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20
08
2007

Dass hier die Biographie von Armin Hary vorliegt, wird sich allenfalls älteren Semestern auf Anhieb erschließen.

Das Buch vom Fabelwesen – Beachtliche Biographie des 100-m-Olympiasiegers Armin Hary – Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung

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Die Koinzidenz ist rein zufällig: Just zu der Zeit, da das deutsche Leichtathletik-Team ohne einen für die Einzelbewerbe qualifizierten Sprinter die Reise zur Weltmeisterschaft nach Osaka/Japan antritt, lenkt ein kürzlich im Verlag Die Werkstatt (Göttingen) erschienenes Buch die Aufmerksamkeit auf einen deutschen Sportler, den der Autor, Knut Teske, 65, das Sprintgenie des Jahrhunderts nennt.

Als einen von Beginn an vollendeten Sprinter schildert ihn der einzige Trainer, den der Hochbegabte jemals an seiner Seite duldete, wenn auch nur für etwas mehr als ein Jahr, der heute 93-jährige Bert Sumser.

Dass hier die Biographie von Armin Hary vorliegt, wird sich allenfalls älteren Semestern auf Anhieb erschließen. Der heutigen Generation Sportinteressierter hingegen fällt bei Hary wenig ein. Die kurze, aber heftige Epoche des einzigen deutschen Olympiasiegers, des 10,0-Weltrekordlers der klassischen 100 Meter, ist schließlich ein halbes Jahrhundert passé. Was steckt dahinter, dass Erfolge, die zu den spektakulärsten des deutschen Sports überhaupt zählen, wie auf dem Dachboden verstaubende Memorabilien behandelt wurden?
Allein um darauf Antwort zu erhalten, war es wichtig, dass Teske sich an die Arbeit gemacht hat: die Ambivalenz des Haryschen Charakters zu ergründen und diesem Mann sportliche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Abstand von 50 Jahren erwies sich dabei keineswegs als Handicap. Im Gegenteil: Erst jetzt blitze die wahre Klasse dieses genialen Läufers richtig auf, das Einmalige, Unwiederholbare.

Wie ein Urknall aus fernen Zeiten und Welten fand der Autor die Spurensuche

Das Buch ist von bemerkenswerter Gründlichkeit und Detailgenauigkeit, nachzuvollziehen vor allem bei diesen Aspekten der Laufbahn Harys:
+ Die soziale Enge der familiären Verhältnisse im saarländischen Gersweiler Mitte der 50er Jahre als ständiger Ansporn für den Weg des Leichtathleten nach oben: Nur wer aus der Hölle kommt, schafft den Weg ans Licht, hatte Hary erkannt.
+ Die sich wie ein roter Faden durch die Kapitel ziehende sportliche und gesellschaftliche Rivalität des Hauptschülers und Mechanikerlehrlings Hary mit dem aus gutbürgerlichen Hause stammenden Kölner Studenten und Dauersieger bis 1958, Manfred Germar, dem Liebling des Volks. Wie Germar werden, war das Ziel: 
Nicht so weich sein wie er, aber als Mensch, als soziales Wesen.
+ Die Schilderung der abenteuerlichen Begleitumstände der drei 10,0-Läufe, von denen nur einer als Weltrekord anerkannt wurde, und des Gewinns von vier Goldmedaillen: überfallartig bei der EM 1958, eiskalt bei den Spielen 1960.
+ Die 1959 in Harys Flucht in die USA und seiner Sperre nach dem Olympiasieg gipfelnde Dauerfehde mit den deutschen Leichtathletik-Funktionären, die es versäumten, das komplizierte, verschachtelte Wesen des Sprinters zu ergründen. Diese Sequenz ist die tiefschürfendste der Biographie.

Teske: Die Funktionäre hatten mit ihrer im Nationalsozialismus erworbenen Sozialisation kein Mittel, das Unbehagen junger Leute zu steuern. Weltkriegserfahren, auf Zucht und Ordnung gedrillt, fehlte ihnen der Sinn für Widerworte  die Hary nie ausgingen.
+ Die Versuche, Harys Persönlichkeit (nicht zerrissen, aber schwankend) zu ergründen; seine Handlungsstränge, seine Eskapaden zu verstehen, seinen Drang nach Unabhängigkeit, seinen störrischen Kampf gegen Ungleichbehandlung, Ursprung aller Missverständnisse; Misstrauen, das zunahm, je schneller Hary lief, deutend zu beseitigen; Vorurteile wie Arroganz, Launenhaftigkeit, Sprunghaftigkeit und Mangel an Kameradschaftsgeist zu widerlegen.
Kurzum: dem Distanzierten gerecht zu werden. **

Nein, die Geschichte des vermeintlichen Frühstarters Hary ist wahrhaftig kein Schnellschuss. Zeitgenossen des Fabelwesens, dessen Tempo niemals dem Pulsschlag der deutschen Mentalität entsprach (Teske), werden Läufer des Jahrhunderts verschlingen.
Und die aktuelle Elite wird das Buch, sofern sie es zur Hand nimmt, hoffentlich als das begreifen, was es ist: mehr als ein Sportbuch – ein Geschichts- und Lehrbuch, das verdeutlicht, wie weit man es im Sport mit Willenskraft und Entschlossenheit bringen kann.

Michael Gernandt
Süddeutsche Zeitung
Samstag/Sonntag, dem 18./19. August 2007

Knut Teske
Läufer des Jahrhunderts
Die atemberaubende Karriere des Armin Hary
340 Seiten, Leineneinband mit Schutzumschlag,
Fotos
ISBN 978-3-89533-574-7
Euro 24,90 / sFr 43,70

Werkstatt-Verlag

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PS::
Das zweite Bild – Olympiasieger Armin Hary, Rom 1960 – stammt aus der Sammlung des Sportmuseums Berlin (AIMS Marathon-Museum of Running) "Bildarchiv Heinrich von der Becke im Sportmuseum Berlin/Forum für Sportgeschichte" und zeigt:
Olympiasieger Armin Hary 1960 in Rom – Zieleinlauf über 100 m – Armin Hary (links) wird mit 10,2 (OR) Olympiasieger vor David Sime 10.2 (OR) -(USA, rechts) und Peter Radford (GBR, 2.v.l.) 10.3 – 4. Enrique Figuerola (Kuba) 10.3 – 5. Francis Budd (USA) 10.4 – Ray Norton (USA) 10.4

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