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2006

Der Sammelband enthält insgesamt 17 Beiträge unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz: u.a. von der Medizin über die Soziologie bis hin zur Trainingslehre. Alle Verfasserinnen und Verfasser bezeichnen sich selbst als aktiv Laufende

Die Laufbewegung in Deutschland – interdisziplinär betrachtet – Prof. Dr. Detlef Kuhlmann über das Buch von DIETER H. JÜTTING (Hrsg.) – die Kaufempfehlung zu Weihnachten

By GRR 0

Die Laufbewegung hierzulande ist alles andere als eine Modeerscheinung. Sie läuft und läuft seit nunmehr gut drei Jahrzehnten … und erfreut sich aktuell dynamischer Wachstumsraten und weiterer Ausdifferenzierungen: Die großen City-Events verzeichnen meist steigende Teilnehmerzahlen, und längst sind Formen des „sanften Laufens“ wie (Nordic) Walking auch bei uns hinzugekommen und offenbar in der Lage, weitere Bevölkerungskreise zu gewinnen, die dieser Fortbewegung „aus eigenem Antrieb“ bislang fern standen.
So gesehen ist es fast schon ein wenig verwunderlich, dass zwar auf der einen Seite immer mehr Bücher zum Laufen den Markt kommen, aber es auf der anderen Seite nirgendwo ein (populär-) wissenschaftliches Forum gibt, das die Laufbewegung in Deutschland interdisziplinär betrachtet. Diese Lücke wird nun mit der gleichnamigen Publikation vorläufig geschlossen.

Alles aktiv Laufende

Das Buch geht nämlich zurück auf eine elfteilige öffentliche Vortragsreihe im Rahmen eines Studienprojektes mit dem Titel „Die Laufbewegung in Deutschland – Bilanz und Perspektiven“. Sie fand im Sommer des Jahres 2002 in Münster statt, erreichte aber leider seinerzeit nicht die erhoffte Resonanz, wie Herausgeber Dieter H. Jütting gleich in der Einleitung selbstkritisch feststellt.
Auf jeden Fall haben nun all diejenigen, die damals in Münster nicht dabei sein konnten, die Möglichkeit, die Vorträge und andere Beiträge zum Thema nachzulesen, um sich so wenigstens zeitversetzt selbst ein interdisziplinäres Bild von der Laufbewegung in Deutschland machen zu können.
Der Sammelband enthält insgesamt 17 Beiträge unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz: u.a. von der Medizin über die Soziologie bis hin zur Trainingslehre. Alle Verfasserinnen und Verfasser bezeichnen sich selbst als aktiv Laufende. Sie sollten seinerzeit in ihren Vorträgen „im besten Sinne volkstümlich“ (8) reden. Deswegen waren auch die Vortragstitel alltagssprachlich und in Frageform vorgegeben.

In dieser Rezension kann nicht auf alle Beiträge gebührend eingegangen werden. Die Auswahl bleibt auf nur acht beschränkt und macht vielleicht so indirekt auf die anderen neun Beiträge (von Frick, Liebheit, Lücke/Reinermann, Lutz, Oberste, zweimal Schulze, Strauß und Kuhlmann) ein wenig neugierig:

