Europas Laufszene verliert nach und nach den internationalen Anschluss; im Zweijahres-Rhythmus ausgetragene Europameisterschaften wären zumindest ein Motivationsfaktor und gäben dem Nachwuchs das Gefühl, der enorme Aufwand führe nicht dennoch nur zur Statistenrolle, sondern gebe im überschaubaren zeitlichen Abstand die Möglichkeit eines realistischen Meisterschaftsvergleichs.
Standortbestimmung und Tendenzen im leichtathletischen Lauf – Nach der EM in Göteborg und der Leichtathletik-Junioren-WM in Peking – Lothar Hirsch in LEISTUNGSSPORT
Olympische Spiele und Weltmeisterschaften tragen im Laufbereich in erster Linie die Handschrift der Afrikaner. Besonders auf den langen Strecken läuft Europa mittlerweile nur noch mit. Die Mittelstrecken und der Hindernislauf konnten bisher noch halbwegs bestehen; die Frauen sehen sich einer nicht ganz so massiven Übermacht ausgesetzt und besitzen noch „Mitbestimmungsrecht“.
Allgemein wohltuend für Läuferinnen und Läufer wurden nun die Europameisterschaften (EM) in Göteborg empfunden, wo endlich einmal Meisterschaften ohne die übermächtige Konkurrenz aus Afrika ausgetragen werden konnten. Eine Gelegenheit, sich zu motivieren und das eigene Können zu präsentieren, die sich leider nur alle vier Jahre bietet.
Europas Laufszene verliert nach und nach den internationalen Anschluss; im Zweijahres-Rhythmus ausgetragene Europameisterschaften wären zumindest ein Motivationsfaktor und gäben dem Nachwuchs das Gefühl, der enorme Aufwand führe nicht dennoch nur zur Statistenrolle, sondern gebe im überschaubaren zeitlichen Abstand die Möglichkeit eines realistischen Meisterschaftsvergleichs. Wirkten denn nun die EM in Göteborg für den Laufbereich befreiend? Konnte ein Niveau erreicht werden, das internationalem Standard entspricht? Mit einer Standortbestimmung der letzten EM möchte ich diese Fragen beantworten und folgernd Tendenzen aufzeigen.
Mit Hilfe einer Betrachtung der Junioren- Weltmeisterschaften in Peking eine Woche nach den Europameisterschaften lassen sich diese Tendenzen präzisieren, denn der Meister von morgen ist der Nachwuchs von heute. Durch eine vergleichende Analyse der Ergebnisse der Junioren-WM 2004 zu heute möchte ich die Entwicklungstendenzen in Europa und natürlich in Deutschland aufzeigen.
1. Junioren-WM 2006 Peking
Gesamtbetrachtung
Die alles überragende Laufnation ist Kenia mit 15 Medaillen und 121 Nationenpunkten.
Beschränkte sich in der Vergangenheit die Überlegenheit auf den männlichen Bereich, so sind diesmal männlicher und weiblicher Bereich fast gleich stark: die Männer errangen 7 Medaillen und 60 Punkte, die Frauen 8 Medaillen und 61 Punkte. Eine überragende Leistungsdichte in allen Laufdisziplinen. Die Basisarbeit der verschiedenen Trainingsgruppen in Kenia unter Leitung ehemaliger erfolgreicher Athleten muss als Grundlage dieser Erfolge gesehen werden. Aufgrund dieses Abschneidens und in der Annahme, dass die systematische Förderung sich nach oben hin fortsetzt, wird Kenia in den kommenden Jahren die internationale Laufszene entscheidend mitbestimmen.
Mit großem Abstand folgen Äthiopien mit 4 Medaillen und 51 Nationenpunkten und China mit 2 Medaillen und 28 Punkten. Äthiopien lebt dabei von talentierten „Zufallsprodukten“ vor allem auf den langen Strecken im männlichen und weiblichen Bereich, die keiner zielorientierten Arbeit entstammen. Das Abschneiden Chinas zwei Jahre vor den Olympischen Spielen im eigenen Land muss als enttäuschend angesehen werden: bei den Männern mit einem 6. Platz über 3000 m Hindernis fast versagend, bei den Frauen mit 2 Medaillen und einem 4. Platz weit unter den Möglichkeiten. China mit dem sicherlich größten Menschen- und Nachwuchspotenzial versteht es anscheinend nicht, Laufentwicklung zu betreiben.
