Blog
24
06
2007

Ob Teglas Anerkennung allein dem Marathonsieg galt, war gar nicht gewiss. In einem Land, in dem die Menschen gut zu Fuß waren, konnte man sich auch notfalls vorstellen, dass eine kleine behende Frau eine Distanz von 42,195 Kilometer Länge zurücklegte. An einem Stück. Und dabei alle weißen Schwestern hinter sich ließ.

Think big, Tegla! Robert Hartmann mit einem Auszug aus seinem Buch: Läufergeschichten aus Afrika

By GRR 0

Mike Boit war gern ein Nomade, und er überlegte keine Sekunde, als er von dem würdigen Fest hörte, das Tegla Loroupes Nachbarn zu Ehren ihrer Läuferin feiern wollten. In dem Städtchen Kapenguria war er in seiner Eigenschaft als Commissioner of Sports der kenianischen Regierung noch nie gewesen. Was hätte er vorher dort auch tun sollen?

In einem Reiseführer stand: „Wer hier landet, findet weder Unterkunftsmöglichkeiten noch sonst etwas.“ Dieses Mal lag der Fall anders. Tegla Loroupe hatte vor ein paar Tagen, es war im November 1994, als erste Afrikanerin den Marathon von New York gewonnen.

Sie war erst 21, und bisher war sie besonders daheim immer übersehen worden. Das hatte nahegelegen. Denn sie maß nur 1,53 m und wog vierzig Kilo, manchmal auch weniger. Jetzt fuhren Mike, die örtlichen Politiker und die wohlhabenden Farmer in ihren Autos und auf Traktoren vor und ließen sich mit den üblichen Geschenken nicht lumpen, darunter waren 9 Kühe und 16 Schafe. Die Gemeinde überschrieb ihr in einer symbolischen Geste ein Stückchen Land, 180 Quadratmeter. Es war eine Sternfahrt zu einer modernen Prinzessin. Unsere Tegla rennt!

Ob Teglas Anerkennung allein dem Marathonsieg galt, war gar nicht gewiss. In einem Land, in dem die Menschen gut zu Fuß waren, konnte man sich auch notfalls vorstellen, dass eine kleine behende Frau eine Distanz von 42,195 Kilometer Länge zurücklegte. An einem Stück. Und dabei alle weißen Schwestern hinter sich ließ.

Darin lag zunächst einmal keine überwältigende Überraschung. Hatte man von deren Haut nicht gehört, dass sie im Vergleich zu ihrer eigenen eher schlaff war? Wie vom Donner gerührt aber waren die Nobilitäten von dem in New York ausgeschütteten Lohn: 30.000 Dollar und ein Mercedes. Wabenzi sagte der Volksmund über die stattlichen, wohlgenährten Männer, die in einem Mercedes-Benz wie in einer Sänfte über Stock und Stein kutschierten. Sie konnten es kaum glauben, dass auch eine wie Tegla ihrem Orden angehören sollte. „Ich, eine kleine Frau“, sagte sie spöttisch, als wäre ihr ein tolles Bubenstück gelungen. Überhaupt, die Autos hortete sie geradezu, in ihrer Karriere kamen nicht weniger als acht zusammen.

Ihren Aufstieg hatte Sie gegen fast alle Wetten durchgesetzt. Sie besaß kein weibliches Vorbild, dem sie hätte nacheifern können. Sie erfand sich als Läuferin selbst, in der Mitte von Nirgendwo. „Chepkite“, die Kleine, wuchs als eines von 25 Geschwistern auf. Ihr Vater Abraham hatte vier Frauen. Erst spät wurde Tegla die Auserwählte.
Sie berichtete allerdings auch von einem großen Plus. „Unser Volk, die Pokot, ist das einzige in Kenia, in dem die Männer die Frauen ermutigen“, sagte sie. Während in den Städten eher der korpulente Frauentyp bevorzugt wurde, verhielt es sich auf dem Land umgekehrt. Schlanksein war Trumpf. „Wer dünn war, konnte jedenfalls gut arbeiten.“ Ihr Vater sah ihr Laufen trotzdem nicht gern. „Ich bin ihm nicht böse,“ blickte sie zurück. „Er dachte, ich würde deswegen die Schule vernachlässigen.“ Ihr Schulweg betrug je zehn Kilometer hin und zurück, und meistens trabte sie. „Ich bekam vom Büchertragen Schmerzen in der Schulter. Mein Bruder William sagte: ‚Lass das Laufen sein’. Aber ich wollte es. Ich war zwölf. Mein Vater sagte: ‚Du wirst verdorben.
Wenn du deswegen die Examen nicht schaffst, bezahle ich keine Schulgebühren mehr für dich.’“ Später knickte er ein bisschen ein und zeigte ihr einen Ausweg auf: „Wenn du im Rechnen besser als William wirst, darfst du weiterlaufen.“