Laufen als ein Lebensmittel

Buchherausgeber Dieter H. Jütting versucht in seinem Beitrag: „Was ist der Unterschied zwischen Joggern und Volksläufern?“ die beiden Läufertypen Jogger und Runner näher zu charakterisieren. Diese Art von sozialstatistischer Verortung basiert auf kleineren empirischen Erhebungen am Rande von Volksläufen, Lauftreffs und anderen kollektiven Laufevents im Sinne einer von Jütting sog. explorativen Praxisbegleitforschung.
Demnach lassen sich – stark verkürzt und idealtypisch kontrastiert – beide Läuferfiguren so unterschieden: Der Jogger läuft vornehmlich im moderaten Tempo für seine Gesundheit und betrachtet das Laufen hauptsächlich als Erholung und Entspannung, also als ein Mittel für nicht-sportliche Zwecke. Er will etwas Gutes für sich tun: „Laufen als ein Lebensmittel“ (59).
Demgegenüber läuft der Runner primär für sportliche Ziele mit individuellem Leistungsanspruch. Er genießt den symbolischen Gewinn bzw. die soziale Anerkennung seiner läuferischen Leistungen. Die positiven Wirkungshoffnungen des Joggers sind darin eingeschlossen. Vom Runner wird das „Laufen als ein Vergnügungsmittel“ (59) betrachtet. Jütting vergleicht diese beiden Läufertypen in historischer Perspektive mit dem Turn- bzw. Sportkonzept, die beide jeweils mit den Begriffen Gesundheit vs. Wettkampf semantisch injiziert sind.

Zwei Beiträge befassen sich ausschließlich mit historischen Aspekten des Laufens: Erhard Wiersing geht der Frage: „Was bedeutete Laufen im alten Griechenland?“ nach, und Herbert Bauch/Michael Birkmann beschäftigen sich mit der Bedeutung des Laufens speziell in der Biedermeierzeit. Sie zeichnen u.a. nach, wie durch die rapide Verbesserung des Straßen- bzw. Kommunikationswesens in den deutschen Staaten der Berufsstand der laufenden Boten und der herrschaftlichen Vorläufer vom Niedergang betroffen war und wie dadurch die Karriere der selbstständigen Schnell- und Kunstläufer (die sog. „Fuß-Virtuosen“) ihren Lauf nehmen konnte.
Einige seinerzeit berühmte Läufer von Peer Bajus, Samuel Hartwig, Johann Valentin Görich, Peter Weber, Johann Diedrich Hustedt bis Mensen Ernst werden hier porträtiert. Was die Strecken der Läufer anbelangt, entwickelten sich bald die Wendepunktrennen zu Rundläufen. Die Gründe dafür waren geradezu nahe liegend: Das Publikum konnte so den Lauf von Anfang bis Ende besser mitverfolgen, damit stieg auch der Unterhaltungswert. Die Gastronomie konnte Umsatzsteigerungen erzielen und schließlich wurde den Läufern ermöglicht, mehr Geld auf einfachere Weise zu verdienen. Schließlich „konnten die Geldsammlungen bei einem Rundkurs mit deutlich geringerem Aufwand als an einer kilometerlangen Strecke erfolgen“ (28).

Immer barfuß gelaufen

Wiersing bettet das Laufen – die älteste Disziplin im griechischen Sport der Antike – ein in die Legende um den Marathonlauf und in die Olympischen Spiele, wo das Laufen seinen festen Platz im Pentathlon zusammen mit dem Diskuswurf, Weitsprung, Speerwurf und dem Ringen hatte:
„Unter Wettkampfbedingungen wurde immer barfuß gelaufen, und zwar auf der festgestampften Sandschicht des Stadions. Da das Stadion eine rechteckige Form hatte, es keine Rundbahnen gab und die Laufbahnen in einer Länge von 600 Fuß geradlinig-parallel angeordnet waren, waren die längeren Läufe Pendelläufe mit jeweils einer oder mehreren Wenden“ (263). Der Stadionlauf über die Distanz von 600 Fuß (knapp 200m) war die kürzeste Distanz, die längsten Läufe gingen damals „nur“ über 24 Stadien (etwa 4.500 m).

