Jan Fitschen verkörpert ein deutsches Dilemma: Was ist ein hinterer Platz im Dopingzeitalter wert?
STARTSCHUSS IN OSAKA Heute beginnen in Japan die Leichtathletik-Weltmeisterschaften – Testläufer für die Mittelklasse – Friedhard Teuffel und Frank Bachner im Tagesspiegel – „Wir sind nicht Radsport“ – Eike Emrich über Doping bei der WM
Der Durchschnittswert ist neun. Nur ist jetzt nicht klar, ob das eine ermutigende Zahl ist oder nicht. Jan Fitschen wird bei der Leichtathletik-WM in Osaka Neunter über 5000 Meter. Das sagen die Fans des 30-Jährigen voraus, die auf seiner Homepage ihre Prognose abgeben durften. Dass er in den Endlauf kommt, glauben, Stand Freitag, 90 Prozent. Platz neun ist ermutigend, weil die Konkurrenz auf dieser Strecke hart ist, vor allem die afrikanische.
Und weil diese Zahl zeigt, dass er zumindest für diese Fans nicht unter übergroßem Erwartungsdruck steht. Die Frage ist jetzt nur: Werden das die anderen Zuschauer genauso sehen? Jan Fitschen ist ja nicht bloß ein Mitläufer. Jan Fitschen ist Europameister.
Vielleicht ist Fitschens Rennen in Osaka ein Testlauf für die ganze deutsche Leichtathletik. Denn es geht darum, wie sie in Zukunft wahrgenommen wird, gerade auf Strecken, die von anderen Ländern beherrscht werden und auf denen der Dopingverdacht zudem immer mitläuft. Welche Wertschätzung wird von deutschen Zuschauern, von Medien, aber auch den eigenen TeamkollegenMannschaftskollegen einem neunten Platz entgegengebracht? Wird er gewürdigt?
Oder verspottet, dieser Platz neun? Weil nur der Sieger ein Held ist?
Jan Fitschen ist seit 2005, seit seinem überraschenden Sieg bei der EM in Göteborg über 10 000 Meter, nicht bloß ein Goldmedaillengewinner – er ist die neue populäre Persönlichkeit der deutschen Leichtathletik. Die Verbandsfunktionäre haben ihn nach der EM ganz offiziell als das neue Gesicht der deutschen Leichtathletik präsentiert. Später wurde er zum Leichtathleten des Jahres gewählt. Nach der EM kam der 30-Jährige auf sechs Fernsehtermine in einer Woche. Aber die Popularität kann auch zur Last werden. Fitschen sagt: „Wenn ich das Finale erreiche, ist das ein Triumph für mich.“
Die Fans könnten sich freuen über diesen Triumph. Aber das geht nur, wenn sie nicht bloß seinen Titel registrieren, sondern auch die Geschichte, wie er zustande gekommen ist. Und dass dieser Titel nicht mit der WM verknüpft werden kann. Fitschen wurde Europameister, weil es ein taktisches Rennen war und weil sich mehrere Gegner am Schluss überholen ließen. Zudem hatte er sich vier Monate lang in der Höhe von Flagstaff, in den USA, auf Göteborg vorbereiten können, weil er die relativ niedrige EM-Norm frühzeitig erreicht hatte. Als Journalisten nach Fitschens Freude feststellten, mit Blick auf die WM oder auf Olympia 2008 in Peking sei dieser Titel nicht viel wert, entgegnete DLV-Vizepräsident Eike Emrich: „Der Athlet hat ein Recht auf Gegenwart.“
Für Osaka wäre Fitschen schon an der Norm über 10 000 Meter gescheitert, sie liegt bei 28:06 Minuten. Seine Bestzeit, die Siegerzeit von Göteborg beträgt 28:10,94 Minuten. In Japan startet er nur über 5000 Meter, und die Norm unterbot er erst nach Ende der Qualifikationsfrist. Er startet deshalb nur mit einer Ausnahmegenehmigung. Mit 13:14,85 Minuten unterbot er die Norm zwar gleich um sieben Sekunden, aber in der Weltrangliste steht er damit gerade einmal auf Platz 40. Vor ihm sind Läufer, die in diesem Jahr zehn Sekunden oder noch schneller sind.
Von einigen von ihnen unterscheidet sich Fitschen allerdings in zweifacher Hinsicht. Zum einen bereitet er neben dem Sport seine berufliche Zukunft vor. Fitschen studiert Physik. „Er hat die doppelte Belastung. Auch das verdient Anerkennung“, sagt Emrich. Zum anderen spricht sich Fitschen offen gegen Doping aus. Am Handgelenk trägt er das Plastikband mit der Aufschrift „True athlete“ – wahrer, ehrlicher Athlet. Vor ihm in der Weltrangliste stehen ohnehin Läufer, die längst nicht so streng auf Doping kontrolliert werden wie der Deutsche. Beweise gibt es keine, aber muss Fitschen sich wirklich uneingeschränkt an diesen Athleten messen lassen? Auf jeden Fall würde dieser Vergleich den Druck auf saubere Athleten erhöhen, ebenfalls zu verbotenen Mitteln zu greifen.
