Ein Leben als laufende Leidenschaft: Bernd Hübner ist schon immer in Berlin dabei — selbst nach einer Krebs-OP
Go, Hübi, go – Der Asphaltkönig von Berlin – Christian Witt im FOCUS Nr. 38 vom 18. September 2006
Die Sonne steht hoch oben am Himmel über Berlin, und im spätsommerlichen Grunewald sind die Temperaturen längst über 20 Grad geklettert, als sich Bernd Hübner auf seinem letzten langen Trainingslauf vor dem Berlin-Marathon der 27-Kilometer-Marke nähert. Knapp zweieinhalb Stunden ist der 59-Jährige mittlerweile unterwegs, sein Puls pegelt irgendwo um die 130 Schläge pro Minute, der Mann ist — geradezu eine Frechheit für sein Alter — kein bisschen aus der Puste. „Weesste wat?“, erklärt der gebürtige Neuköllner dann noch keck auf dem Anstieg zum Teufelsberg, „in Wirklichkeit bin ick ja Leichtgewichtsruderer …“
Ach so, denkt sich der schnaufende Mitjogger, bevor es auf die letzten fünf Kilometer geht, weil der hagere 1,76-Meter-Mann „ja eijentlich gar nicht vom Laufen kommt“, rennt er am Sonntag also wieder mal die 42,195 Kilometer kreuz und quer durch die deutsche Hauptstadt. Und erhöht damit die geltende Bestmarke: „Hübi“ ist zum 33. Mal dabei. Um nicht zu sagen, er hat als einziger Mensch der Welt noch keinen Berlin-Marathon verpasst, der Herr „Leichtgewichtsruderer“.
„Er ist die Kultfigur, der Frontmann unserer Veranstaltung“, lobt Horst Milde, der Erfinder des Berlin-Marathons. Schließlich sei die große Schleife an der Spree immer auch zwei Wettkämpfe: zum einen das Rennen der schillernden Stars auf der anerkannt schnellsten Marathonstrecke der Welt, zum anderen der Kampf der restlichen 40000 ambitionierten Amateure gegen den inneren Schweinehund. Der Kampf aller Hübis wie du mit ihrem Ich.
„Das ist ja det Sensationelle an unserem Event“, sagt Hübner und leert noch mal kurz eine Pulle aus seinem Trinkgürtel, „ick laufe hier zusammen mit allen Top-Stars, mit Haile Gebrselassie, Sammy Korir — wir alle, ein Wettkampf.“ Für den Mann, der 1984 die höchst beachtliche Bestzeit von 2:27:04 Stunden hinlegte, ist der Berlin-Marathon deshalb „mein ganz persönliches Olympia und einfach nur schön“.
Die Galionsfigur. Was Bernd Hübner Besonderes zu leisten vermag, hat er vergangenes Jahr endgültig bewiesen. Nach einem Routine-Vorsorgecheck diagnostizieren die Ärzte bei ihm Prostatakrebs. Anfang April wird der Ausdauermaniac in der Charité fast vier Stunden lang operiert, Vorsteherdrüse und Teile der Harnröhre werden entfernt. Fast zwei Monate muss er pausieren, bis alle Wunden verheilt sind, „und der Katheter endlich wieder rausging“.
Mitte Juni unternimmt der Rekonvaleszent mit Ehefrau Monika erste vorsichtige Laufversuche. Fünf Kilometer geht es im Zockeltrab durch den Wald, der Kreislauf klemmt, die Beine „fühlten sich an, wie verkehrt eingedreht“. Aber er spürt bei den ersten vorsichtigenBewegungen (endlich) wieder die vertraute Marathoni-Musik, „den Dreiklang von Körper, Geist, Natur“.
Peu à peu steigert der „Asphaltkönig“ (Milde) seine wöchentliche Trainingsleistung — bis auf 70 Kilometer. „Und dann kam das nächste dicke Ding“, sagt Hübner und zieht wie zum Trotz auf den letzten Übungskilometern dezent das Tempo an, „knapp vier Wochen vorm Marathon habe ich mir auch noch den Meniskus im Knie eingerissen“.
Geht nicht gibt’s nicht — die fällige Operation wird auf Oktober terminiert. Mit Stützverband und der Erlaubnis der Ärzte geht Hübner an den Start. Und Hunderttausende von Zuschauern huldigen dem Meister der Willenskraft. Die letzten Kilometer auf dem Prachtboulevard Unter den Linden bis hin zum Brandenburger Tor „werde ick nie im Leben vergessen“. Zehntausende brüllen „Go, Hübi, go!“ — und tragen so den Mann nach 4:30 Stunden ins Ziel und in die Arme seiner Frau. „Dann war kurz Freude und danach viel Schmerz.“
Der letzte lange 31,17-Kilometer-Trainingslauf vor dem Ernstfall ist geschafft, Schweiß und Schmutz sind abgeduscht, das (alkoholfreie) Weißbier ist eingeschenkt. Hübi nimmt einen Schluck, wischt sich den Schaum vom Mund und erklärt noch mal die Faszination Marathon, für ihn weit mehr als vordergründige Teilnahmerekorde. Er hat im Lauf der Jahre fürs Leben gelernt, von Bestleistungen Abschied zu nehmen, „was ein schwieriger Prozess ist“. Nicht mehr unter 2:30 laufen zu können, nicht mehr unter 3:00 Stunden. „Lernen, die sich ändernden körperlichen Grenzen anzunehmen“, sagt er, „das zeichnet Marathonis aus.“
Für seine Passion kämpft Hübner an allen Ecken der Welt. Daheim, in Deutschlands Kapitale, organisiert er den 14-Kilometer-Havellauf und diverse „Hübi-Lauftreffs“, die ohne Anmeldung und Kosten funktionieren, „nur jute Laune musste mitbringen“. Er kümmert sich als ehrenamtlicher Leiter um den Jubilee-Club des Berlin-Marathons, in den Läufer ab der zehnten Teilnahme dürfen — samt lebenslangem Startrecht. Er macht dazu Reklame bei jedem internationalen Marathon, „hat uns schon 1980 in New York vorgestellt“, so Milde, „als die noch dachten, Berlin ist irgendwas vor Polen“.
Und weil Hübner als Ehemaliger aus der Telekom-Planung langfristiges Denken gewohnt ist, hat er die Ziele schon wieder weit gesteckt. „Bis 2023 würde ich gern noch laufen.“, sagt Hübi.
Den 50. BERLIN-MARATHON rennen, mit 76 Jahren. „Det wär was, wa?“
Christian Witt
FOCUS
18. September 2006