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07
03
2008

Ein Geächteter brüllt zurück: Dwain Chambers läuft in Valencia auch gegen britische Funktionäre

Dwain Chambers – Begleitet von Wut und Pfiffen – Michael Reinsch, Valencia, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Beim Zusammenstoß der Ideale des Amateursports mit der Welt des Hochleistungssportgeschäfts hat Ken Livingston einen Kollateralschaden erlitten. Weil er den Sprint-Olympiasieger und überführten Doper Linford Christie eingeladen hatte, im April 250 Meter des Olympischen Fackellaufs zu bestreiten, wurde der Bürgermeister von London so heftig attackiert, von Lokalpolitikern bis zum Internationalen Olympischen Komitee, dass er zurückruderte.

Kaum hatte sein Büro verbreitet, dass ein Subalterner einen Fehler gemacht habe, kursierte das Anschreiben mit Livingstons Unterschrift.

Der Bürgermeister hatte die Brisanz der Mischung aus Sprint und Dopingvergangenheit unterschätzt, die sich zusammengebraut hat. Sie ist hochexplosiv, seit Dwain Chambers sich einen Platz im britischen Team für die Hallen-Weltmeisterschaften von Valencia ersprintet hat. An diesem Freitag tritt der Ausgestoßene der Leichtathletik nun an, den Titel über 60 Meter zu gewinnen. Weniger seine Bestzeit dieses Winters von 6,56 Sekunden als vielmehr seine Nervenstärke machen ihn zum Medaillenkandidaten: Er gewann die Trials in Sheffield, obwohl der Verband UK Athletics ihn nicht im Team haben wollte und das Publikum aufgerufen war, ihn auszupfeifen. In Spanien ist es ähnlich: Verbandschef José María Odriozola sagte in Valencia, er sei unglücklich über Chambers’ Start und befürchte Proteste.

Als Dopingsünder überführt und hat gestanden

Olympiasieger Sebastian Coe, Vorsitzender des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 2012 in London und im steilen Aufstieg sowohl im Internationalen Leichtathletik-Verband (IAAF) wie im IOC begriffen, macht sich zum Wortführer der Empörung, indem er vor dem Niedergang der Leichtathletik warnt, wenn Leute wie Chambers mitmachen dürfen. „Wir könnten in die gleiche Lage geraten wie Profi-Catchen, von dem jeder weiß, dass es unecht ist“, sagt er und fordert, die Mindestsperre für Doping auf vier Jahre zu verdoppeln.
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Chambers, ein 29 Jahre alter schwarzer Londoner, hat gedopt; er war Teil des Balco-Dopingringes mit Marion Jones, Tim Montgomery, Kelli White und vielen anderen Betrügern. Er wurde überführt und hat gestanden. Balco-Chef Victor Conte sagte, er habe Chambers seinerzeit „die volle Enchilada“ verabreicht: das Designer-Steroid THG, Insulin, Epo, Wachstumshormon, Modafinil und Testosteron. Damit präpariert, wurde Chambers 2002 in München Sprint-Europameister, solo und mit der Staffel. Im Jahr drauf gewann er bei den Weltmeisterschaften in Paris mit der Staffel die Silbermedaille. Danach wurde er aufgrund einer Dopingprobe aus seinem Trainingslager in Saarbrücken überführt und für zwei Jahre gesperrt.

