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06
11
2007

Denn so ein Marathon ist ja längst mehr als ein Rennen, es ist ein komplexes Geschäft geworden, in dem auch die gute Tat ihren festen Platz hat mit Spendenläufen gegen Krebs, Aktionen für mehr Bewegung an den Schulen, für Gesundheit durch Sport, für eine saubere Umwelt.

New York Marathon – Mehr als ein Rennen. Der New York Marathon übergeht den bedrohlichen Kommerz und das Thema Doping – viel lieber zelebriert er seine Bodenständigkeit. Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Auf einmal ist da dieser Zopf, der im Takt kleiner, schneller Schritte wippend durch das große Chaos fliegt. Es ist ein durchwachsener Morgen in New York. Die Stadt tut, was sie immer tut, sie spuckt Schmutz und Lärm. Hupen. Hektik. Irgendwo über den Hochhäusern kämpft eine schwache Sonne gegen das Novembergrau. Aber aus der 58. Straße schießt plötzlich dieser Zopf, der einer unbeirrten Frau in pinkfarbenen Hosen gehört. Sie läuft, sie ist ganz ruhig.
Der Lärm perlt an ihr ab, den Schmutz erträgt sie stoisch. Sie schaut kurz, huscht über die Fifth Avenue an der roten Ampel vorbei, umdribbelt gleichgültige Autos, rettet sich ins ruhige Stückchen Broadway, das in den Columbus Circle mündet, verschwindet zwischen den Bäumen des Central Parks. Und eigentlich wäre das schon die ganze Geschichte vom Laufen in dieser seltsamen Zeit, in dieser seltsamen Stadt. Eine Geschichte von innerem Frieden und Trotz und von einem Weg am Krach der anderen vorbei. Wenn da nicht das große Geschäft wäre, welches diesen Frieden zu seinem Gegenstand gemacht hat.

» Die Kraft des Marathons kann man gar nicht hoch genug einschätzen. « Mary Wittenberg, New York Road Runners

Es ist das Wochenende das Marathons in New York, des berühmtesten und prestigeträchtigsten Rennens seiner Art. Die ersten Tribünen stehen schon, von der Marathonmesse im J.K. Javits Exhibition Center tragen Prozessionen von Teilnehmern ihre bunten Starttüten durch Manhattan. Unter schweren Lüstern muss Mary Wittenberg, 45, Geschäftsführerin der veranstaltenden New York Road Runners (NYRR), sich manchmal etwas bremsen, damit sie im Übereifer nicht so tut, als sei das diesjährige Rennen jetzt schon besser als das letztjährige.

100.000 Bewerber auf 37.500 Startplätze

Sie ist eine drahtige Person, der man selbst zwischen den Spiegelwänden des edlen Park-Restaurants noch den innigen Bezug zu ihrer Sache abnimmt und die ihre mädchenhafte Begeisterung trotzdem so weit unter Kontrolle hat, dass sie niemand unprofessionell finden kann. Stolz ist sie halt, wie sollte sie das verbergen. Ihr Marathon strahlt wie immer, für die 37.500 Startplätze gab es 100.000 Bewerber, das Elite-Feld ist erlesen besetzt mit Größen wie dem Olympiasieger Stefano Baldini aus Italien und der britischen Weltrekordlerin Paula Radcliffe. Dazu gibt es am Samstag die US-Ausscheidungen der Männer für Olympia im Central Park mit beträchtlichem nationalen Medieninteresse. Und auf der richtigen Seite fühlt sich Mary Wittenberg ohnehin.

Denn so ein Marathon ist ja längst mehr als ein Rennen, es ist ein komplexes Geschäft geworden, in dem auch die gute Tat ihren festen Platz hat mit Spendenläufen gegen Krebs, Aktionen für mehr Bewegung an den Schulen, für Gesundheit durch Sport, für eine saubere Umwelt. Und weil sich die New York Road Runners als Vorreiter der Laufbewegung in der Welt sehen, und weil sie es wohl auch sind mit ihren 40.000 Mitgliedern und 55 Rennen, die sie jährlich veranstalten, wollen sie auch auf der Ebene des guten Willens spitze sein. „Die Kraft des Marathons kann man gar nicht hoch genug einschätzen“, sagt Mary Wittenberg. Die Road Runners wussten das schon immer. Aber dann kam der 11. September 2001, der unwirkliche Anschlag auf das World Trade Center, eine Angst, welche die ganze Stadt lähmte, und der Tag, an dem der Marathon ein Zeichen für die ganze Nation setzte. Seither wissen sie noch sicherer, dass sie wichtig sind.