Auch die Sporthistorikerin Gertrud Pfister bezieht logischerweise in ihrem Beitrag: „Warum sind Frauen in der Laufbewegung unterrepräsentiert?“ die zeitgeschichtliche Entwicklung des Frauenlaufe(n)s mit ein und liefert am Ende auch wichtige Antworten darauf, wie noch mehr Mädchen und Frauen für das Laufen gewonnen werden können. Sie berichtet außerdem über die erste Laufveranstaltung in Deutschland, an der ausschließlich Frauen beteiligt waren, die aber weder aus heutiger Sicht noch nach damaligen Vorstellungen zur weiteren Etablierung des Frauenlaufes beigetragen hat.
Es handelt sich um das 1904 vom Berliner Sportclub Komet auf der Radrennbahn in Treptow organisierte Frauensportfest, das nach Auffassung einer Zeitzeugin in erster Linie „dem Zweck dienen sollte, durch die Kühnheit des Unternehmens die an chronischer Krankheit leidende Vereinskasse wieder aufzufüllen“ (146).

Medizinische Aspekte des Laufens

Zwei Beiträge befassen sich ausschließlich mit medizinischen Aspekten des Laufens: Der emeritierte Kölner Immunbiologe Gerhard Uhlenbruck vermittelt Kenntnisse darüber, wie durch Ausdauerlaufen das Immunsystem gestärkt werden kann. Er führt dabei zunächst die Vorbedingungen auf, die zur Stabilisierung des immunologischen Abwehrsystems erfüllt sein müssen (z.B. kein Training bei Fieber bzw. Grippe), bevor er insgesamt zehn positive Wirkbereiche der Stärkung des Immunsystems durch das Laufen benennt (z.B. Bremswirkung auf Alterungsprozesse).
Demgegenüber stellt er schließlich mögliche Gefahren seiner Schwächung (z.B. durch ein Zuviel des Guten). Am Rande: Gerhard Uhlenbruck ist vielen auch in seinem „Zweitberuf“ als ein ausgezeichneter und enorm fleißiger (Lauf-) Aphorismenschreiber bekannt. Selbst dieser Beitrag ist durchtränkt davon – Kostprobe gefällig? Zu den (guten) Trinkgewohnheiten beim Laufen empfiehlt er uns beiläufig, aber durchaus einprägsam: „Du sollst ein heißes Nierenbecken nicht mit kalten Bieren schrecken!“

Ob Laufen „ein Allheilmittel für die Gesundheit“ ist, diese Frage beantwortet Klaus Völker rasch in dem mit sieben Seiten kürzesten Beitrag der Sammlung. Dabei verweist er auf diverse Studien, die u.a. die Beziehung von körperlicher Aktivität und einer prospektiven Mortalität an Herz-Kreislauf-Erkrankungen belegen. Summa summarum folgert er daraus: Aufgrund der vielen schützenden Wirkungen eines regelmäßigen ausdauernden Laufens „ist es in unserer Gesellschaft schon fast fahrlässig, keinen Gesundheitssport etwa in Form von Laufen zu betreiben“ (238).

Lauftherapeut werden

Der Paderborner Psychologe Alexander Weber, der sich schon in den frühen 1980er Jahren mit Veröffentlichungen zum ausdauernden Laufen auch in dieser Zeitschrift hervorgetan hat, skizziert unter der Fragestellung: „Wie kann ich Lauftherapeut werden?“ das Anliegen und Ausbildungsprogramm zum Lauftherapeuten, für den das von Weber selbst 1988 gegründete Deutschen Lauftherapiezentrum e.V. (DLZ) im westfälischen Bad Lippspringe Aus- und Weiterbildungskurse anbietet. Diese Sozialfigur des Lauftherapeuten zeichnet sich nach Webers Vorstellungen vor allem dadurch aus, dass sie zwar Vorbild, aber nicht Perfektionist, „wohl aber authentisch im Verhalten, überzeugend im lauftherapeutischen Handeln“ (248) sein muss.
Interessierte müssen demzufolge eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem psychosozialen Beruf mitbringen oder eine vergleichbare Zulassungsvoraussetzung erfüllen. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass sie „das Erlebnis der eigenen, tief greifenden Veränderung durch Laufen“ selbst bereits nachhaltig erfahren haben, denn nur dann können sie dieses möglicherweise bei anderen beizeiten auslösen. Weber bringt diese Art von mitreißendem läuferischen Modellverhalten in Anlehnung an Hartmut von Hentig dann so auf den Punkt: „Die Person des Lauftherapeuten ist das wichtigste Curriculum“ (246).