„Großbritannien zu vertreten muss ein Privileg bleiben“

Im Herbst 2005 war Chambers’ Sperre abgelaufen. Bevor er in die Nationalmannschaft zurückkehrte und mit der Staffel 2006 Europameister wurde, erzählte er in einem Radiointerview, dass er bereits im Januar 2002 zu dopen begonnen habe. Der Verband nahm das als Geständnis. Damit waren nach den Silbermedaillen von 2003 in Paris auch die Goldmedaillen der Staffel von 2002 in München weg. Vielleicht sorgte deshalb der Sprinter Darren Campbell, der als Mit-Läufer von Chambers die Staffel-Medaille verlor, für den einzigen Misston der Europameisterschaften 2006 von Göteborg, als er die Ehrenrunde mit Chambers verweigerte.
Überraschender Sieg bei den britischen Trials

Überraschender Sieg bei den britischen Trials

Heute begleitet helle Empörung Chambers. Hätte nicht die IAAF an die Regeln erinnert, hätten die Briten schon seinen Start bei den Trials verhindert. Der britische Leichtathletikverband nominierte ihn, wie er formulierte, gegen seinen Willen. „Großbritannien zu vertreten muss ein Privileg bleiben und nicht ein Recht“, sagte Generalsekretär Niels de Vos. Er argwöhnt, dass sich Chambers Dopingkontrollen entzog, als er sich ein Jahr lang im American Football versuchte und unerwartet zurückkehrte. De Vos und Coe machen keinen Hehl aus ihrem Ärger darüber, dass Chambers zum Abschied vor einem Jahr sagte, ein sauberer Athlet könne gegen einen gedopten nur gewinnen, wenn der gedopte einen schlechten Tag habe.

Chambers Frau vertritt die Familie in Peking

Es ist nicht ungewöhnlich, das Privileg, bei einem olympischen Fackellauf zu starten, vom Leumund des Kandidaten abhängig zu machen. Doch wenn Linford Christie, Olympiasieger, Welt- und dreimaliger Europameister, ungeeignet ist, weil er bei einem Comeback 1999 mit Nandrolon gedopt war und erwischt wurde, warum hat ihn UK Athletics zum Mentor der Nationalmannschaft ernannt? Das Recht, seinem Broterwerb als Berufssportler nachzugehen, wie es Chambers fordert, muss von Regeln abhängen, die für alle gleich gelten. Wut und eine abgebüßte Dopingsperre sind schwache Argumente.
Er nahm einst: Das Designer-Steroid THG, Insulin, Epo, Wachstumshormon, Modaf…

Er nahm einst: Das Designer-Steroid THG, Insulin, Epo, Wachstumshormon, Modafinil und Testosteron

Zum britischen Team von Valencia gehört immerhin Carl Myerscough, ein Kugelstoßer, der 1999 des Missbrauchs anaboler Steroide überführt wurde und gesperrt war. Weil sein Gesuch, ihn nicht für Olympische Spiele zu sperren, vom Britischen Olympischen Komitee (BOA) abgelehnt wurde, dürfte lediglich seine Frau, die Hammerwerferin Melissa Myerscough, geborene Price, die Familie in Peking vertreten. Sie wurde 2003 wie Chambers mit THG erwischt und gesperrt, fällt als Amerikanerin aber nicht unter die Jurisdiktion der BOA. Christine Ohuruogu, die nach einer einjährigen Sperre wegen drei verpasster Dopingtests in Osaka überraschend Weltmeisterin über 400 Meter wurde, ist von der BOA begnadigt worden. Sie darf Großbritannien in Peking vertreten.

All dies dürfte eine Rolle spielen, wenn Chambers am Freitagabend in eine Position stürmt, die es ihm und seinen Beratern angeraten erscheinen lässt, vor Gericht um seine Olympiateilnahme und die Preisgelder der Sportfeste zu kämpfen. Die Aussichten sind nicht schlecht. Richard Pound, der ehemalige Präsident der Welt-Antidopingagentur (Wada) und Kandidat für den Vorsitz des Internationalen Sportgerichtshofes CAS, sieht die Olympiasperre der Briten „auf wackeligem Grund“.

Die Motivation ist groß: In diesem Jahr gehört der Sprint zu den Disziplinen der Golden League, für die die IAAF eine Million Dollar ausgesetzt hat.

Michael Reinsch

Frankfurter Allgemeine Zeitung

author: GRR

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