Das andere unverzichtbare Plus konnte im Angesicht ihrer täglichen Reibereien leicht übersehen werden: Ihr Vater hatte sich ja nicht grundsätzlich gegen ihren Schulbesuch gestellt. Und mehr Rüstzeug benötigte sie nicht. Mit dem Gegenwind würde sie fertig werden, der sie während der nächsten Jahre noch oft umzupusten drohte. Sie wurde dann so gut, dass sie bei der Post von Nakuru als Buchhalterin angestellt wurde. Für umgerechnet 50 Dollar im Monat. Damit war sie eine halbprofessionelle Läuferin geworden, und das Tor zur Welt öffnete sich.

Tegla lief immer weiter nach vorn und wurde bei den kenianischen Cross-Meisterschaften 1991 Drittbeste. Doch zu den Weltmeisterschaften durfte sie nicht. „Sie nahmen für die Mannschaft die Nummern sechs und sieben.“ Im folgenden Jahr: „Ich war Vierte. Im Trainingscamp konnte mich keine schlagen. Sie nahmen die Nummern fünf und acht.“ Erst am Flughafen schickte man sie wieder weg. Ihr Ticket hatte ein überflüssiger Funktionärsfreund erhalten. „Ich heulte die ganze Zeit. Aber ich sagte zum Cheftrainer Mike Kosgei: ‚Eines Tages werde ich ein Champion sein.’“
Danach nahm sie Verbindung mit einem Trainer in Deutschland auf, von dem sie nach wenigen Wochen wieder ausriss, und schließlich klopfte sie bei dessen Kollegen Volker Wagner aus Detmold an, der sie aufnahm und mit dem sie eine einzigartige ostafrikanische Frauenmacht aufbaute. Die Besten der Gruppe waren ihre Cousine Joyce Chepchumba, die Olympiadritte von Sydney 2000 wurde, und die Äthiopierin Berhane Adere, die 10.000-m-Weltmeisterin von Paris 2003.

Teglas Stern ging auf. Sie wurde viermal Weltmeisterin im Halbmarathon, Weltmeisterschaftsdritte über 10.000 m, sie siegte in den Stadtmarathons von New York, Boston, London, Rotterdam und Berlin. Sie stellte zwei Weltrekorde im Marathon auf, 2:20:48 Stunden und 2:20:43.

„Wenn man mich lässt, möchte ich eine Anführerin sein“, hatte sie gesagt, als sie daran ging, eine kenianische Weltbürgerin zu werden. Eine kleine Runde von Anekdoten verdeutlichte schnell die Dringlichkeit, den jungen Läuferinnen unter die Arme zu greifen. Auf unseren Landpartien kehrten Mike Boit und ich einmal im Kipsigis-Land im Steinhaus eines Lehrers ein. Der ließ eine Ziege schlachten und gewährte uns damit die Gunst, drei Stunden lang seine Gastfreundschaft beanspruchen zu dürfen. Der Mann war glücklich und räkelte sich bei einem kleinen Rundgang an den Fotografien entlang, die an den Wänden hingen. „Das bin ich“, rief er, „das bin ich, und das sind ich und meine Frau.“

Nach diesem Ich-Ich-Ich-Feuerwerk stach mich der Hafer, und ich startete einen Entlastungsangriff. Die Frauen hatten sich schweigend hinter den Stühlen aufgereiht, auf denen alle anwesenden Männer saßen, auch jene, die aufgeregt auf den ersten Pflaum über der Oberlippe warteten. Die Weiblichkeit, darunter die Mütter, stand mit dem Rücken zur Wand, und ich fragte sie, ob sie denn nicht unsere Sitzplätze einnehmen möchten. Scheu verbargen die Frauen ihre Gesichter hinter den Händen, schauten zur Seite und kicherten leise. Wenig später gingen sie hinaus. Bald segelte ihr Eigentümer weiter in seinem selbst entfachten Rückenwind. „Die Frau muss im Hause bleiben“, rief er etwas lauter, als er es eigentlich wollte, „da bin ich strikt, mein Freund. Wenn ich meine Frau in dieser Sekunde aufforderte, hinauszugehen und einen Holzstoß auf dem Kopf zu tragen, wird sie es tun. Sie muss!“

