Egal wer sich für Peking qualifizieren wird: Realistisch gesehen kann man von den deutschen Mehrkämpfern bei Olympia sehr gute Platzierungen, aber keine Medaille erwarten
Niklaus ein Fragezeichen – Mehrkampf-Geschichte vor Ratingen – Jörg Wenig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Einer der spannendsten Kämpfe um die Olympia-Qualifikation für das deutsche Leichtathletik-Team findet am Sonnabend und Sonntag in Ratingen statt: Bis zu acht Zehnkämpfer und bis zu sechs Siebenkämpferinnen haben Chancen auf die jeweils drei Tickets nach Peking. So viel Dramatik bietet von den 47 olympischen Leichtathletik-Disziplinen bei den deutschen Qualifikationen sicherlich nur noch der Stabhochsprung der Männer.
Hier und in den meisten anderen Disziplinen findet der entscheidende Wettkampf im Rahmen der Deutschen Meisterschaften am ersten Juli-Wochenende in Nürnberg statt.
Ein Fragezeichen stand nach seiner Aufgabe beim prestigeträchtigen Mehrkampf-Meeting im österreichischen Götzis Anfang Juni hinter André Niklaus (LG Nike Berlin). Der Hallen-Weltmeister von Moskau 2006 und WM-Fünfte von Osaka 2007 hatte sich vor dem abschließenden 1.500-m-Lauf ohne irgendwelche Verletzungsprobleme plötzlich verabschiedet. „Mein Ziel waren in Götzis 8.400 Punkte. Darauf hatte ich mich konzentriert“, erklärt der Berliner, der aufgab, nachdem die neue persönliche Bestmarke außer Reichweite geraten war.
„Vielleicht war das ein bisschen zu ambitioniert, aber im Prinzip weiß ich, dass ich eine derartige Leistung erreichen kann“, erklärte der 26-Jährige. Doch nun steht André Niklaus am Wochenende in Ratingen unter ganz besonderem Druck, denn vor der letzten Qualifikationsmöglichkeit steht er in dieser Saison noch ohne Zehnkampf-Ergebnis da.
Trotzdem ist André Niklaus optimistisch. In den letzten Jahren hatte er sich als Aushängeschild des deutschen Zehnkampfes etabliert und hatte durch seinen Moskauer Triumph Hoffnungen geweckt hat, an die große deutsche Erfolgs-Tradition in dieser Disziplin anschließen zu können. Doch so weit ist es noch nicht gekommen. Für Ratingen hat André Niklaus seine Ziele zunächst etwas zurückhaltender gesteckt. „Es sollte kein Problem sein, 8.250 Punkte zu erreichen. Am besten wäre natürlich, wenn ich dort gewinnen könnte“, erklärt Niklaus. Der Sieger von Ratingen ist automatisch für Peking qualifiziert, sofern er dabei mindestens die Norm von 8.050 Punkten erreicht. „Danach werde ich dann wieder an höhere Punktzahlen denken, denn die sind im internationalen Vergleich nötig.“
Dass André Niklaus nach der Pleite von Götzis in Ratingen zurückkommen wird, das erwartet auch Zehnkampf-Bundestrainer Claus Marek. „Ich bin überzeugt, dass er einen sehr guten Zehnkampf zeigen wird“, sagt Marek, der aber auch mit einer Portion Sarkasmus die Götzis-Pleite des Berliners kommentiert: „André hätte einfach nur an die erreichbare Olympia-Norm denken müssen. Es ist bei Olympischen Spielen nun einmal so, dass man ein Ticket braucht, um hinein zu kommen.“ Drei deutsche Athleten haben die Peking-Norm bisher übertroffen: Pascal Behrenbruch (Eintracht Frankfurt/8.242 Punkte), der Ratingen-Vorjahressieger Arthur Abele (SSV Ulm/8.220) und Michael Schrader (Bayer Uerdingen/8.194). Neben Niklaus rechnet Marek im Kampf um die Olympia-Tickets auch mit Norman Müller (Hallesche LAF), Jacob Minah (LG Göttingen) sowie eventuell mit den beiden Routiniers Stefan Drews (Bayer Leverkusen) und Dennis Leyckes (Erfurt). „Das wird ein enger Kampf bis zur letzten Disziplin“, prophezeit Marek.
Egal wer sich für Peking qualifizieren wird: Realistisch gesehen kann man von den deutschen Mehrkämpfern bei Olympia sehr gute Platzierungen, aber keine Medaille erwarten. Doch die Perspektive ist es, die große Hoffnung macht. Schrader ist 20, Abele 21, Müller 22 und Behrenbruch auch erst 23 Jahre alt. Niklaus und Minah sind jeweils 26. Die besten Jahre für Zehnkämpfer liegen in der Regel zwischen 25 und 30. „Unsere heutigen Athleten bilden auch schon den potenziellen Teilnehmerkreis für Olympia 2012“, sagt Claus Marek.
Ähnlich gut ist die Situation auch im Siebenkampf. Hier haben bisher vier Athletinnen die Norm von 6.130 Punkten übertroffen: Lilli Schwarzkopf (LC Paderborn/6.316), Julia Mächtig (SC Neubrandenburg/6.282), Jennifer Oeser (Bayer Leverkusen/6.189) und Sonja Kesselschläger (SC Neubrandenburg/6.134). Christine Schulz (Bayer Leverkusen/6.070) könnte dies in Ratingen auch gelingen.
Von diesen fünf Athletinnen ist mit Ausnahme von der 30-jährigen Sonja Kesselschläger keine älter als 24. „Ich denke, um in Ratingen zu gewinnen, sind über 6.350 Punkte nötig. Das wird eine sehr enge Entscheidung“, sagt der Siebenkampf-Bundestrainer Klaus Baarck, der dabei dem Quartett Schwarzkopf, Mächtig, Oeser, Kesselschläger jeweils über 6.300 Punkte zutraut. „Ratingen wird ein echter Showdown“, sagt Jürgen Mallow, der Cheftrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes.
Jörg Wenig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 21. Juni 2008