Große Fortschritte im männlichen Bereich haben Bahrain mit 3 Medaillen und 26 Punkten und Eritrea mit mehreren guten Platzierungen und 15 Punkten erzielt.
Enttäuschend präsentierte sich die U.S.A. mit nur 7 Punkten bei den Juniorinnen und ohne Punkte im männlichen Bereich.
Ozeanien bleibt ohne Punkte, Mittel- und Südamerika erzielen einen Punkt (Kuba).
Unter den insgesamt 17 punktenden Nationen bei den Junioren und den 21 bei den Juniorinnen sind keine weiteren Auffälligkeiten erkennbar.
Auf Europa und Deutschland möchte ich nachfolgend eingehen.
Europa
Der Negativtrend bei der europäischen Laufnachwuchsszene setzt sich, ausgehend von der letzten Junioren-WM 2004 in Grossetto (Italien), nun in Peking fort. Erzielten 2004 bei den Männern 4 europäische Nationen noch 19 Punkte, so bleibt zwar die Anzahl der punktenden Nationen gleich, aber diese 4 erreichen gerade einmal noch 9 Punkte für ganz Europa (Polen 5, Spanien 2, Frankreich 1, Ungarn 1 Punkt).
Um es noch deutlicher zu machen: Von insgesamt 180 möglichen Nationenpunkten in allen 5 männlichen Laufbereichen erzielt Europa einen Anteil von 9 Punkten (5 Prozent) mit einem 4. Platz über 800 m als bester Platzierung.
Wie auch 2004 bleiben eine Reihe traditioneller Läufernationen ohne Punkte: Russland, Italien, Großbritannien, Portugal, Belgien, Irland, Finnland, Norwegen, Schweden, Deutschland. Im Gegensatz zum männlichen Bereich nahmen die Frauen bei der Junioren-WM 2004 eine starke Position ein. Mit dem unerwartet guten Abschneiden der kenianischen Mädchen in allen Laufdisziplinen in Peking reduzierten sich die Erfolge der Europäerinnen.
2004 erreichten 11 europäische Nationen noch 80 Punkte, 2006 erzielten ebenfalls 11 Nationen jedoch nur 50 Punkte und 2 Medaillen. Die meisten Punkte erreichten: die Ukraine (9), Moldavien (8), Russland und Rumänien (je 7). Besonders gravierend war der Rückgang bei den Rumäninnen von 23 Punkten im Jahr 2004 auf 7 Punkte im Jahr 2006.
Auch hier gab es eine Reihe traditioneller Laufnationen ohne oder mit nur wenigen Punkten: Bulgarien, Spanien, Portugal, Italien, Norwegen, Schweden, Finnland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien.
Diese Dokumentation der Fakten von der Junioren- WM 2006 in Peking verdeutlicht einmal mehr, in welch schwieriger Phase sich die europäische Leichtathletik im Laufbereich befindet. Wenn der Meister von morgen der Nachwuchs von heute ist, so zeichnet sich für die weitere Entwicklung der europäischen Leichtathletik – im Vergleich zur internationalen Entwicklung – ein düsteres Bild ab!
Deutscher Leichtathletik Verband (DLV)
Wie aus Tab. 1 zu ersehen ist, liegt die Teilnehmerzahl des DLV mit 8 Athletinnen und Athleten im Trend der letzten 3 Junioren-WM, d.h., die quantitative Ausgangslage blieb nahezu konstant. Die Vorleistungen über 800 m der Männer mit Platz 9 (1:47.29 min) und Platz 11 (1:47.61 min) in der Weltbestenliste (WBL), über 800 m der Frauen mit Platz 6 (2:03.93 min) sowie über 3000 m Hindernis der Frauen mit Platz 14 (10:12.75 min) in der WBL wiesen engere bzw. weitere Finalchancen aus. Die weiteren 4 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit den Plätzen 20, 21 und > 30 in der WBL waren nahezu ohne Finalchance zu sehen.
Das DLV-Ergebnis von Peking mit 2 Nationenpunkten (7. Platz über 3000 m Hindernis der Frauen mit Bestleistung) weist gegenüber 2004 einen weiteren Negativtrend auf. Über 800 m wurde männlich/weiblich jeweils ein Semifinalplatz erzielt, weitere 4 schieden ohne Chance in den Vorläufen aus, eine Erkrankung verhinderte eine Startmöglichkeit über 3000 m Hindernis weiblich.
