Es sind auch ein paar dabei, die zum ersten Mal einen Marathon laufen. „Die führe ich ein bisschen heran”, sagt Bernd Hübner, „und nehme ihnen die Angst.”
Hinter jeder Zeit eine Geschichte Eine fanatische Liebe zum Laufen: Bernd Hübner, 60, bestreitet am Sonntag zu Hause in Berlin seinen 100. Marathon – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
Es stimmt, sagt Bernd Hübner, er kennt diese Angst noch. Diese seltsame kleine Angst des Läufers vor dem Marathon, die sich vor jedem Start unter seine Vorfreude mischt. Die dem ganzen Spiel einen Hauch von Ernst verleiht. Die aus der Gewissheit erwächst, dass irgendwann die Erschöpfung kommt, und aus der Ungewissheit, wie der Körper auf diese Erschöpfung reagieren wird.
Bei ihm ist es nicht mehr so schlimm, man könnte sogar sagen, dass Bernd Hübner aus dem Ärgsten raus ist mit seinen 60 Jahren und seinen vielen Erfahrungen auf der Strecke von 42,195 Kilometern, die er am Sonntag zum 34. Mal beim Berlin-Marathon auf sich nimmt und zum hundertsten Mal insgesamt. Aber die anderen sind ja auch noch da, seine Schüler sozusagen, jene Leute vom Lauftreff, die er begleitet hat bei ihren Vorbereitungen. Es sind auch ein paar dabei, die zum ersten Mal einen Marathon laufen. „Die führe ich ein bisschen heran”, sagt Bernd Hübner, „und nehme ihnen die Angst.”
„42 Kilometer Beifall”
Der Marathon-Herbst hat begonnen, die Jahreszeit der Herausforderung für Hunderttausende von Läufern verschiedener Fähigkeiten. Der Olympiasieger Haile Gebrselassie aus Äthiopien ist dabei, der sich für diesen Sonntag in Berlin vorgenommen hat, den Weltrekord von 2:04:55 Stunden zu verbessern, ambitionierte Amateure sind dabei und weniger ambitionierte Amateure auch. Und eben Bernd Hübner aus Zehlendorf, den eine fanatische Liebe zum Laufen treibt und der sich damit einen Platz im Herzen der Berliner erobert hat. Keine Frage, es wird sein Lauf. Viele Freunde haben sich angekündigt.
Die Medien werden ihn verfolgen. Die große Schleife wird für ihn wie eine Ehrenrunde sein, und er wird einen Fotoapparat mitnehmen. „42 Kilometer Beifall”, sagt er, „das will ich nicht mit dem Tunnelblick erleben.”
Es ist ein neues Läuferleben, das er jetzt fristet, das andere, aus dem seine Bestzeit stammt, eine stramme 2:27:04, aufgestellt 1984, natürlich in Berlin, ist vorbei. Bernd Hübner sagt, damit habe er kein Problem. Besser gesagt, kein Problem mehr, denn es fiel ihm schwer, Abschied zu nehmen von der Zeit, als er leichtfüßig und forsch rannte. Auf seiner Internetseite hat er alle seine Marathon-Zeiten aufgeführt, jene vom Berlin-Marathon sind gefettet, und wenn man sie betrachtet, ist es, als hätte man Hübners Lebenslinie vor sich, die von bescheidenen Anfängen über enorme Hochs und dramatische Tiefs wieder auf das Niveau des Anfangs zurückfindet.
Hinter jeder Zeit steht eine Geschichte, die Bernd Hübner gerne, aber ohne falschen Stolz erzählt, und über die er mit dem Journalisten Detlef Kuhlmann ein Buch geschrieben hat: „Berlin-Marathon. Eine Liebeserklärung.”
Es begann 1974. Er war Leichtgewichtsruderer, und im Verein brachte jemand die Ausschreibung zum ersten Berlin-Marathon mit. Er trainierte dreimal pro Woche und kaufte sich wenige Tage vor dem Start neue Laufschuhe aus Leder. 300 Läufer nahmen teil. Start und Ziel waren das Mommsenstadion. Bernd Hübner lief 3:38:06 Stunden. Nie wieder, dachte er. Und sein Marathon-Leben begann.