Allan Steinfeld, Wittenbergs Vorgänger als Renndirektor, erinnert sich noch, wie er damals sechs Wochen vor dem Start am ersten November-Wochenende im Büro von Bürgermeister Rudy Giuliani anrief und fragte: „Wird das Rennen stattfinden, Herr Bürgermeister?“ Giuliani sagte: „Es muss stattfinden. Wir müssen der Welt zeigen, dass wir am Leben sind.“ Das Rennen fand statt, und es war, als würde die Stadt aus ihrer eigenen Angst wiederauferstehen. Es war eine Inszenierung von Trotz und innerem Frieden und von der Fähigkeit, am falschen Zorn der anderen vorbei auf seinen eigenen Weg zurückzufinden. „Wir waren das erste Ereignis, das die Leute zurück auf die Straße gebracht hat“, sagt Wittenberg. Die Sache bewegt sie immer noch. „Das war ein Testament an den Geist der Menschen, an den Geist von New York.“
Der Marathon ist für sie eine Mission: „Wir wollen die Welt verbessern.“

Ob Stefano Baldini damit etwas anfangen kann? Als er die Frage hört, legt sich kurz ein Ausdruck von Befremden über sein Gesicht, als wolle er sagen: Was soll das jetzt? Ich bin hier, um ein Rennen zu gewinnen, nicht um irgendwelchen humanistischen Mist zu bequatschen. Er fängt sich schnell, er sagt: „Laufen ist Gesundheit.“ Er habe Bücher dazu geschrieben. Später sitzt er auf der Marathonmesse am Stand einer Aktion für mehr Bewegung im Kindesalter und schreibt Autogramme mit unverbindlicher Geduld. Wie ernst er es meint mit dem höheren Anspruch, kann keiner so genau wissen.

Stattliche Prämien für die Sieger

Weltverbesserer wecken leicht Misstrauen im Sport, weil der Sport als Spielwiese der Industrie und milliardenschwerer Absatzmarkt sehr profanen Gesetzen folgt, mit denen sich auch die Weltverbesserer irgendwie arrangieren müssen. Das sind die Brüche des Geschäfts, an denen kommen auch Mary Wittenberg und ihre Road Runners nicht vorbei. Beim Marathon ist eben doch ziemlich viel Geld im Spiel. Geld ist in gewisser Weise sogar Teil der PR-Strategie in New York: Spektakuläre Bestzeiten sind auf der welligen Strecke durch die fünf Stadtteile nicht möglich, also haben sich die New Yorker mit stattlichen Prämien attraktiv für die Elite gehalten: Der Sieg allein ist bei Männern wie bei Frauen 130.000 Dollar wert.

Dafür sind die Startgebühren für Hobbyläufer teuer; Ausländer zahlen zwischen 265 und 300 Euro – Tendenz steigend. Mancher Kenner der New Yorker Laufszene beklagt diesen Kommerz. Wenn auch sehr leise. Die Road Runners, Jahresetat 37 Millionen Dollar, sind eine Institution in der Stadt, noch dazu eine, die der städtischen Wirtschaft durch ihre Marathongäste viele Millionen Dollar in die Kassen spült. Gegen die lehnt man sich nicht auf.

Moral und Wirklichkeit – das wäre in New York durchaus ein Thema, auch abseits der Frage, die am Donnerstag die New York Times auf Seite eins debattierte: Dürfen Hobbyläufer im Rennen iPods tragen? „Oh“, sagt Mary Wittenberg, als die Sprache auf den Radsport und sein Dopingproblem kommt: „Der Radsport hat Probleme.“ Der Marathonlauf weniger, klar, wegen „aggressiver“ Tests, wie sie sagt, und einer Antidopingpolitik der größten Marathon-Veranstalter, die lebenslange Sperren bei positiven Dopingtests vorsieht. Sie will nicht laut darüber nachdenken, ob jemand mit nicht nachweisbaren Mitteln an den Kontrolleuren vorbeimanipulieren könnte.
Und dass der US-Radheld Lance Armstrong wieder als einer der Hauptdarsteller im Spendenprogramm startet, obwohl inoffizielle Tests und Zeugenaussagen zumindest einen dringenden Verdacht nahe legen, wischt sie streng beiseite. „Vergessen Sie nicht, wir sind in den USA“, sagt Mary Wittenberg, „hier ist man unschuldig, bis die Schuld nachgewiesen ist.“

Eine Statue im Central Park für den Gründer des Rennens

Felsenfest stehen New Yorks Marathonmacher zu ihrer Agenda des Edelmuts. Selbstbewusst zelebrieren sie ihre Bodenständigkeit, vor der alle Läufer gleich sind, und pflegen ihre Legenden, die nicht nur mit Weltklasseleistungen zu tun haben. Zum Beispiel jene von Fred Lebow, der 1970 den Marathon gründete und dessen Statue heute im Central Park steht. 1992, zwei Jahre vor seinem Krebstod, lief er seinen Lauf mit der ebenfalls krebskranken früheren New-York-Siegerin Grete Waitz. In 5:32:34 Stunden.

„Das war sehr emotional“, sagt Allan Steinfeld, Fred Lebows alter Sekundant, der jetzt auch schon 61 ist. Er lächelt weise. Er ist auf einem Auge blind und auf einem Ohr taub. Er lehnt auf einer Krücke etwas abseits der pulsierenden Marathonmesse, wie der leibhaftige Beweis, dass der Kommerz nicht nur bedrohlich ist.

Unter Allan Steinfeld kam einst das große Geld zum Marathon in die Stadt. Jetzt sagt er zum Abschied, was ein Läufer tun muss, der in New York bestehen will: geduldig sein, Spaß haben, die Zeit vergessen. Eine eigene kleine Geschichte schreiben von innerem Frieden, von Trotz und von einem Weg am Krach der anderen vorbei.

Thomas Hahn
Süddeutsche Zeitung
Sonntag, dem 4. November 2007

author: GRR

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