Die Leistungsbilanz des DLV steht in engem Zusammenhang mit der europäischen Entwicklung, was die Ursachenforschung betrifft.
Ursachen interner Art fallen sicherlich in jedem Land in begrenzter Zahl unterschiedlich aus, wenn aber von 180 möglichen Nationenpunkten bei den Männern 149 Punkte von 5 Nationen (Kenia 60, Äthiopien 29, Bahrain 26, Marokko 19, Eritrea 15) erreicht werden und 31 Punkte für den Rest der Welt bleiben, scheint die Ursache eher „global“ zu sein.
Bei den Frauen verteilen sich 101 Punkte auf 3 Nationen (Kenia 60, Äthiopien 22, China 19 Punkte), gefolgt von weiteren 18 Nationen mit 9 Punkten und weniger, davon 11 europäische, welche die verbleibenden 79 Punkte unter sich aufteilen. Hierauf möchte ich näher eingehen:
Junioren-Weltmeisterschaften beinhalten generell, aber mit einer Zeitumstellungsproblematik wie in Peking noch verstärkt, ein erhöhtes, internes Problempotenzial für die europäischen Nationen:
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trainingsmethodisch im Allgemeinen, in Bezug auf die Formsteuerung von der nationalen Qualifikation bis zum Topereignis im Besonderen (im DLV-Laufteam gab es nur eine Bestleistung bzw. keine weitere Leistung im Bereich der Bestleistung);
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die ungewohnt starke Konkurrenz- und Wettkampfsituation bei einem Top-Ereignis wie den Weltmeisterschaften;
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die oftmals erstmalig erlebte Zeitumstellungsproblematik ohne Erfahrungswerte in der Vorbereitung vor Ort;
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der Eindruck des neuen Kulturkreises mit ungewohnten Ess- und Lebensgewohnheiten sowie ggf. Klimabesonderheiten;
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relativ lange, unmittelbare Vorbereitungszeit bis zum Wettkampf in ungewohnter Umgebung und meist ohne die vertrauten Bezugspersonen.
Bei den Männern befinden sich unter den mit Abstand führenden Nationen 4 afrikanische (Kenia, Äthiopien, Marokko, Eritrea), bei den Frauen 2 afrikanische (Kenia, Äthiopien); hinzu kommen bei den Männern Bahrain und bei den Frauen China. Alle übrigen Nationen, sowohl westlich wie östlich orientierte, folgen in großem Abstand und ohne Chancen. Die fast erdrückende Dominanz ist aus meiner Sicht kein Zufall, sondern zeigt Besonderheiten auf gegenüber den nicht mehr konkurrenzfähigen Nationen:
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Kenia verfügt über ein für afrikanische Verhältnisse gut organisiertes Nachwuchssystem mit einem schier unerschöpflichen Nachwuchsreservoir – jetzt auch für Mädchen; das selbe gilt für Bahrain für den männlichen Bereich.
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Äthiopien und Eritrea verfügen ebenfalls über ein großes Nachwuchspotenzial, hier fehlen allerdings noch die Organisations- und Förderungsstrukturen.
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In verschiedenen afrikanischen Ländern hat sich der Status der Frauen im Leistungssport verändert; sie werden verstärkt in die Leistungsförderung einbezogen.
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Drei wesentliche Faktoren, die den Unterschied zwischen Europa und Afrika aktuell ausmachen, wurden in der Zeitschrift „Leistungssport“ (3/2006, S. 4 ff.) unter dem Titel „Eine Lehre aus den afrikanischen Lauferfolgen“ von einem italienischen Autorenkollektiv der Universität Mailand kurz und prägnant dargestellt:
1. „die Praxis des vielen Laufens von Kindheit an“,
2. „die unterschiedliche Intensität beim Aushalten der trainingsbedingten Ermüdung“,
3. „die Unterschiede in der Trainingsmethode“.
Punkt 1 meint die Zivilisationsentwicklung der modernen Welt mit ihren negativen Auswirkungen auf den Hochleistungssport. Die Punkte 2 und 3 möchte ich in der Originalinterpretation des Artikels wiedergeben, da es kaum eine bessere Umschreibung gibt: „Die Revision von unangemessenen Trainingsmethoden bildet für alle Trainer der leichtathletischen Ausdauerdisziplinen eine kulturelle Herausforderung. Mittels einer aufmerksamen und kritischen Überarbeitung der Trainingssysteme und der Kriterien für die Talentsuche und -förderung sowie mittels des Wiederaufbaus einer ‘Wettkampfmentalität’ gegen das Resignieren angesichts der deutlichen Übermacht der afrikanischen Läufer lässt sich eine klare Trendwende unterstützen“.
