann das Ergebnis einer A-Probe bekanntwerden, bevor die B-Probe gemacht wurde? Warum konnte Justin Gatlin an der amerikanischen Meisterschaft teilnehmen, obwohl eine positive A-Probe vorlag? Das Allerschlimmste ist, daß im Internet Gerüchte schlimmer verbreitet werden als früher über den Gartenzaun. Sobald jemand schnell rennt, wird er mit Leuten in Verbindung gebracht, die positiv getestet wurden. Das ist unfair.

Das ist gerade Jeremy Wariner passiert.

Das ist Sanya passiert, das ist Michael passiert. Jeremy weiß, daß es keinen positiven Test gibt, aber es ist schmerzhaft. Irgend jemand behauptet, gegen ihn werde ermittelt. Das stimmt nicht. Meine Athleten können jederzeit getestet werden.

Wariner hat die Pressekonferenz verlassen, als er danach gefragt wurde.

Das ist so, als ob ich sagen würde: Ich habe gehört, daß Sie eine Bank überfallen haben; ich habe eine verläßliche Quelle. Wir haben echt die Nase voll davon.

Sie haben angedeutet, daß Sie merkwürdige Dinge gesehen haben.

Bei den Olympischen Spielen haben Sportler beim Training solche Übungen gemacht, daß wir gesagt haben: Hey, da stimmt was nicht.

Was haben sie gemacht?

Ich will das nicht ausführen. Aber Athleten und Trainer können schon sehen, ob es mit rechten Dingen zugeht.

Wie war es dieses Jahr, als Sie Ihre beiden Läufer durch Europa begleitet haben: Ist Ihnen etwas aufgefallen?

Alle fanden bemerkenswert, wie Marion Jones zurückgekommen ist im Vergleich zum vergangenen Jahr. Man soll Leute nicht verdächtigen, zumal ihre B-Probe negativ war. Marions Problem ist, daß sie sich in Situationen brachte, in denen es schwer war, sie nicht zu verdächtigen.
Ihr Mann, der Vater ihres Kindes, der Trainer in Kanada, der Ben Johnson trainiert hat . . .

Charlie Francis.

Sanya oder Jeremy hatten niemals solchen Umgang. Wenn Marion Jones schuldig ist, ist sie schuldig für ihren Umgang.

Was bewirkt der Zweifel?

Wenn ein Sportler wie Justin Gatlin geschnappt wird, sagen die Leute: Alle sind gedopt.
Doch es gibt einen Riesenunterschied zwischen ihm und einem Sportler wie Jeremy Wariner: die Leute, mit denen sie trainieren.

Die Fragen stellte Michael Reinsch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Samstag, 9. September 2006

author: GRR

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