Fitschen rennt nicht nur auf der Bahn gegen die Norm. Er attackiert sie auch außerhalb des Stadions. „Wenn man sie etwas moderater ausgelegt hätte, hätte ich schon früher internationale Erfolge gehabt“, sagt er. „Die Norm ist wie eine Mauer. Ich bin schon oft dagegen gelaufen.“ Vor allem hat er als Langstreckenläufer nur wenige Rennen in der Saison, um die gewünschte Zeit zu erreichen.
Nach Osaka kommt Fitschen quasi atemlos, ziemlich gehetzt von den Erwartungen und dem Kampf ums WM-Ticket. Er muss auf viele Überraschungseffekte hoffen. Eine Überraschung wäre ein Platz unter den besten acht. Dann kommt es darauf an, wie ein solcher Platz bewertet wird. Mittelmaß? Mittelklasse? Oder einfach als außergewöhnliche Leistung eines Athleten, der wahrscheinlich nur mit Talent und Training sein Leben als rennender Physikstudent meistert.
Frank Bachner und Friedhard Teuffel
Der Tagesspiegel
Sonnabend, dem 25. August 2007
„Wir sind nicht Radsport“
Der Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Eike Emrich, über Doping bei der WM.
Herr Emrich, worum geht es für die deutschen Leichtathleten bei der WM?
Wir hoffen, dass unser Weg bestätigt wird: weg von der planwirtschaftlichen Leichtathletik, hin zum Individuellen. Außerdem hoffen wir, dass möglichst viele Athleten in den Bereich ihrer persönlichen Bestleistungen kommen. Vor allem aber sollen die Athleten Spaß haben.
Wie können Sie prüfen, dass Erfolge tatsächlich auf Ihr Konzept zurückzuführen sind und nicht andere Ursachen haben?
Wir können die Ergebnisse an der Leistungsentwicklung der Athleten festmachen. Aber wir haben auch schon einen anderen Hinweis: Die Zahl der verletzten Athleten ist verglichen mit der Zeit davor gesunken. Wir legen ja Wert auf Verbesserungen im Gesundheitsmanagement. Das scheint zu greifen. Der Athlet muss im Mittelpunkt stehen, er ist nicht nur Mittel zum Zweck.
In der deutschen Leichtathletik gibt es viele ältere Trainer, denen individuelle Betreuung suspekt ist, weil sie alte Trainingsregeln missachte. Spüren Sie Widerstand?
Widerstand bekommt man immer, wenn man etwas Neues einführt. Es gibt manche, die leisten passiv Widerstand, andere ziehen sich in eine Nische zurück und machen weiter wie bisher. Ich habe aber den Eindruck, dass unser Vorgehen akzeptiert wird. Zum individuellen Training in offenen Gesellschaften gibt es auch keine Alternative. In der DDR konnte man anders trainieren, denn die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Aber in offenen Gesellschaften ist der Athlet mündig und für sich selbst verantwortlich. Es gibt keine umfassende Absicherung mehr für ihn durch den Staat. Trotzdem muss er am Ende sagen können: Es hat sich für mich gelohnt.
Im internationalen Vergleich beklagen die deutschen Athleten oft, dass sie häufiger kontrolliert werden als ihre Konkurrenten aus anderen Ländern. Mit wie viel Misstrauen beobachten Sie die Konkurrenz?
Ich bin gespannt auf das Leistungsniveau der Sieger. Die weltweit angestiegene Zahl an Dopingkontrollen sollte sich auch in Osaka bemerkbar machen. Da bin ich im Moment sehr zuversichtlich. Man sollte ohnehin das Drama eines Wettbewerbs mehr in den Mittelpunkt stellen als die Jagd nach neuen Rekorden. Wer sein Interesse nur an Rekorden, an abstrakten Zielgrößen ausrichtet, kann nur enttäuscht werden.
Glauben Sie, dass sich die Fortschritte in der Dopingbekämpfung wirklich auf alle Länder erstrecken?
In den entwickelten Industrienationen habe ich den Eindruck, dass die Aufmerksamkeitsschwelle gegenüber Doping stark gestiegen ist, also überall, wo freie Medien eine große Rolle spielen. Da findet auch eine moralische Debatte statt. In Ländern, in denen Athleten mit ihren Einnahmen ganze Familien und Clans ernähren, bin ich dagegen skeptisch. Es gibt jedenfalls keine Alternative zu einem weltweit operierenden System intelligenter Dopingkontrollen.
Erst Tour de France, dann Leichtathletik-WM. Löst eine Dopingveranstaltung die nächste ab?
Den Eindruck habe ich nicht, zumal es Unterschiede zum Radsport gibt. Aus allen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Thema wissen wir, dass die Leichtathletik eher das Betätigungsfeld der mittleren und höheren Schichten ist, der Radsport ist dagegen ursprünglich ein Arbeitersport. Es gibt also unterschiedliche Mentalitäten. Der Radprofi ist per Vertrag Berufsathlet, er bekommt ein definiertes Gehalt. In der Leichtathletik haben wir dagegen viele Athleten, die eine Ausbildung machen oder studieren.
Das ist genau das, was wir wollen, denn es macht weniger anfällig für die Versuchungen des Dopings.
Das Gespräch führte Friedhard Teuffel.
Der Tagesspiegel
Sonnabend, dem 25. August 2007
Eike Emrich, 50, ist der für Leistungssport zuständige Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes und Professor für Sportwissenschaft an der Universität Saarbrücken.