Ob unser Gesellschaftssystem mit all seinen nicht immer leistungssportfreundlichen Auswirkungen eine solche Forderung erfüllen kann, wage ich zu bezweifeln. Es wird darauf hinauslaufen, dass wir nur noch „innereuropäisch“ konkurrenzfähig sein können.
2. EM 2006 Göteborg
Regen, Sturm und niedrige Temperaturen als miserable äußere Bedingungen sind unbestritten die großen Gemeinsamkeiten der beiden letzten Europameisterschaften 2006 Göteborg und 2002 München. Trotz dieser widrigen Umstände boten das Stadion und die Veranstaltung tagtäglich ein tolles Stimmungsbild, wodurch einmal mehr die Popularität der Leichtathletik bei solchen Großveranstaltungen deutlich wird.
National oftmals an den Rand gedrängt, ist die Leichtathletik bei EM, WM oder Olympischen Spielen nach wie vor ein Highlight in den Medien und der Öffentlichkeit. Und die EM in Göteborg hat hierzu erneut einen woherausragenden Beitrag geleistet. Vordergründig wahrgenommen, hat die deutsche Leichtathletik ein ordentliches Bild abgegeben. Besonders freut es mich, dass die beiden Überraschungssiege über 10.000 m der Männer durch Jan Fitschen und auf der Marathonstrecke der Frauen durch Ulrike Maisch als mediale Stimmungsmacher den entscheidenden positiven Schub gaben.
Dies ist, wie gesagt, die Wahrnehmung nach außen. Wie die Leistungen „intern“ zu beurteilen sind, soll für den Laufbereich unter folgenden Aspekten betrachtet werden:
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Entwicklungen und Tendenzen im Vergleich zur EM 2002;
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Wettkampfanalysen: europäisches Niveau nach internationalen Gesichtspunkten;
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Standortbestimmung und Erwartungen für das DLV-Laufteam.
Entwicklungen und Tendenzen im Vergleich zur EM 2002
Zu den Medaillengewinnern der EM 2002 gehörten 9 Athletinnen und Athleten, die bereits 1998 in Budapest Medaillen gewonnen hatten. In Göteborg 2006 gewannen 5 Athletinnen und Athleten, die bereits in München 2002 zum Medaillenkreis gehörten. Der Athletenkreis „mit langem Atem“ reduziert sich; ein Zeichen dafür, dass zum einen die Bereitschaft zum leistungssportlichen Engagement über einen Zeitraum von 4 Jahren bei vielen nicht mehr aufrechterhalten wird und zum anderen die Weiterentwicklung jüngerer Athleten stagniert bzw. rückläufig ist.
Bei einem Vergleich der punktbesten Länder von 2002 und 2006, ergibt sich folgendes Bild (vgl. auch Tab. 2):
Bei den Männern bleibt Spanien deutlich führend vor Frankreich. Von der ersten zu den folgenden Nationen besteht ein Klassenunterschied, wobei dieser Nationenkreis keine Leistungsbreite über alle Disziplinen besitzt. 2002 erzielten 18 europäische Nationen Punkte, 2006 nahezu unverändert 19 Nationen. Hierdurch wird einmal mehr das schwache Niveau Europas im Männerbereich Lauf der breiten Spitze deutlich. Die traditionellen Laufnationen Spanien, Frankreich, Großbritannien und Italien belegen 2006 die ersten 4 Plätze, Deutschland liegt mit 10 Punkten, 5 weniger als 2002, auf dem 7. Platz.
Bei den Frauen bleibt Russland, wie schon 2002, vorne, steigert sich sensationell von 23 auf 79 Punkte. Ähnlich wie im männlichen Bereich folgen die übrigen Nationen mit großem Abstand. Die Punktzahlen 2006 vom Zweitplatzierten abwärts verringern sich nochmals deutlich gegenüber 2002. Die Punkte 2002 verteilten sich auf 21 Nationen, 2006 ebenfalls nahezu identisch auf 20 Nationen. Deutschland verliert 8 Punkte gegenüber 2002 und steht mit 12 Punkten auf Platz 3 bzw. 4.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Spanien bei den Männern und Russland bei den Frauen die mit Abstand stärksten Laufnationen Europas sind, sowohl in der Breite als auch der Spitze. Die folgenden Nationen haben punktuelle Schwerpunkte bzw. Stärken und Schwächen.