1986. 2:35:35. Längst trainierte er beim SCC Berlin, unternahm Höhentrainingslager in St. Moritz, nötigte seiner Frau Verständnis ab, lief morgens 16 Kilometer zur Arbeit beim Fernmeldeamt in Kreuzberg, hatte 1984 ein Jahr ohne Ruhetag, dafür mit 7166 Trainingskilometern, und wollte 2:26 Stunden laufen. Er riskierte zu viel, er lief zu schnell an. „Ich hatte schon am Innsbrucker Platz Seitenstechen.” Seine Enttäuschung dauerte zwei Wochen. Damals war er so.
Oder 1990. Der erste Berlin-Marathon nach der Wende. Bernd Hübner kennt diese Westberliner Beklommenheit, dieses seltsame Gefühl, irgendwie frei, aber irgendwie auch eingesperrt zu sein. Er ist in Neukölln geboren, an der Grenze zu Treptow, und als Jugendlicher sah er, wie plötzlich die Mauer die Nachbarschaft durchzog. Später lief er sich mit seinen Freunden für den Berlin-Marathon an der Spree warm, nahe dem Reichstagsgebäude, wo damals der Start war. Sie schauten hinüber zur DDR und dachten, wie schön es wäre, durch das Brandenburger Tor zu laufen. „So in 200 Jahren”, sagte Bernd Hübner, „wir werden das nicht erleben.” Dann fiel die Mauer, der Marathon führte durchs Brandenburger Tor, und Bernd Hübner genoss seinen Irrtum. 2:35:10.
„Es war ein Traum.”
Oder 2005. Der Berlin-Marathon hatte seine neue Strecke gefunden, deren Start und Ziel am Brandenburger Tor liegt, und Bernd Hübner hatte gerade einen ganz neuen Kampf hinter sich gebracht. Er hatte Prostata-Krebs, er musste operiert werden. Bernd Hübner sagt, da habe er schlecht trainieren können. Und als er doch wieder lief, riss ihm im August der Meniskus im Knie. Sein Arzt wollte ihn operieren. Bernd Hübner fragte, ob man das nicht aufschieben könne, wegen des Marathons. Er pausierte im September, streifte sich schließlich eine Bandage über, nahm das Handy mit, um notfalls seine Frau anzurufen, wenn es gar nicht mehr ginge, und lief am Morgen des 25. September 2005 tatsächlich los.
Adrenalin besiegt Vernunft
Bernd Hübner weiß selbst, dass er als Läufer nicht immer vernünftig war. Aber damals spürte er, dass er diesen Start brauchte. Das Knie tat gar nicht weh auf der Strecke. „Ich denke, das war das Adrenalin.” Ihm kam zugute, dass er bei vielen Fernsehteams zum Interview stehen bleiben musste, da konnte er sich ausruhen, und wenn er lief, hörte er nach den Signalen, die sein Körper ihm gab. „Det ging, det ging. Tapper, tapper.” Bernd Hübner sagt: „Am Schluss war es nur so ein Dahinschleichen.” Bis er endlich unter den Linden war und das Brandenburger Tor sah. „Hübi, Hübi riefen die Leute. Da waren es noch zweihundert Meter, die Müdigkeit verschwand, und erst, als er im Ziel seiner Frau in die Arme fiel, spürte er das Knie wieder. 4:30:15 Stunden.
„Mein längster Marathon, der wichtigste meines Lebens.” Bernd Hübner, Bestzeit 2:27:04 Stunden, Erster des Spandau-Marathons 1983 in 2:35:21, betrachtet sein Buch. „Naja”, sagt er, „det war natürlich schon . . .”
Und er hält inne, weil es ihm zu schwer fällt, das Glück zu beschreiben, das er damals empfand.
Thomas Hahn
Süddeutsche Zeitung
Sonnabend,. dem 29. September 2007