Viel zu lange haben man Athleten aller Sportarten die Unschuldsvermutung zugestanden. Gegen dieses "im Zweifel für den Athleten" stellt Logan den gesunden Menschenverstand.
Runter vom Sockel in die Wirklichkeit – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
Von Bill Graham, dem legendären Impresario, bekam Doug Logan einst den Rat, seine alten Rock-'n'-Roll-Schallplatten auf den Müll zu werfen und das zu hören, was der Markt wolle. Logan, ein Fallschirmspringer des Vietnam-Kriegs, hörte und machte Karriere: als Veranstalter und als Schallplattenboss.
Nach einigen Jahren an der Spitze einer Promotionsagentur war er so sattelfest im Unterhaltungsgewerbe, dass er die 1996 gegründete amerikanische Fußball-Liga MLS etablierte. Mit 65 Jahren ist er nun Präsident des Leichtathletikverbandes USA Track & Field geworden – und hält sich immer noch an Grahams Devise:
Die alten Lieder laufen nicht mehr.
Logan nutzt, eine Woche nach seiner Ernennung, das Gnadengesuch der geständigen Doperin und zu einer Haftstrafe verurteilten Lügnerin Marion Jones, um seine Haltung zu demonstrieren. In erster Linie fordert er in seinem offenen Brief an Präsident George W. Bush, die 32 Jahre alte Sprinterin auf keinen Fall zu begnadigen oder vor Ablauf ihrer Haft von sechs Monaten zu entlassen. Sie habe alles getan, um die Prinzipien der Leichtathletik und des olympischen Wettbewerbs zu verletzen. Ihre vorzeitige Entlassung würde signalisieren, schreibt er, dass man betrügen könne und ein Recht darauf habe, damit durchzukommen.
So weit bewegt sich Logan im bekannten Liedgut des Sports. Doch er schlägt auch neue Saiten an. Viel zu lange habe man in Amerika nicht beachtet, was die Helden des Landes so anstellten, konstatiert er. Für diejenigen mit sportlichem Talent, mit Geld oder Ruhm werde das Gesetz anders angewandt als für Langsame, Arme und Durchschnittsamerikaner. Viel zu lange haben man Athleten aller Sportarten die Unschuldsvermutung zugestanden. Gegen dieses "im Zweifel für den Athleten" stellt Logan den gesunden Menschenverstand. Ein Sportler, eine Leistung können demnach "too good to be true" scheinen, als zu stark, um echt zu sein.
Das ist nicht nur neu, das ist revolutionär. Üblicherweise verbinden der Sport und diejenigen, die ihn besingen, Erfolge mit charakterlicher oder gar moralischer Überlegenheit. Sieger im Sport sind Vorbilder auf ganzer Linie, und sie stehen, auch wenn das Fundament bröckelt, immer noch auf hohen Sockeln. Athleten und ihre Vertreter verlangen von dieser Warte aus, dass phantastische Leistungen – ob auf dem Spielfeld, ob bei der Heilung von Verletzungen – ohne jeden Zweifel anerkannt werden, auch wenn sie aller Wahrscheinlichkeit und Lebenserfahrung widersprechen.
Der Sport erwartet Wunderglaube. Er ist zu einer Art Religion geworden. Zweifel aber müssen erlaubt sein, selbstverständlich auch an der Vorbildwirkung von Menschen, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie schneller rennen oder fahren, dass sie weiter springen oder härter schlagen als alle anderen.
Logan ist sowohl in der Heimat seiner kubanischen Mutter als auch in der amerikanischen Heimat seines Vaters aufgewachsen. Er hat sein Studium in New York als Taxifahrer und als Bierverkäufer im Yankee Stadium finanziert. Vermutlich hat er im Ohr, was die Leute im Stadion wollen und was nicht. Bei ihnen liegt die Zukunft der Leichtathletik.
Sie dort hinzuführen bedarf es allerdings eines ersten Schritts: den Sport aus der Vergangenheit zu holen in die Gegenwart. Und in die Wirklichkeit.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, dem 27. Juli 2008