Wettkampfanalysen: europäisches Niveau nach internationalen Gesichtspunkten
Bei der Gesamtbetrachtung aller Wettkämpfe fällt auf, dass die Laufwettbewerbe der Frauen ausschließlich als Temporennen stattfinden, während die Wettkämpfe der Männer mit Ausnahme des Marathonlaufs ausschließlich nach taktischen Gesichtspunkten verlaufen. Dies könnte mit dem internationalen Leistungsniveau der einzelnen Athletinnen und Athleten und somit den Disziplinen in Zusammenhang stehen. In der folgenden Darstellung der jeweils ersten Drei jeder Disziplin und der Platzierung in der aktuellen Weltbestenliste (WBL) finden sich deutliche Unterschiede zwischen den Männer- und Frauendisziplinen bei der EM 2006 (Tab. 3).
Das Niveau der ersten Drei der Frauendisziplinen bei der EM 2006, bezogen auf die Platzierung in der WBL (Stand 5.9.2006), ist wesentlich höher als das der Männer. Zum einen verdeutlicht dies einmal mehr, dass die europäische Frauenleichtathletik international noch konkurrenzfähig ist. Die hohe internationale Leistungsfähigkeit trägt sicherlich auch zu einer von Selbstbewusstsein geprägten Renngestaltung bei. Durch die enorme Leistungsdichte auf hohem Niveau steigt die Bereitschaft zu einer aggressiven, aktiven Renngestaltung auf breiter Ebene. Über 10.000 m ist allerdings zu berücksichtigen, dass bisher kein internationales Frauenrennen von großem Format stattgefunden hat und somit die nichteuropäischen Athletinnen nicht entsprechend berücksichtigt sind.
In allen 6 Disziplinen der Männer gibt es 4 Platzierungen unter den ersten 10 der WBL. 5000 m und 10.000 m sind international mittelklassig, 800 m, Hindernis und Marathon noch in internationaler Reichweite, zumindest vereinzelt. Der 1.500-m-Lauf hat noch das anspruchsvollste internationale Niveau.
Sind Rennverläufe vor allem taktisch geprägt, ist die Wahrscheinlichkeit überraschender, nicht erwarteter Zieleinläufe natürlich größer. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Ergebnisse über 5.000 m, 10.000 m und Hindernis der Männerwettbewerbe zu sehen. Über 800 m, 1.500 m und Marathon konnten die Favoriten oder zumindest Mitfavoriten sich entsprechend platzieren. Die Teilnehmerzahlen über 5.000 m von 19 und über 10.000 m von 18 Athleten bestätigen auch quantitativ das mittelmäßige internationale Niveau. Spanien wird mit einmal Gold, zweimal Silber und viermal Bronze zum erfolgreichsten Medaillenteam bei den Männern.
Haben die Männer 4 Platzierungen unter den ersten 3 der WBL, so sind dies bei den Frauen in den 6 Disziplinen von 18 möglichen 11, eine starke Quote als Ausdruck internationaler Leistungsfähigkeit. Lediglich über 5000 m und Marathon sind die Platzierungen zweistellig. Über 10000 m ist die WBL mangels internationaler Wettkämpfe nicht komplett, hier würde sich das Bild durch das Hinzukommen starker nichteuropäischer Läuferinnen nochmals negativ verändern. Hindernis als neue Disziplin hat noch großes Entwicklungspotenzial, weist mit 31 die zweithöchste Teilnehmerinnenzahl nach Marathon mit 34 auf. Äußerst gering fällt die Zahl der Teilnehmerinnen über 5000 m mit 15 aus. Trendmäßig scheinen auch im Frauenbereich die langen Strecken unter immer größeren Einfluss afrikanischer und asiatischer Athletinnen zu geraten. Das erfolgreichste Medaillenteam Lauf stellt Russland mit 3 Gold-, 4 Silber- und 2 Bronzemedaillen.
