„Ich bin so gut wie noch nie“, sagt sie nun. Zwei Tempomacher werden ihr in Berlin den Weg bereiten, ihr Mann wird sie auf dem Motorrad begleiten.
Berlin-Marathon – Mikitenkos Weg an die Spitze – Von Michael Reinsch, Berlin – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Irina Mikitenko hat große Pläne. An diesem Sonntag will sie in Berlin den größten Marathon Europas gewinnen und ihre Bestzeit auf 2:22 Stunden verbessern. Sie gilt als Favoritin, obwohl die 23 Jahre alte Äthiopierin Askale Tafa Magarsa mit einer Bestleistung von 2:23:23 Stunden antritt, die fast eine Minute schneller ist als die von Irina Mikitenko.
Doch die dreizehn Jahre ältere Deutsche ist ein Siegertyp. Im April gewann sie aus heiterem Himmel den London-Marathon. Dabei hinderten die Umstände und die Konkurrenz sie daran, bei ihrem zweiten Marathon schneller als den deutschen Rekord von 2:24:14 Stunden zu laufen. Frauen starten in London für sich, weder Tempomacher noch Betreuer auf Fahrrädern sind zugelassen. So verbummelte das Feld die erste Hälfte des Rennens (1:12:54). Irina Mikitenko fühlte sich gebremst. Erst als sie attackierte, entspannte sie sich.
Läuferin aus Leidenschaft: Irina Mikitenko
Zwei Tempomacher weisen den Weg
„Ich bin so gut wie noch nie“, sagt sie nun. Zwei Tempomacher werden ihr in Berlin den Weg bereiten, ihr Mann wird sie auf dem Motorrad begleiten. Mit gebührendem Abstand auf Haile Gebrselassie, der seinen Weltrekord von 2:04:26 verbessern will, will sie am Sonntag endlich ihre Grenzen ausloten. „Ich bin bei beiden Marathons ins Ziel gekommen und habe gedacht: Warum bist du nicht schneller gelaufen?“, erzählt sie. „Ich will einmal einen Marathon laufen, bei dem ich im Ziel weiß, dass ich alles gegeben habe.“
Bei 1,58 Meter Körpergröße und etwa 50 Kilo Gewicht scheint Irina Mikitenko für den Marathon wie geschaffen. Deshalb galt sie als Medaillenkandidatin für die Olympischen Spiele, fiel aber wegen Rückenbeschwerden aus. Nun trägt sie Einlagen und macht fleißig Stabilisierungsgymnastik. In Berlin wird mit ihrem Sieg gerechnet, und unterm Strich stehen dann eine halbe Million Dollar.
Läuft Mikitenko auch in New York?
Platz eins würde Irina Mikitenko in der Jackpot-Wertung der World Marathon Majors auf 65 Punkte und damit gleichauf mit Vorjahressiegerin Gete Wami an die Spitze bringen. Sie müsste nur beim New York Marathon vor der Äthiopierin ins Ziel kommen, und sie hätte in fünf Wochen eine halbe Million Dollar gewonnen.
Irina Mikitenko: „Vielleicht bin ich ein bisschen spät zum Marathon gekommen“
Irina Mikitenko: „Vielleicht bin ich ein bisschen spät zum Marathon gekommen“
„Der Reiz ist groß. Aber man muss an die Zukunft denken“, sagt Irina Mikitenko. Gete Wami tat sich im vergangenen Jahr die beiden Läufe innerhalb von 35 Tagen an, wurde nach dem Sieg von Berlin Zweite in New York und damit reich. In diesem Jahr lief sie in London auf Platz drei, sonst stehen keine Marathonergebnisse für sie zu Buche. Sie habe sich kaputtgemacht mit der Belastung, glaubt Irina Mikitenko.
Erst in Deutschland hat sie sich läuferisch „realisiert“
Der erste Lauf des nächsten Jahres soll für „Miki“ wieder der von London sein. Der zweite soll auch 2009 wieder in Berlin stattfinden: bei der Weltmeisterschaft. Das Rennen findet an Irina Mikitenkos Geburtstag statt: dem 23. August. Am Schlusstag der WM von Berlin wird sie 37 Jahre alt und will allen Grund zum Feiern haben: „Schauen Sie sich mal die Olympiasiegerin von Peking an, Constantina Tomescu. Sie ist 39. Das ist das perfekte Alter für den Marathon.“ Dann kündigt sie an, ihren Olympiastart im Marathon 2012 in London nachzuholen. Sie wird dann knapp vierzig sein.
Attacke in London: Mikitenko auf dem Weg zum Sieg
Attacke in London: Mikitenko auf dem Weg zum Sieg
In der Sowjetunion bei Alma-Ata geboren, für Kasachstan bei den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 gestartet, als die Stadt in Almaty umbenannt war, siedelte die deutschstämmige Irina Mikitenko 1997 mit ihrem Mann und Trainer sowie ihrem dreijährigen Sohn nach Freigericht in Hessen über. Erst in Deutschland habe sie sich läuferisch „realisiert“, sagt Irina Mikitenko. Auf allen Strecken von 3000 Meter an gewann sie Meisterschaften und lief Rekorde.
Bei der deutschen Straßenmeisterschaft vor zwei Wochen in Karlsruhe rannte sie zehn Kilometer in 30:57 Minuten. Auf der Bahn liegt ihr Rekord über diese Distanz eine halbe Minute höher: 31:29,55. „Auf der Bahn bin ich die 10.000 Meter nie gern gelaufen“, verrät sie. „25 Runden! Ein Marathon scheint schneller zu vergehen.“ Mit der Königsdisziplin des Langlaufs hat sich Irina Mikitenko selbst überrascht. Ihre Spezialität waren die 5.000 Meter mit Platz vier bei der Weltmeisterschaft von Sevilla 1999 und Platz fünf bei den Olympischen Spielen von Sydney 2000 gewesen (Bestzeit 14:43,02).
„Vielleicht bin ich ein bisschen spät zum Marathon gekommen“, überlegt sie ein Jahr nach ihrem Debüt. Nicht vor den 42,195 Kilometern schreckte sie lange zurück, sondern vor dem immensen Training. „Ich war dazu nicht bereit.“ Nun läuft sie bis zu vierzig Kilometer am Tag und bis zu 200 pro Woche.
In der Welt des Marathons sind das moderate Umfänge und zeugen von Reserven.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, den 27. September 2008
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