Es folgt Anekdote Nummer zwei. Bruder Colm O’Connell von der Eliteschule Iten St.-Patrick begann seine Lehrtätigkeit im Juli 1976, und sein erstes prägendes Erlebnis verschaffte ihm der Besuch eines Sportfestes. Dort bemerkte er plötzlich einen Kampfrichter, der eine Läuferin kurz vor dem 800-m-Lauf noch von der Startlinie zurückriss. „Er war ganz aufgebracht und polterte los, als verkündete er ein Naturrecht: ‚Du darfst nicht mitlaufen. Du bist verheiratet!’“ 19 Jahre später wurde Colms Schützling Sally Barsosio in Athen Weltmeisterin über 10.000 Meter.

Beispiel Nummer drei. Kipsubai Koskei war schon über vierzig Jahre alt, als er im Frühjahr 1986 Weltmeister mit der kenianischen Cross-Mannschaft wurde. Die Funktionäre luden zu einer Feier ins New Stanley Hotel in der Innenstadt von Nairobi ein, die Lokalität konnte gar nicht vornehm genug sein. Die Ansprachen waren von getragenem Ernst, ehe ein Redner nach vorn ans Mikrofon trat und auch einmal etwas Launiges zum Besten geben wollte. „Kipsubai ist derjenige unter den Läufern“, sagte der Krawattenträger und baute sorgfältig eine gewisse Spannung auf, „der mit einer Frau verheiratet ist, die selbst läuft.“ Mehr sagte er nicht, weil er die Wirkung seines Hinweises ganz genau vorhersehen konnte. Das Auditorium brach in der Tat sofort in ein lautes Gelächter aus. Die eigene Frau!

Kipsubai duckte sich und fixierte den Kronleuchter an der Decke. Seine Frau hieß Mary Chemweno und hatte als erste Afrikanerin über 800 m die Zwei-Minuten-Barriere eingerissen. Im Athletenhotel in Zürich hatte ich sie interviewt und ihr und auch Kipsubai gesagt, jetzt gehörte sie der Weltklasse an, und beide sollten das Talent versilbern. Mary war 21 Jahre alt und schon zweifache Mutter. „Unterbreche für ein Jahr das Kinderkriegen“, riet ich ihr, was sie und auch er als ein wenig zu frivol erachteten. „Gut, ein Jahr, aber ich liebe Kinder!“ rief sie mir ihre Antwort entgegen.
Später, als ihre eigenen Kinder schon mit einem Mädchen und einem Jungen zufrieden waren – das Leben war teuer geworden, und die Schulgebühren machten eine kinderreiche Familie arm –, da trauerte sie den verpassten Chancen ihrer Jugend nach. „Ich würde in Europa gerne Straßenläufe machen“, sagte sie und blickte wehmütig. Da war Kipsibai schon tot.

Das vierte Beispiel. Helen Chepngeno wurde am 26. März 1995 in Budapest Kenias erste Cross-Weltmeisterin. Es war ihr letzter Auftritt auf der Weltbühne. Bald gebar sie ihr zweites Kind.

Das Beispiel Nummer fünf gab besonders eindringlich und unverfälscht der Blick frei auf die von starken Traditionen geprägte afrikanische Gesellschaft. Die 28 Jahre alte Lehrerin Rosemary Kosgei wurde von Glücksgefühlen übermannt, als sie erfuhr, dass sie als erste Frau den 14-monatigen Kurs auf der Ausländer-Trainerschule in Mainz als Jahrgangsbeste abschloss. Im 21. Jahr des Bestehens, zur Zeit der Jahrhundertwende. Das Deutsche Außenministerium trug die Kosten dieses Projekts, das den entwickelten Ländern helfen will, der Leichtathletik zu dienen.