Standortbestimmung und Erwartungen für das DLV-Laufteam
Die Leistungsentwicklung Lauf des Deutschen Leichtathletik Verbandes (Tab. 4) nach Nationenpunkten und Medaillen zeigt bei den EM 1994 mit 31 Punkten und 2 Medaillen, 1998 mit 35 Punkten und 4 Medaillen und 2002 mit 35 Punkten und 4 Medaillen einen relativ konstanten Verlauf. Das Ergebnis in diesem Jahr fällt mit 22 Punkten und 2 Medaillen jedoch ab. Mit dem Gewinn der beiden Goldmedaillen über 10.000 m Männer und Marathon Frauen sowie 16 Nationenpunkten verbleiben ganze 6 Punkte für die restlichen 12 Teilnehmer, ein sicherlich unbefriedigendes Ergebnis. 800 m, 1.500 m und Hindernis Männer und Frauen bleiben ohne Punkte, für den Bereich 1.500 m und Hindernis bedeutet Göteborg bereits die zweite EM ohne Punkte. Im 5.000-m- Lauf der Männer wurden 1994 die letzten Punkte erzielt, während der 10.000-m-Bereich über alle vier Europameisterschaften hinweg ein konstant gutes Bild abgibt.
Trotz abgeschwächter EM-Zulassungsnormen des Verbandes gegenüber 2002 qualifizierten sich weniger Athletinnen und Athleten, woherausragendendurch sich bereits im Vorfeld der Grundleistungspegel im Laufbereich verschlechterte. Eine Kurzzusammenfassung gewährt einen leistungsmäßigen Überblick:
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Die Disziplinen Marathon und Hindernis Männer sowie 1.500 m Frauen konnten nicht besetzt werden.
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Im Marathonbereich der Männer konnte seit der Wiedervereinigung kein einziger Punkt erzielt werden.
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5 Teilnehmer (800 m Männer und Frauen, 1.500 und 5.000 m Männer, 3.000 m Hindernis Frauen) mussten Vorläufe bestreiten, wobei keiner die nächste Runde erreichte.
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Die Nominierung über 3.000-m-Hindernis Frauen erfolgte ausschließlich unter perspektivischen Gesichtspunkten, d.h., das Ausscheiden stellte keine Überraschung dar, geschah allerdings mit Bestleitung.
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Ein 10.000-m-Läufer schied krankheitsbedingt bereits vor den EM aus, eine Marathonläuferin gab im Wettkampf auf.
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Die Leistungen über 10.000 m Männer können als hervorragend bis überraschend gut eingestuft werden, ebenfalls der 1. Platz im Marathon Frauen.
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5.000 m, 10.000 m und Marathon Frauen liegen im normalen Bereich.
Ursachen für diese Entwicklung sehe ich in folgenden Bereichen:
Trainer-Athleten-Beziehung
Aus einem relativ guten Nachwuchspotenzial (u.a. 5 Junioren-Europameister von 1999 bis 2003) erreichte niemand den internationalen Anschluss. Trainer-Athleten-Verhältnisse wechselten außergewöhnlich häufig, wozu unterschiedliche Faktoren beitrugen:
– berufliche/studienmäßige und private Umfeldveränderungen,
– trainingsmethodische Unsicherheiten,
– menschliche Probleme bzw. charakterliche Schwächen,
– Disziplin- und Einstellungsprobleme,
– zu hohe Anforderungen,
– materielle Orientierung.
Trainingsmethodik
Auf diesem Gebiet stellen sich verschiedene Fragen:
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Sind die erzielten Leistungen im Jugendbereich mit einem dem Alter angepassten Training erreicht worden (Umfang, Trainingseinheiten, Intensitäten, Wettkampfhäufigkeit, Höhentraining, Trainingsmittel), oder sind bereits Grenzen erreicht, die kaum noch Spielraum zur Weiterentwicklung lassen?
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Die konzeptionelle Entwicklung unter DDRBedingungen beinhaltete eine Nachwuchsarbeit auf hohem Niveau. Umfeldbedingungen, die den altersadäquaten physischen und psychischen Belastungs- und Erholungsrhythmus ermöglichten, galten als Voraussetzung einer erfolgreichen Umsetzung. Dieses hohe Niveau ist nach wie vor in vielen Fällen der Maßstab des Nachwuchstrainings, obwohl die heutigen Umfeldbedingungen diesen Anforderungen nicht mehr gerecht werden. In der Folge treten eine stressige Gesamtbelastung mit hohem Abnutzungsgrad und psychosomatischen Erscheinungsbildern (Verletzungs- und Infektanfälligkeit) auf.
