Normalität ist hier gleichbedeutend mit Mittelmaß. Überraschungen sind die Würze des prallen Lebens.
Komische Gefühle – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Usain Bolt: Neunzweiundsiebzig!
Neunzweiundsiebzig! Weltrekord. Kann ein Mensch wirklich sauber so schnell rennen, wie es Usain Bolt am Samstag in New York tat, als er die Bestzeit seines jamaikanischen Landsmannes Asafa Powell aus dem vergangenen Herbst um zwei Hundertstelsekunden unterbot? Man weiß es nicht, man hat ein komisches Gefühl.
1:55 Minuten über 800 Meter. Auch das ist eine Zeit, die staunen macht. Die achtzehn Jahre alte Pamela Jelimo hat sie am Sonntag in Berlin um eine Hundertstelsekunde unterboten und damit den Afrika-Rekord, den bisher die Olympiasiegerin und dreimalige Weltmeisterin Maria Mutola hielt, um glatte zwei Zehntel verbessert. Nur fünf Frauen sind je schneller gelaufen, unter ihnen Weltrekordhalterin Jarmila Kratochvilova, welche die 1:55 zwei Mal in ihrem Leben unterbot.
Beim ersten Mal lief sie ihren Münchner Weltrekord von 1:53,28 Minuten. Diese Bestzeit aus den anabolen Hochzeiten wird in dieser Saison 25 Jahre alt. Seit gut elf Jahren war keine Frau mehr unter 1:55 gelaufen – eigentlich ein gutes Zeichen.
Willkommen in der Welt des Sports!
Nun gab Pamela Jelimo im April bei den kenianischen Ausscheidungen zur Afrika-Meisterschaft in 2:01,02 Minuten ihr Debüt auf den 800 Metern – und bedrängt sechs Wochen später im Olympiastadion von Berlin schon auf der ersten Runde die Tempomacherin. Schließlich lässt sie die erfahrene Ukrainerin Julia Krevsun vier und die kenianische Weltmeisterin Janeth Jepkosgei fünf Sekunden hinter sich. Willkommen in der Welt des Sports!
Normalität ist hier gleichbedeutend mit Mittelmaß. Überraschungen sind die Würze des prallen Lebens. Nie weiß man, was in der Kulisse dieses hoch dotierten Showgeschäfts – Berlin war der Auftakt der Golden League mit einem Jackpot von einer Million Dollar – wirklich passiert.
Der Schnellste von allen soll auch der Sauberste sein?
In Los Angeles lüftete in der vergangenen Woche ein Gericht den Vorhang für einen kurzen Einblick, den die Dopingkontrollen des Sports nie erlauben. Antonio Pettigrew sagte als Zeuge im Meineidverfahren gegen seinen früheren Trainer Trevor Graham aus, mit Epo und Wachstumshormon gedopt zu haben. Er ist der vierte geständige Doper aus der amerikanischen 4 x 400 Meter-Staffel, die 2000 in Sydney Olympiasieger wurde.
So sieht's nun aus: Das Team hat schon einmal die vom Internationalen Olympischen Komitee eingeforderte Goldmedaille behalten dürfen, weil ihr des Dopings überführtes Mitglied Jerome Young im Finale nicht eingesetzt worden war. Die Brüder Alvin und Calvin Harrison, auch sie Klienten des Doping-Labors Balco und Schützlinge von Graham, haben inzwischen ebenfalls Doping gestanden, allerdings erst von 2001 an. Übrig und unbelastet bleibt aus der ehrenwerten Truppe allein Michael Johnson, der immer noch die Weltrekorde über 200 und 400 Meter hält. Der Schnellste von allen soll auch der Sauberste sein?
Er müsste verdächtig schnell laufen
Johnson ist der Manager von Jeremy Wariner, der am Sonntag überraschend seine Überlegenheit auf der Stadionrunde einbüßte und Zweiter wurde. Spricht das für ihn? Spricht das gegen den Sieger LaShawn Merritt? Man weiß es nicht und ahnt doch, dass schon am Freitag wieder einige Fragen offen bleiben werden.
Der Internationale Sportgerichtshof (Cas) will darüber entscheiden, ob der des Dopings mit Testosteron überführte und geständige Sprinter Justin Gatlin, auch er zeitweilig Weltmeister im Sprint und trainiert von Graham, ein Wiederholungstäter ist – oder ob sein erster Dopingfall bloß ein Unglücksfall mit medizinisch angezeigten Medikamenten war. Sollte der Cas zugunsten von Gatlin entscheiden, darf dieser umgehend an der amerikanischen Olympiaausscheidung teilnehmen. Man möchte es ihm nicht wünschen.
Er müsste verdächtig schnell laufen, um sich für Peking zu qualifizieren.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 3. Juni 2008