Auch Hensel sieht ein Ziel darin, dass sich die Leichtathletik vom Gemischtwarenladen zu einem Verband entwickelt, bei dessen Highlights das Publikum wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft vom vergangenen Jahr in Nationaltrikots schlüpft und schwarz-rot-goldene Fähnchen schwingt.
Europacup der Leichtathleten – Die Entdeckung des Team Spirit für Individualisten – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)
MÜNCHEN. „Die Feier hinterher ist schöner, wenn man gemeinsam gewinnt“, weiß Tim Lobinger aus Erfahrung. Der gerade nach München umgezogene Stabhochspringer will deshalb nicht nur seinen Wettbewerb am Samstag im Olympiastadion gewinnen – auf den er sich wegen akuter Leistenbeschwerden unter Schmerzen vorbereitet. Sondern er rät der Konkurrenz und den Gästen aus dem Ausland auch: „Verpasst unsere Party im Biergarten nicht! Sie ist Teil unserer Kultur.“
Lobinger und die deutsche Mannschaft, zumindest ihr männlicher Teil, können am Wochenende einen Mannschaftswettbewerb in den Individualsportarten der Leichtathletik gewinnen. Beim Europacup der jeweils besten acht Nationalmannschaften der Alten Welt wollen sie einen Generationenwechsel sichtbar machen.
Nur knapp ein Drittel der deutschen Teilnehmer war vor fünf Jahren bei der Europameisterschaft im Olympiastadion München dabei.
Im vergangenen Jahr in Malaga mit Platz acht praktisch abgestiegen, sind die deutschen Männer nun lediglich dabei, weil sie Gastgeber sind. Und sie sind Favorit.
Die Frauen werden sich wohl damit zufriedengeben müssen, die beste Plazierung hinter den seit zehn Jahren ununterbrochen siegenden Russinnen anzustreben.
Zuletzt bei „Jugend trainiert für Olympia“
Für Christina Obergföll, die Weltmeisterschaftszweite im Speerwerfen, ist ein Mannschaftswettbewerb so ungewöhnlich, dass sie sagt: „Ich bin zum ersten Mal in der Nationalmannschaft.“ Zuletzt beim Schulwettkampf „Jugend trainiert für Olympia“ trug sie zu einer leichtathletischen Teamwertung bei und ist wohl auch deshalb nicht ganz so freudig eingestimmt wie Lobinger. „Wir sind alle Individualisten“, sagt sie. „Wenn mein Ergebnis gut ist und das der Mannschaft nicht so gut, ist das kein Weltuntergang.“
Am Sonntagabend, nach dem Erlebnis Europacup, wird sie anders sprechen, sind sich Lobinger und Frank Hensel, der Generalsekretär des DLV, sicher. „Es ist etwas Besonderes, bei solch einem Wettkampf in der Nationalmannschaft zu starten“, sagt Hensel, „anders, als eine von dreihundert bei einem Meeting zu sein.“ Doch woher soll die 25 Jahre Sportlerin das wissen? „Länderkämpfe haben wir fast vollständig verloren“, klagt Hansjörg Wirz, der schweizerische Präsident des europäischen Verbandes (EAA). „Sie stellen einen Wert dar. Wir müssen wieder zu ihnen zurückkehren.“
Mallow: „Wir wären auch immer Weltmeister“
Auch Hensel sieht ein Ziel darin, dass sich die Leichtathletik vom Gemischtwarenladen zu einem Verband entwickelt, bei dessen Highlights das Publikum wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft vom vergangenen Jahr in Nationaltrikots schlüpft und schwarz-rot-goldene Fähnchen schwingt. „Die Menschen haben den Wunsch nach Identifikation und Patriotismus“, sagt er.
Das geht selbst Bundestrainer Jürgen Mallow so. „Die Staffeln liegen mir am Herzen“, verrät er, „weil sie den DLV und Deutschland repräsentieren.“ Mallow ärgert sich darüber, dass seine Athleten sich an den Erfolgen etwa der Biathleten messen lassen müssen, für die wegen ihres Fernseherfolges immer neue Wettkämpfe geschaffen werden. „Wir wären auch immer Weltmeister“, sagt er, „wenn es einen Mannschafts-Stabhochsprung gäbe oder einen Mannschafts-Speerwurf der Frauen.“
Mallow spielt auf die ungeheure Vielfalt der Leichtathletik an, die bei Olympischen Spielen mit 46 Disziplinen vertreten ist. Ohne Mehrkämpfe und ohne Straßenläufe sind es an diesem Wochenende immer noch vierzig – und welcher Verband bringt so viele verschiedene Athletinnen und Athleten überhaupt noch auf die Beine?
„So etwas gibt es nur in Europa“, sagt Wirz.
Team Spirit als Alleinstellungsmerkmal – auf seine Vermarktung zielt die Umbenennung des Europacups von 2009 an in das, was der Wettbewerb wirklich ist: die Mannschaftseuropameisterschaft. Hensel wünscht sich auch den Kontinentalvergleich Weltcup nach diesem Vorbild in jedem Jahr.
Dazu müssen die Mannschaftswettbewerbe für die Athleten ebenso hohe Prämien abwerfen wie die Sportfeste. Tim Lobinger, der im August mit einem Stabhochspringen auf dem Münchner Odeonsplatz sein Debüt als Veranstalter geben wird, empfindet die Veranstaltung eines Wettkampfes wie das Decanation – einen Zehnkampf für Nationalmannschaften in Paris – als viel zu riskant. „Ein einziges Event unter freiem Himmel!“, sagt er.
„Ich würde eher auf eine Meeting-Serie setzen.“
MICHAEL REINSCH
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
Sonnabend, dem 23. Juni 2007