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Eine trainingsmethodische und mentale Umstellung auf die veränderten Bedingungen fällt vielen Trainern schwer, da sie über Jahrzehnte nach schematisierten Vorgaben gearbeitet haben, die plötzlich in ihrer Gültigkeit in Frage gestellt sind. Trainingsmethodische Erfahrungswerte zur neuen Situation liegen weder den für die Trainingsschemata verantwortlichen Institutionen vor, noch trauen sich die Trainer eigene Wege zu gehen. Als Folge wird dieses gesamte Problem ignoriert.
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Trainerwechsel erscheinen dann sinnvoll, wenn die Leistungsentwicklung des Athleten mit den dazu notwendigen Fähigkeiten des Trainers nicht mehr übereinstimmt. Selten kommt diese Einsicht rechtzeitig, oftmals zu spät. Kostbare Jahre der Leistungsentwicklung werden durch „Probieren“ verschenkt.
Einstellung und Zielstellung
Sie bedingen sich gegenseitig. Die lang- und kurzfristige Zielstellung der einzelnen Athleten entspricht in den meisten Fällen hohen Ansprüchen. Diskrepanzen treten erst in der Umsetzung auf. Die „Spreu trennt sich vom Weizen“, wenn deutlich wird, welche Einstellung und welche sich daraus ergebenden Konsequenzen in Bezug auf Disziplin, Verzicht, Geradlinigkeit und Zielstrebigkeit im täglichen Leben für eine solch hohe Zielstellung verlangt werden. Weltklasse zu werden mit der Einstellung „Erhalt des angenehmen Lebensstandards“, ist Wunschvorstellung. Pseudobegründungen aller Art für verpasste Ziele dienen regelmäßig wiederkehrend als Alibi. Erreichen die angenehmen Umfeldbedingungen einen Status, der einem Weltklasseathleten würdig wäre, obwohl die reale Leistung etwas anderes sagt, wird es schwierig, weitere, eventuell neue Motivationselemente umzusetzen.
Umfeld
Ein leistungssportliches Umfeld erleichtert die Entwicklung der Leistung. Möglichkeiten hierzu gibt es auf vielen Ebenen, so z.B. leistungssportfreundliche Schulen und Universitäten, Sportfördereinheiten bei verschiedenen staatlichen Institutionen sowie, in Ausnahmefällen, sportfreundliche Arbeitgeber.
Wer sich für den Leistungssport entscheidet, sollte sich gleichzeitig für ein privatsportliches Umfeld entscheiden, das den Leistungssport ermöglicht und mitträgt – auch die weniger angenehmen Seiten. Leistungssport „en passant“ mit dem Anspruch nach ganz oben wird scheitern. Eine klare Entscheidung für oder gegen den Leistungssport wird notwendig sein, um Ziele aller Art zu erreichen.
Die beiden Goldmedaillen von Göteborg als Tendenz für einen Aufschwung Lauf zu deuten, halte ich für fatal. Unter Berücksichtigung einer EM, die nicht annähernd vergleichbar ist mit Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen, bleibt das Laufergebnis hinter den Erwartungen zurück. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse und Tendenzen der Junioren-WM Peking werden die kommenden drei Jahre mit zwei Weltmeisterschaften und den Olympischen Spielen in Peking für den Laufbereich im DLV zu einer schwierigen Passage.
Es werden alle möglichen Ursachendiskussionen im Organisations- und Strukturbereich geführt. Entscheidend wird sein: Mit immer weniger Athletenpotenzial von unten her wird auch das Talentpotenzial Weltklasse auf ein Minimum reduziert, was zur Folge hat, dass wir auf Dauer nicht konkurrenzfähig sein können. Weltklasseathleten sind und bleiben Individualisten mit herausragenden Eigenschaften auf allen Ebenen. Wenn wir diesen Athletentyp nicht finden oder haben, nützen die perfektesten Systeme nichts.
Der Autor
Lothar HIRSCH, von 1973 bis 1988 Bundestrainer Langstrecke im DLV, von 1989 bis 1993 Cheftrainer Lauf und von 1994 bis 2004 Teamleiter Lauf.
Anschrift: Alte Heerstr. 88b, 56076 Koblenz E-Mail: LHirsch@t-online.de
QUELLE: Leistungssport 6/2006