„Rosemary“, sagte der Leiter Dr. Werner Steinmann, „ist nicht unsere Quotenfrau, sie ist unsere Powerfrau.“ Das hatte sie von Anfang an bewiesen. Nach einem Zwilling schenkte sie ihrem Mann, einem Arzt, nur vier Monate vor der Abreise ein drittes Kind. Ihr Mentor war Colm, in dessen Trainingslagern sie auszuhelfen pflegte. Er bot ihr an, die Reise könnte um ein Jahr verschoben werden. Aber ihre Antwort war eindeutig: Ich gehe. Sie wollte ihre Chance nicht mehr aus der Hand geben und bestand auf dem eigenen Lebensentwurf.

Um den Flug zu finanzieren, hatten Freunde und Nachbarn 40.000 Kenianische Schillinge gesammelt, das waren 500 Dollar, eine überwältigende Summe kleiner Scheine, weit draußen, wo die nächste Asphaltstraße 35 Kilometer entfernt liegt.

In ihrer Dankesrede vor geladenen Gästen sprach sie in Mainz von „History“. Sie machte Geschichte. „Das Geld ist in uns gut angelegt“, las sie vor. Am nächsten Tag flog sie wieder heim. Sie erhielt sofort zwei Angebote, eines vom privaten Trainingscamp der Läuferin Lornah Kiplagat und eines von Kipchoge Keino für das Höhentrainingscamp des Internationalen Leichtathletik-Verbandes auf der Kazi-Mingi-Farm. Die Höhe ihres Gehalts sollte 30.000 Schillinge betragen, was ihren früheren Lehrerinnensold um mehr als das Vierfache überstieg.
Danach tauchte sie nicht mehr auf. Wir fanden sie ein Jahr später 15 Kilometer außerhalb von Eldoret in einem kleinen Reihenhaus. Sie war wieder Mutter geworden.

Tegla wollte sich lieber auf sich selbst verlassen. Sie kaufte in einem idyllischen Tal, durch das sich ein Flüsschen schlängelt, eine Farm. Und sie wurde Mutter, eine Ersatzmutter, als sie die sechs Kinder ihrer verstorbenen älteren Schwester Albina adoptierte. Eine Reihe von Verletzungen warf sie aus der Bahn, aber sie erhielt auch genug Zeit, über den Sinn ihres weiteren Lebens nachzudenken. Im November 2003 hielt sie eine Friedensversammlung in ihrer Heimat ab, zu der nach über drei Jahrzehnte langen kriegerischen und tödlichen Händeln die Häuptlinge von den Stämmen der Pokot und der Marakwet zusammen kamen.
Es war die erste seit Menschengedenken. Ich erinnerte mich wieder an eine Fahrt durch das Rift Valley in die Abgeschiedenheit des Grenzörtchens Arror, um den Prinzen Florian von Bayern aufzusuchen, der dort als Jesuit seinem Glauben diente. Auf der 80 Kilometer langen holprigen Sandpiste passierten wir zwei unwirklich große und von ihm gebaute Kirchen, und wir begegneten auch vielen Marakwet-Männern, die Pfeil und Bogen stets bei sich trugen. Für den Fall, dass die Pokot wieder aus dem Hinterhalt angriffen, um ihre Rinder zu stehlen.

Es stellte sich mittlerweile heraus, dass die berühmt gewordene Läuferin eine dauerhaftere Spur hinterlassen wollte als die Spur auf der Laufbahn. Sie rief die „Tegla Loroupe Peace Foundation“ ins Leben. Als Ziel gibt die Gründung aus, die Lebensumstände der armen Leute am Großen Horn von Afrika zu verbessern. Think big! Denke groß! Und werde in den Diensten der Nächstenliebe ein Schwergewicht.
Dafür muss niemand größer als 1,53 m werden und mehr als vierzig Kilo wiege

Das Buch ist erschienen im:
Verlag Dr. Harald Schmid
Agentur für Kommunikation
Schulstraße 11
63594 Hasselroth
Telefon 06055-82155
www.harald-schmid.com
Info@pr400.de

Im Internet unter:
www.pr400.de
erhältlich
oder in allen Buchhandlungen

Robert Hartmann: Läufergeschichten aus Afrika
172 Seiten, Hardcover
ISBN 393810101-6
Preis: € 19,90

author: GRR

Comment
0

Leave a reply