Im hinteren Teil des Buches bieten Dieter H. Jütting, Heike Lücke und Simone Reinermann dann noch „eine sozialwissenschaftliche Literaturliste“ an. Ihr liegen Recherchen der gängigen Datenbanken „Spolit“ und „OPAC“ zugrunde. Sie ist auch insofern wohl als eine Auswahlbibliografie zu verstehen, als nur zwischen 1970 und 2001 erschienene Literatur aufgenommen wurde.
Diese Veröffentlichungen sind dann weiter unterteilt in: soziologische (1.), geschichtliche (2.) und psychologische Literatur (3.) sowie Literatur über Lauftreffs, Straßenläufe (4.) und praxisbezogene Literatur, Ratgeber, Trainingsmethodik (5.). Geht man die 21 Positionen der letzten Gruppe etwas genauer durch, dann fällt auf, dass (abgesehen von zwei Büchern, bei denen im Titel gar nicht von Laufen die Rede ist) hier nur Publikationen bis 1998 auftauchen, darunter ein französischer Zeitschriftenaufsatz vom Jahrgang 1988 und ein amerikanisches Jogging-Buch aus dem Jahre 1980.
Demnach bleiben vier deutschsprachige Aufsätze und 15 Bücher übrig, von denen nur sechs nach 1990 erschienen sind. Kann das wirklich alles sein? Und: Wem ist denn wohl mit einer solchen spärlichen Liste überhaupt gedient? Man könnte sogar zu dem (Fehl-) Schluss gelangen, die Datenbanken und Bibliotheken hätten seinerzeit (Stand Juni 2001) keine weitere und vor allem keine neuere Literatur zu diesem Themenkomplex dokumentiert bzw. verfügbar gehabt …

Sport gewinnt immer noch mehr an Bedeutung

Nebenbei: Das Buch „Die Laufbewegung in Deutschland – interdisziplinär betrachtet“ ist als Band 11 der „Edition Global-lokale Sportkultur“ erschienen, die von Dieter H. Jütting, dem langjährigen Leiter des Instituts für Sportkultur und Weiterbildung am Fachbereich Psychologie und Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelm-Universität Münster herausgegeben wird.
Diese Reihe hat sich zum Ziel gesetzt, das weltumspannende Phänomen des Sports lokal, national und international kritisch zu analysieren. Dabei sollen sich in der Reihe selbst die Publikationsformen Monografie und Essaysammlungen abwechseln. Wir können also auf weitere Titel und Themen gespannt sein. Denn im Grunde dürfte der Edition der „Stoff“ kaum jemals ausgehen, spricht doch vieles dafür und nichts dagegen, dass der Sport immer noch mehr an Bedeutung gewinnt … und genau deshalb könnte die Reihe mit ihren Beiträgen zukünftig weiterhin perspektivische Beispiele dafür bringen, wie sich die global-lokale Sportkultur noch „besser“ entwickeln kann.

Ein Fazit zum vorliegenden Buch:
Von der Lektüre dieses Sammelbandes können viele profitieren – alle, die sich forschend und lehrend mit dem Laufen und der Laufbewegung in Deutschland beschäftigen (wollen); ferner diejenigen, die irgendwo und irgendwie im Lande Mitverantwortung für die Laufbewegung tragen, sei es als Funktionär oder Organisator … und nicht zuletzt die Läuferinnen und Läufer selbst bzw. solche, die es noch werden wollen.

Prof. Dr. Detlef Kuhlmann

DIETER H. JÜTTING (Hrsg.):
Die Laufbewegung in Deutschland – interdisziplinär betrachtet
Münster, New York, München, Berlin:
Waxmann 2004. 291 S.;
€ 25,50

author: GRR

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